Statement in der Pressekonferenz zur Vorstellung der Orientierungshilfe „Im Alter neu werden können“

Andreas Kruse

  1. Der demografische Wandel wird nicht einseitig im Sinne von Belastungen interpretiert, sondern in diesem werden auch Chancen gesehen: Eine wachsende Anzahl älterer Menschen ist nicht nur mit einem Mehr an Krankheit und funktionellen Einschränkungen verbunden, sondern – und dies ist besonders wichtig – auch mit einem Zuwachs an Wissen, Erfahrung und Kompetenz. [Dabei ist zu bedenken, dass die heutige ältere Generation im Vergleich zu den früheren älteren Generationen im Durchschnitt eine bessere Gesundheit wie auch eine höhere Selbstständigkeit aufweist. Dies heißt: Von der ansteigenden Zahl älterer Menschen darf nicht auf einen gleich starken Anstieg chronisch erkrankter oder pflegebedürftiger Menschen geschlossen werden.] In unserer Gesellschaft wird dieser Zuwachs an Wissen, Erfahrung und Kompetenz viel zu wenig berücksichtigt, wenn über den demografischen Wandel diskutiert wird. Hier ist ein Perspektivenwechsel dringend erforderlich!
  2. Eine entscheidende Aufgabe der Kirche und der Diakonie – wie auch der Gesellschaft und der Politik – liegt darin, zu sehr viel differenzierteren Bildern des Alterns beizutragen und ältere Menschen in sehr viel stärkerem Maße als mitverantwortliche Bürgerinnen und Bürger anzusprechen, auf deren Wissen, deren Kompetenz, deren Engagement unsere Gesellschaft nicht verzichten kann und will. Dabei will die vorliegende Schrift deutlich machen, dass Menschen auch im hohen Alter Neues beginnen, schöpferisch sein und Initiative ergreifen können. Die Veränderungsfähigkeit (Plastizität) des Denkens, Fühlens und Handelns bis in das hohe Alter versetzt den Menschen in die Lage, auch in den späten Jahren seines Lebens kreativ, ursprünglich, entdeckungsfreudig zu sein. Es ist jedoch entscheidend, dass sich ältere Menschen durch die Gesellschaft in dieser Weise angesprochen fühlen. Gerade hier können Kirche und Diakonie Vorbilder sein, da der christliche Glaube das „Alter“ nicht nur in seinem Grenzen, sondern auch in seinen Entwicklungsmöglichkeiten begreift.
  3. Aus diesem Grunde wird für ein selbstverantwortliches und mitverantwortliches Leben im Alter plädiert, wobei immer zu berücksichtigen ist, inwiefern dem Menschen die finanziellen, bildungsbezogenen und gesundheitlichen Ressourcen zur Verfügung stehen, um ein selbst-, vor allem ein mitverantwortliches Leben im Alter zu führen.
  4. Mitverantwortung heißt: Flexibilisierung der Altersgrenze nicht nur nach unten, sondern auch nach oben – allerdings unter Berücksichtigung der gesundheitlichen Ressourcen eines Menschen und unter Beachtung von Wahlfreiheit: Menschen sollten sehr viel mehr Gelegenheit erhalten, mitzubestimmen, wie lange sie arbeiten wollen, welches jährliche Arbeitsvolumen sie verwirklichen wollen, welche Rentenabschläge sie hinnehmen wollen etc.
  5. Mitverantwortung heißt: Vermehrtes bürgerschaftliches Engagement (zum Beispiel für die nachwachsenden Generationen), aktive Beiträge innerhalb der Kirche und Gemeinde, innerhalb der Kommune. Dies erfordert eine veränderte Ansprache älterer Menschen – es muss an die Mitverantwortung appelliert, es müssen Möglichkeiten zum bürgerschaftlichen Engagement bereitgestellt werden. 30 Prozent der 70-Jährigen und Älteren betonen, dass sie sich gerne bürgerschaftlich engagieren würden, dass aber ihre Bereitschaft nicht abgerufen wird.
  6. Die Mitverantwortung älterer Menschen im Sinne der Übernahme von Betreuungs- und Pflegeleistungen innerhalb der Familie ist in unserem Land so hoch wie kaum in einem anderen europäischen Land.
  7. Eine bedeutende Zukunftsaufgabe ist auch darin zu sehen, die wachsende soziale Ungleichheit im Alter möglichst weit abzufangen. Die heutige ältere Generation ist im Vergleich zu den anderen Generationen – im Durchschnitt – mit den höchsten finanziellen Ressourcen ausgestattet. Diese können als eine wichtige Grundlage für die Selbstorganisation älterer Menschen – zum Beispiel im Bereich der Bildung – angesehen werden. In Zukunft wird sich allerdings die Schere zwischen Arm und Reich öffnen. Es ist mit einer neuen Armut im Alter zu rechnen, zugleich mit einem hohen Wohlstand im Alter.
  8. Die Demenzerkrankungen werden in Zukunft den Pflegealltag noch stärker prägen, als dies heute der Fall ist. Annahmen, dass es uns schon bald gelingen werde, präventive Maßnahmen in Bezug auf das Auftreten der Alzheimer-Demenz zu entwickeln, sind sehr optimistisch. Aufgrund der wachsenden Bedeutung der Demenz im Kontext der Pflege wird die öffentliche Auseinandersetzung zu gesellschaftlichen Verantwortung gegenüber Demenzkranken immer mehr an Bedeutung gewinnen. Aus diesem Grunde wird auch der ethische Diskurs zum Thema Menschenwürde immer wichtiger werden. Entscheidend ist hier die Aussage, dass die Menschenwürde unantastbar ist, das heißt, diese dem Menschen auch nicht bei schwerster Erkrankung abgesprochen werden darf. Unsere Gesellschaft wird sich somit auf die erhöhte Verantwortung gegenüber dem Leben in seiner Verletzlichkeit einzustellen und diese zu erbringen haben.
  9. Dies aber bedeutet, dass wir in den krankheits- und behinderungsfreien Jahren unseres Lebens ein deutlich höheres Engagement für die Gesellschaft erbringen müssen.
  10. Dies heißt auch: Konsequenzen des demografischen Wandels müssen auch durch die ältere Generation selbst getragen werden; sie können nicht einfach den nachfolgenden Generationen aufgegeben werden. Die Sensibilisierung der älteren Menschen für diese Aufgabe ist eine bedeutende Aufgabe. Mit der Bereitschaft, sich bis in das hohe Alter für das Gemeinwohl zu engagieren, wird ein bedeutender Beitrag zur Generationengerechtigkeit geleistet und damit zur Erhaltung unserer Schöpfung.