Die Passion Christi – moralische Katastrophe oder Zeichen der göttlichen Liebe?

Überlegungen aus Anlass von Mel Gibsons Film

1.

Die neue Aufmerksamkeit für religiöse Themen ist in den Kern vorgedrungen, in die Geschichte von Leiden, Tod und Auferweckung Christi. Was sich in Deutschland ein halbes Jahr vorher an der Resonanz auf Eric Tills Luther-Film zeigte, wird sich auch im Blick auf Mel Gibsons Passions-Film bestätigen. Religiöse Themen finden ihr Publikum, auch ein Kinopublikum. Das gilt nicht nur, wenn diese Themen indirekt und beiläufig die filmische Bildsprache prägen, wie das in ungezählten Filmen der Gegenwart geschieht. Es gilt auch, wenn Grundereignisse des christlichen Glaubens und seiner Geschichte direkt zum Gegenstand werden.

Mel Gibsons „Passion Christi“ ist ein gewaltiger Film. Aber gewalttätig ist er auch. Auch wenn ich bis zum Schluss blieb – aushalten konnte ich ihn nicht. Andere hielten sich Schals vor die Augen oder wandten sich ab. Gefangennahme, Geißelung, Kreuztragung, die Kreuzigung selbst: eine Abfolge brutalster Szenen.

Gewiss darf man den gewaltsamen Tod Jesu nicht verharmlosen. Die grausamste Hinrichtungsart der damaligen Welt musste er erleiden. Folter und Entwürdigung gingen dem voraus. Aber dass man das im Film nur noch zeigen kann, indem man die Grausamkeiten überbietet, an die Menschen sich Abend für Abend im Fernsehen gewöhnt haben, will mir nicht in den Kopf. Wenn wir immer nur überbieten wollen, woran die Menschen sich schon gewöhnt haben, enden wir in einer unaufhaltsamen Spirale der Grausamkeit.

Ein Vergleich lässt mich nach diesem Film nicht los. Das Berliner Holocaust-Mahnmal soll die unvorstellbare Größe der nationalsozialistischen Gewaltverbrechen durch seine einmaligen Ausmaße gleichnishaft abbilden: Dreitausend Stelen aus Beton werden wir dort bald sehen. Ich respektiere die Entscheidung für Eisenmans Entwurf; aber ich habe sie von Anfang an für falsch gehalten. Dem Leiden der Opfer werden wir nicht gerecht, wenn wir so die gewaltigen Ausmaße der Taten in den Vordergrund stellen.

Auch Mel Gibsons „Passion Christi“ spiegelt den Größenwahn unserer Zeit. Werden wir einer solchen Leidensgeschichte jedoch gerecht, wenn wir diesen Größenwahn weiter steigern? Wir sollten nicht vergessen: Solchen Größenwahn nennt die Bibel Sünde, das Seinwollen wie Gott. Um ihretwillen starb Jesus am Kreuz. Dafür aber kann niemand einen Sinn entwickeln, der diesen Film sieht. So abstoßend werden die Täter gezeigt, so widerlich ist ihr Tun, dass niemand auf den Gedanken kommt, um der eigenen Sünde müsse Jesus dies erdulden. Es ist viel eher ein Film über die, die das Leid verursachen, als über den, der leidet.

Gewalttätig ist dieser Film, aber er ist auch gewaltig. Es gibt eindrückliche Bilder in ihm, die sich nicht vergessen lassen. Alles läuft zu auf das Bild der Mutter, die ihren toten Sohn im Schoß hält. Die Pietà heißt dieses Bild seit alters. In vielen Formen ist es überliefert. Manche mögen nicht mehr wissen, wie es zu deuten ist. Wer Mel Gibsons Film gesehen hat, wird dieses Bild nicht mehr vergessen.

Eindrückliche Rückblenden sollen eine Verknüpfung zwischen dem Leiden Jesu und seinem Lebensweg zumindest andeuten. Verbindungen zu Jesus als Kind, als jungem Zimmermann, als Prediger, als Meister seiner Jünger lassen sich ahnen. Aber solche kurzen Sequenzen versinken in einem Meer von Blut; sie werden zugestellt von der lauten Sprache unendlich langer Gewaltorgien. Die Leidensgeschichte wird im Ergebnis von Jesu Lebensgeschichte isoliert.

Schon darin liegt eine Deutung. Der Film aber tritt mit dem Anspruch auf, sich aller Deutung zu enthalten. „Authentisch“ sei die Darstellung, heißt es. Auf historischen Quellen beruhe die Wiedergabe des Geschehens, so wird uns versichert. Das führt in die Irre. Nicht nur, dass der Film selbst voller Deutungen ist, auch die Quellen, auf die er sich beruft, sind gedeutete Geschichte. Vier Evangelien enthält das Neue Testament – und nicht nur eines. Im Vergleich dieser Evangelien erschließt sich jeder Generation immer wieder neu der Zugang zu diesem Geschehen. Johann Sebastian Bach wäre nicht auf die Idee gekommen, einfach eine „Passion“ zu komponieren. Er hielt sich an die verschiedenen Evangelien mit ihrer je unverkennbaren Farbe. Mel Gibsons Film dagegen beruht auf einer Evangelienharmonie. Die Verknüpfung wichtiger Züge aus verschiedenen Evangelien erhöht jedoch nicht die historische Genauigkeit.

Auch die Entscheidung, alle Dialoge in aramäischer oder lateinischer Sprache führen zu lassen, vermittelt nur den Anschein des Authentischen. Dass es auch hier nicht ohne Willkür abgeht, mag ein Detail zeigen. Das Gespräch zwischen Jesus und dem römischen Prokurator Pontius Pilatus wird auf Lateinisch geführt. Dass Jesus, der Jude aus Galiläa, die Sprache der römischen Besatzer gesprochen habe, ist freilich mehr als unwahrscheinlich; man darf es mit Fug und Recht für ausgeschlossen halten.

2.

Der israelische Schriftsteller Amos Oz hat einmal das Verhältnis beschrieben, das er als Jude zum “Rabbi Jesus” hat. Diese Beschreibung beginnt mit folgender Schilderung: “Ältere Verwandte von mir, jüdische Flüchtlinge aus Osteuropa, wenden jedes Mal den Blick ab, wenn sie an einer Kirche vorüberkommen. Manche erstarren, wenn sie ein Kreuz sehen oder auch nur den Klang ferner Kirchenglocken hören. Als Kind habe ich oft nach Jesus gefragt, bekam aber allenfalls widerwillige Antworten. Die Themen Jesus und Sexualität lösten bei mehreren Tanten die gleiche Reaktion aus: Warum sprechen wir nicht lieber über etwas Erfreuliches? Mit acht oder neun Jahren kam ich einmal aus der Schule nach Hause und offenbarte der Großmutter meine neueste Erkenntnis: Jesus sei in Wirklichkeit ein Jude gewesen. Ich habe erwartet, sie würde sofort heftig widersprechen, aber sie sagte nur betrübt: ‚Mir wäre es lieber, er wäre keiner gewesen. Seit Tausenden von Jahren gibt man uns Juden die Schuld an dem Unglück, das er sich selbst eingebrockt hat.’“

Für Glieder des jüdischen Volkes war es schwer und ist es schwer geblieben, darüber zu sprechen, dass die Christen die Schuld am Tod des Rabbi Jesus den Juden zuschrieben – und zwar nicht nur dem jüdischen Volk jener Zeit, sondern dem jüdischen Volk aller Zeiten. Diesem Volk wurde der Ruf des Matthäusevangeliums zugeschrieben „Lass ihn kreuzigen“. Diesem Volk war vor allem im selben Evangelium der Satz zugeschrieben: „Sein Blut komme über uns und unsere Kinder!”

Es bleibt auch schwer nachzuvollziehen, wenn Christen zwar die Heilsbedeutung dieses Kreuzestodes behaupten und gerade um dieses Todes willen davon überzeugt sind, der Messias, auf den die Juden noch immer warteten, sei schon gekommen, wenn sie aber gleichwohl diesen für sie so heilsamen Tod als ein schuldhaftes Geschehen ansahen. Wem diese Schuld zuzuschreiben sei, duldete über lange Zeit keinen Zweifel: nicht so sehr der römischen Besatzungsmacht, deren Vertreter Pontius Pilatus doch so feierlich seine Hände gewaschen und erklärt hatte: „Ich bin unschuldig an seinem Blut; seht ihr zu”, sondern eben dem jüdischen Volk, das damit in christlicher Perspektive die ihm zugesprochenen Verheißungen verwirkt und stattdessen Gottes Gericht auf sich gezogen hatte.

In diesem Konflikt um die Deutung des Todes Jesu tritt uns entgegen, inwiefern dieser Tod Züge einer moralischen Katastrophe angenommen hat. In der Geschichte des Christentums wurde er als Erfüllung des Heilsplans Gottes dargestellt; zugleich aber wurde die Ursache für das nach Gottes Heilsplan Notwendige nicht im Willen Gottes selbst, sondern in der Bosheit derer gesehen, die Jesu Tod herbeiführten: der römischen Besatzungsmacht, der Jerusalemer Lokalaristokratie und des jüdischen Volkes. Dabei verschob christlicher Antijudaismus die Verantwortung immer stärker hin auf das Volk. Damit war nicht nur die damalige Volksmenge gemeint, die Freiheit für Barrabas und den Kreuzestod für Jesus verlangte. Sondern gemeint war das Volk Israel in allen Generationen seitdem.

Jede heutige Darstellung der Leidensgeschichte Christi muss sich mit der Wirkungsgeschichte dieser antijüdischen Deutung auseinandersetzen. Mel Gibsons Film muss man nicht unterstellen, dass er von seiner Intention her antijüdisch oder antisemitisch sei. Aber die Gefahr, dass er antisemitische Gefühle bestärkt und in deren Sinn instrumentalisiert werden kann, ist nicht von der Hand zu weisen. Gegen eine solche Wirkung enthält er nicht die nötigen Gegenkräfte. Zwar erfährt die Gewalt der Jerusalemer Autoritäten jener Zeit differenzierte Antworten in den Gesichtern der Augenzeugen. In ihnen zeigen sich nicht nur Zustimmung oder fanatische Unterstützung, sondern auch Mitleid und Empörung. Auch wenn die Rolle einzelner hervorgehoben und pauschale Schuldzuweisungen nicht vollzogen werden, gewinnt doch der aus dem Johannesevangelium übernommene Satz des blutüberströmten Jesus an Pilatus eine große Tragweite: „Der mich dir überantwortet hat, der hat größere Sünde.“
Ein solcher Satz, zu dem sich in den drei anderen Evangelien keine Parallelen finden, wird freilich überzeichnet, wenn er aus dem geschichtlichen Zusammenhang seiner Entstehung gelöst und mit dem Anschein fragloser Authentizität versehen wird. Das Gesamtzeugnis des Neuen Testaments rechtfertigt es gerade nicht, diesem Satz eine Verurteilung des jüdischen Volkes über die Zeiten hinweg zu entnehmen. Der Film stellt sich einer solchen Verurteilung nicht mit der nötigen Klarheit in den Weg. Insofern verbindet sich mit ihm die Gefahr, dass er antisemitischen Vorurteilen neue Nahrung gibt.

3.

Die antijüdische Verkehrung im christlichen Verhältnis zum Kreuzestod Jesu lässt sich nur überwinden, wenn Jesu Weg ans Kreuz als Konsequenz seines Lebens gesehen wird. Es ist dafür nötig, eine verbreitete Zweiteilung in der Wahrnehmung Jesu zu überwinden. Bewusst oder unbewusst wird immer wieder scharf getrennt zwischen dem Jesus, der in Galiläa unterwegs ist, Menschen um sich sammelt, Kranke heilt, Gleichnisse erzählt und das Evangelium von Gottes Reich verkündigt, und dem Christus, dem fleischgewordenen Wort Gottes, das für die Sünden der Menschheit ans Kreuz geschlagen und am dritten Tage auferweckt wurde. Um die Verbindung zwischen diesen beiden Jesusbildern herzustellen, ist es hilfreich, noch einmal auf den jüdischen Schriftsteller Amos Oz zu hören: „Mein Jesus ist nicht weniger und nicht mehr als ein Mensch, sondern genau dies: durch und durch menschlich. ... Er war ein Lehrer, der das Judentum dahin zurückführen wollte, wo er dessen reine Ursprünge sah, oder vorwärts zu dem, was ihm als die kompromisslose Konsequenz aus dem Judentum erschien. ... Er lebte als reformierter Jude und starb als nichtkonformistischer Jude.”

Nur wenn Jesu Tod als Konsequenz seines Lebens gesehen wird, lässt sich der Sog vermeiden, der ihn – für andere – zur moralischen Katastrophe macht. Was er für das Heil der Menschen bedeutet, lässt sich dann allerdings nicht in dem Sinn aus einem Heilsplan Gottes ableiten, als hätte Gott selbst das Opfer eines Menschen gebraucht. Ich persönlich habe die Vorstellung, Gott sei auf ein Menschenopfer angewiesen, um den Menschen sein Heil zuteil werden zu lassen, mit meinem Glauben an Gottes Güte nie vereinbaren können. Diese in exemplarischer Klarheit bereits im 12. Jahrhundert von Anselm von Canterbury vertretene Auffassung sagt, Gott lasse seinen Zorn nur dadurch besänftigen, dass ein Mensch sein Leben verliere, und er beharre auf einer Genugtuung, die zu keinem geringeren Preis zu haben sei. Immer wieder habe ich mich gefragt, ob ein solches Bild von einem im Grunde rachsüchtigen Gott nicht einen Angriff auf Gottes Ehre selbst enthält. Unsere Generation, die insgesamt die Aufgabe hat, eine Theologie “nach Auschwitz” zu entwickeln, muss auch an dieser Stelle neue Wege gehen.

Dazu aber ist es nötig, den inneren Zusammenhang zwischen dem Leben Jesu und seinem Kreuzestod nachzuzeichnen. Der Ansatzpunkt liegt in der Verkündigung und der Lebenspraxis Jesu, die ganz und gar von seinem eigenen Gottesverhältnis geprägt sind. Er ruft Menschen zum Glauben und versetzt sie so in die Gegenwart Gottes. In die Gegenwart Gottes versetzt zu sein, heißt: in der Freiheit leben zu können. Das zeichnen die Evangelien bis in den freien Umgang mit dem Gesetz – das Ährenraufen am Sabbat – , in die Freiheit von körperlicher Versklavung – die Heilung des Gelähmten – oder in die Freiheit der Mahlgemeinschaft Jesu – die Gemeinschaft mit Zöllnern und Sündern – nach. Die Radikalität der Bergpredigt steht nicht im Widerspruch zu dieser Freiheit, sondern ist ihr Ausdruck. In dieser Freiheit erleben Menschen, dass sie von Gott angenommen und bejaht sind – über alle eigene Tat oder Leistung hinaus. Weil er den bejahenden Gott bezeugte, gab Jesus für ihn auch sein Leben. Der Vater, der seinen verlorenen Sohn von fern kommen sieht, ihm entgegenläuft und ihn wieder in Liebe aufnimmt, ist das Symbol dieses bejahenden Gottes. Der Samariter, der an dem unter die Räuber Gefallenen nicht vorbei geht, sondern sich ihm zuwendet, um sein Leben zu retten, ist das Urbild eines Lebens in Mitmenschlichkeit, das auf diese Bejahung durch Gott antwortet.

Der so redet und lebt, riskiert damit sein Leben. Für das religiöse wie für das politische Establishment wird er zum Störfaktor. Die Absicht, ihn aus dem Weg zu räumen, ist alles andere als ein Irrtum. Es ist ein Protest gegen diese Botschaft vom bejahenden Gott; diese Protesthandlung tritt freilich ungewollt in den Dienst dieser Botschaft selbst. Denn für den Glauben wird der Kreuzestod Jesu, durch seine Auferweckung bekräftigt, zum Unterpfand für die Botschaft von Gottes bedingungsloser Liebe. „Aus Liebe will mein Heiland sterben“ – so kommentieren deshalb Johann Sebastian Bachs Passionsmusiken dieses Geschehen. Sie sind darin in einem tiefen Sinn weit authentischer als Mel Gibsons lauter Film.

Sie sind das auch im Umgang mit dem Thema der Schuld. Nicht auf der Schuld des römischen Prokurators, der schließlich das Urteil spricht, und auch nicht auf der Schuld derer, die das „Kreuzige ihn“ rufen, liegt der Ton. Sondern wenn in diesem Zusammenhang von Schuld die Rede ist, dann sprechen die Passionslieder nicht von der Schuld der Juden, sondern sagen: „Nun, was du, Herr, erduldet, ist alles meine Last; ich hab es selbst verschuldet, was du getragen hast.“

Die gelegentlichen Rückblenden in Mel Gibsons Film ändern nichts daran, dass dieser Film die Passion Jesu von seiner Lebensgeschichte trennt. Er fällt in die alte Zweiteilung zurück, die theologische Einsicht schon längst überwunden glaubte. Dadurch verdunkelt er aber das Besondere des Sterbens Jesu genauso wie durch die Maßlosigkeit seiner Gewaltdarstellungen. Wer aus beiden Gründen Mel Gibsons Film ratlos, ja verstört verlässt, sollte sich dorthin wenden, wo eine Deutung dieses Geschehens eher zu finden ist: in den Evangelien selbst.

Ratsvorsitzender Wolfgang Huber im Tagesspiegel vom 18. März 2004