"Religion – Politik – Gewalt - Erwartungen an den Kongress" - Vortrag zur Eröffnung des Europäischen Theologenkongresses 2005, Berlin

Wolfgang Huber

I.

Religion, Politik und Gewalt – wer hätte vor Monaten, als dieser Kongress geplant wurde, gedacht, dass gerade dem zweiten dieser drei Stichworte am heutigen Tage hier in Berlin die überragende Aktualität zukommen würde? Manche haben gefragt, ob die lang geplante Eröffnung dieses Kongresses am Abend der Bundestagswahl überhaupt stattfinden könne. Aber ich habe es nicht anders erwartet: Wenn auch mit leise erhöhtem Ton, aber doch zuverlässig wie der Horengesang der Mönche von Maria Laach, geht die Arbeit der Theologie weiter, auch am Abend eines solchen Tages.

Allerdings ist ein solcher Tag gut geeignet, auf den aus der Perspektive der christlichen Ethik entscheidenden Aspekt der Politik hinzuweisen. Sie erschöpft sich eben nicht in der Delegation von Macht auf Zeit zu dem Zweck, das Recht zu schützen, Sicherheit zu wahren und den Frieden zu fördern. Sie hat vielmehr ihre entscheidende Substanz in einer gemeinsamen Verantwortung, in einem gemeinsamen Beruf zur Politik, der Wählende und Gewählte, Regierte und Regierende miteinander verbindet. Aus der Perspektive evangelischer Ethik ist der entscheidende Beitrag zur politischen Kultur in der Würdigung politischer Verantwortung zu sehen, die eben nicht nur politischen Amtsträgerinnen und Amtsträgern, sondern allen Bürgerinnen und Bürgern anvertraut ist. Darin liegt der bleibend wichtige Akzent der Demokratie-Denkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland, die vor genau zwanzig Jahren unter dem Titel „Evangelische Kirche und freiheitliche Demokratie. Der Staat des Grundgesetzes als Angebot und Aufgabe“ veröffentlicht worden ist. Und es mag eine erste bescheidene Erwartung an den Kongress der Gesellschaft für Wissenschaftliche Theologie sein, dass über der suggestiven Kraft der beiden anderen Stichworte in seinem Titel das verbindende Stichwort der Politik und damit das Ethos politischer Verantwortung nicht in Vergessenheit geraten.

II.

Denn daran ist kein Zweifel: Der Zusammenhang von Religion und Gewalt steht gegenwärtig im Zentrum des öffentlichen Interesses. Gewalt wird sogar ganz vorrangig unter dem Gesichtspunkt ihrer religiösen Legitimierung thematisiert. Wann immer über terroristische Gewalt geredet wird, ist dies der Fall. Und Religion gerät umgekehrt durch diese Ausrichtung des Lichtkegels vor allem unter dem Gesichtspunkt in den Blick, dass ihr Gewaltpotential, ihre Geneigtheit zur Gewalt in historischer wie in aktueller Perspektive zum Thema gemacht wird. Der 11. September 2001 hat unter diesem Gesichtspunkt eine paradigmatische Bedeutung gewonnen. Das Bekenntnis zur Friedensbedeutung der Religionen, das in der interreligiösen Gedenkfeier für die Opfer des 11. September wenige Tage später im Yankee Stadium in New York vielstimmig ausgesprochen wurde, verblasste vollständig hinter dem übermächtigen Eindruck, dass sich die Wiederkehr der Religion mit dem Auftreten terroristischer Gewalt als der größten Friedensbedrohung unserer Zeit verbindet.
Die Anlässe, diesen Zusammenhang zu reflektieren, häufen sich. Die Bombenanschläge in den U-Bahnen und Bussen von London, die gewalttätigen Auseinandersetzungen in Israel, nicht nur bei der Räumung des Gaza-Streifens, aber auch der gewaltsame Tod Frère Rogers, des Gründers und Priors der Gemeinschaft von Taizé seien stellvertretend für viele andere Beispiele genannt.

Die Erwartungen an einen wissenschaftlichen Kongress sind auf Differenzierung gerichtet. Das ist in diesem Fall nicht anders. Das Verhältnis zwischen Gewalt und Religion ist differenzierter, als es extremistische Taten und ihre mediale Verarbeitung erkennen lassen. Die Inanspruchnahme von Religion zur Legitimation von tötender Gewalt steht neben der Kritik der Gewalt im Namen des Glaubens. Aus dem Christentum und auch aus der europäischen Tradition ist beides bekannt. Kein Nachdenken über das Verhältnis von Religion, Politik und Gewalt kann sich der Vielfalt von Positionen zwischen Pazifismus und Bellizismus, zwischen gerechtem Krieg und gerechtem Frieden entziehen. Doch auf einer ganz anderen Ebene ist es angesiedelt, wenn Selbstmordattentate oder terroristische Gewaltanwendung mit religiösen Motiven begründet und gerechtfertigt werden. So spüren wir immer deutlicher, dass es einen interreligiösen Dialog ohne eine offene Auseinandersetzung mit solchen Entwicklungen nicht mehr geben kann.

Von einem wissenschaftlichen Kongress erwartet man Differenzierung. Doch in diesem Fall ist mehr erfordert als Differenzierung allein; gebraucht wird Klärung. Nötig ist mehr als die historische oder sozialwissenschaftliche Aufarbeitung der Gewaltneigung in den Religionen. Nötig ist die Bereitschaft zum systematischen Urteil und zu praktischen Konsequenzen. Bei der zutreffenden Auskunft allein, dass sich am Verhältnis zur Gewalt auch im Christentum selbst eben die Geister scheiden, kann es angesichts der gegenwärtigen Befunde nicht bleiben. Es muss vielmehr auch gefragt werden, ob die monotheistischen Religionen im Umgang mit der Gewaltfrage einen gemeinsamen Weg finden können oder ob sie gerade im Blick auf diese Frage voneinander getrennt bleiben. Die starken Gründe für das Postulat, dass die Gewalt dem Recht unterworfen wird, nötigen freilich dazu, weiterzufragen, wie das heute nicht nur innerhalb des Staates, sondern auch zwischen den Staaten möglich ist. Erst recht muss gefragt werden, wie die Staatengemeinschaft sich Staaten gegenüber verhalten soll, in denen das staatliche Gewaltmonopol zusammengebrochen ist.

III.

Es trifft freilich in Wahrheit gar nicht zu, wenn sich in der öffentlichen Diskussion die Aufmerksamkeit für religiöse Phänomene auf den Zusammenhang von Religion und Gewalt verengt. Insbesondere die herausgehobenen religiösen Ereignisse dieses Jahres sprechen eine andere Sprache. Beispielhaft erinnere ich an das große Interesse, das der Wechsel im Papstamt, aber auch der Weltjugendtag im Bereich der römisch-katholischen Kirche geweckt haben; ich erinnere an den Deutschen Evangelischen Kirchentag in Hannover mit den prägenden Bildern vor allem seines Eröffnungsabends; ich habe aber auch viele kleinere Ereignisse und Begebenheiten im Sinn, von denen ich länger als einen Abend lang erzählen könnte.

Sie alle zeigen: Menschen fragen wieder weiter. Auch in unseren Breiten nehmen sie sich wieder wahr als die selbsttranszenden Wesen, die sie sind. Religiöse Interessen werden lebendig. Kirche wird wieder gefragt. Schon wird von einer Renaissance des Glaubens gesprochen. Aber die Religion ist nicht mehr nur die Angelegenheit der christlichen Kirchen, sondern begegnet in vielen individualisierten und privatisierten Formen. Viele Menschen sind fasziniert von der Esoterik mit ihrer bunten Mélange von Lebensbewältigungs- und Welterklärungsmodellen. Wer ein Auge dafür hat, kann leicht Vorgänge religiöser Hingabe in der Musik- und Filmszene beobachten, aber auch im Sport. Nicht umsonst, wenn auch etwas ironisch, heißt ein Fanmagazin des Fußballbundesligavereins Schalke 04 Schalke unser. In unserer Zeit werden viele „religiöse“ Antworten auf die Sehnsucht nach Glück und Ganzheit gegeben.

Die Vorstellung, dass wir einer religionslosen Zeit entgegen gehen – historisch wäre das auch ohne jede Analogie – wird kaum mehr vertreten. Doch die Vorstellung, Europa gehe durch den Prozess einer unumkehrbaren Säkularisierung, bestimmt noch immer viele Köpfe. Dass die geistige Lage in Europa durch Liberalismus, Säkularismus und Relativismus gekennzeichnet sei, kann man aus manchen christlichen Kirchen in Europa hören; ein möglichst traditionsbewusstes Christentum soll dagegen, wie der russisch-orthodoxe Bischof Hilarion sagt, in einer strategischen Allianz aufgeboten werden. Das wäre dann auch in Europa eine Vorstellung vom christlichen Glauben, in der das Bündnis mit der Aufklärung aufgekündigt wird und damit auch das bewusste Ja zur aufgeklärten Säkularität des Staates als einer Errungenschaft, die gerade der Religionsfreiheit und damit auch der Freiheit des Glaubens zu Gute kommt. Geopolitische Veränderungen, so hat der gerade zitierte Bischof Hilarion gesagt, verlangen von den Kirchen entsprechende Reaktionen. Religionspolitik im großen Stil tritt in den Blick. Die neuen ökumenischen Initiativen zwischen der römisch-katholischen Kirche und den orthodoxen Kirchen rücken dadurch in eine interessante Perspektive. Wer über das Verhältnis zwischen Religion, Gewalt und Politik nachdenkt, kann dieses Feld der Religionspolitik nicht ausklammern. Ich bin gespannt darauf, ob der Kongress zu diesem Thema etwas zu Tage fördert.

IV.

Getrennt voneinander lassen sich Religion, Politik und Gewalt heute nicht mehr betrachten. Auch diese Themen werden hineingezogen in den Prozess der Globalisierung. Das wird ohne Zweifel auch den Horizont prägen, in dem der Zusammenhang der drei Themen während dieses Kongresses behandelt wird.

Auf der Bühne der Weltpolitik zeigen sich Querverbindungen zwischen Religion und politischer Machtausübung, die aus einer europäischen oder genauer: einer europazentrischen Perspektive fast schon überwunden schienen. Der wieder erstarkte Hindunationalismus in Indien ist dafür ebenso ein Beispiel wie die islamistische Verbindung zwischen Religion und Macht. Die neue Nähe zwischen Kirche und Staat in einigen orthodox geprägten Ländern weist ebenso in diese Richtung wie die neue Nähe zwischen Religion und Politik, die sich in den USA unbeschadet des von der Verfassung vorgesehenen wall of separation entwickelt hat. Religion, Politik und Gewalt – das ist nicht nur ein europäisches Thema; und die Frage danach, wie das Verhältnis der drei Begriffe bestimmt und geordnet werden kann, stellt sich nicht nur im Horizont des christlichen Glaubens.

Die Globalisierung verändert das Verhältnis von Religion, Politik und Gewalt in jedem Land. Deutschland ist dafür ein nahe liegendes Beispiel. In den vergangenen Jahrhunderten schien es hier in Deutschland so, als sei der einzige nennenswerte Gegensatz im Bereich der Religion der zwischen römisch-katholischer und evangelischer Kirche. Allenfalls die lutherisch-reformierten Differenzen kamen noch in den Blick. Doch inzwischen hat sich die Situation grundlegend gewandelt. Dabei meine ich nicht nur die ungefähr 20 Millionen konfessionslosen Menschen in Deutschland, die natürlich in sich eine sehr heterogene Gruppe bilden, aber beim Blick auf die religiös-weltanschauliche Landschaft in Deutschland nicht vergessen werden dürfen. Ich meine auch die wachsende Anzahl nichtchristlicher Religionsangehöriger, von denen die Muslime mit über drei Millionen die zahlenmäßig größte Gruppe sind. Schon daraus, aber erst recht aus dem Zusammenhang mit der Entwicklungsdynamik des weltweiten Islam ergeben sich starke inhaltliche Herausforderungen. Doch auch die viertel Million Buddhisten oder die etwa Hunderttausend Hindus in Deutschland zeigen, dass die religiöse Globalisierung im Land der Reformation angekommen ist.

Das wirkt sich auf viele Bereiche von Politik und Gesellschaft aus. Die Stimme der Kirchen ist nicht die einzige religiöse Stimme in Deutschland. Diese Stimme muss sich vielmehr durch Klarheit und Profil aus der Vielzahl religiöser Äußerungen herausheben. Die religiöse Pluralität wirft auch institutionelle Fragen auf. Welche Bedingungen müssen erfüllt sein, damit eine Religionsgemeinschaft den Charakter als Körperschaft des öffentlichen Rechts erhalten kann? Welchen Ort haben die nichtchristlichen Religionen, vor allem der Islam, an der Universität? Soll ein islamischer Religionsunterricht in Deutschland an staatlichen Schulen erteilt werden? Oder –  hier in Berlin noch viel drängender – soll der Staat selbst einen Werteunterricht durchsetzen, der für alle Schülerinnen und Schüler verbindlich ist und von der Tendenz her den Religionsunterricht ablöst? Wie Sie wissen, wehre ich mich mit vielen anderen zusammen energisch gegen dieses Vorhaben, auch wenn es scheinbar hier und da aus Kreisen der wissenschaftlichen Theologie Unterstützung erfahren hat. Auch in diesem Fall halte ich Entdifferenzierung nicht für die richtige Antwort auf Pluralität. Und ich sehe weder einen Anlass noch eine Möglichkeit dafür, um der religiösen Pluralität willen den Anspruch der Kirchen auf Präsenz im öffentlichen Raum hinabzustufen. Insbesondere muss es dabei bleiben, dass die Verantwortung der Religionsgemeinschaften für den Inhalt des Religionsunterrichts ein notwendiges Korrelat zur Religionsfreiheit der einzelnen wie zur Religionsneutralität des Staates bildet.

Auch in einer solchen konkreten, durch örtliche Bedingungen geprägten Debatte spiegelt sich heute der globale Horizont. In einem solchen Horizont ist kritisch zu prüfen, inwieweit die europäische Entwicklung zu einem auf Dauer tragfähigen Modell geführt hat, und darüber hinaus: ob diesem Modell auch für andere Verbindlichkeit zuerkannt werden kann. Kann der Verzicht der Religion darauf, sich mit den staatlichen Mitteln Anerkennung zu verschaffen, auch für andere religiöse Traditionen verpflichtend sein? Setzt die aufgeklärte Säkularität der europäischen Rechtsordnung Maßstäbe für die globalisierte Welt? Taugt also die Verbindung von Demokratie, Religionsfreiheit und säkularem Staat als Modell? Ist sie womöglich sogar eine unentbehrliche Voraussetzung für den Frieden zwischen den Religionen wie auch für den Frieden zwischen den Staaten?  Und damit zur Verhinderung von Gewalt? Ich halte das für eine Schlüsselfrage dieses Kongresses

V.

Der Pariser Soziologe Olivier Roy hat vor kurzem das Verhältnis von Religion und Globalisierung auf seine Weise kommentiert.  Sein Thema sind die religiösen Erneuerungsbewegungen, die vor allem in ihrer fundamentalistischen Form die Politik beschäftigen, weil sie in Gewaltsamkeit münden.  Roy führt diese Phänomene nicht auf den viel zitierten clash of civilisations zurück. Er sagt vielmehr: Es geht ... um eine Neubestimmung der Religion außerhalb der Kultur – angesichts der Globalisierung, welche die ‚traditionellen’ Kulturen schwächt. Deshalb hält er den Fundamentalismus für eine sehr moderne Form von Religiosität – übrigens im Christentum wie im Islam. Er fährt fort: Der Fundamentalismus ist ... nicht das Aufbegehren bedrohter traditioneller Kulturen, sondern Ausdruck ihres Verschwindens. Deshalb darf man die modernen Formen des Fundamentalismus nicht mit einem Kampf der Kulturen verwechseln. Junge Menschen werden nicht fundamentalistisch, weil die westliche Zivilisation die Kultur ihrer Eltern ignorieren würde, sondern weil diese Kultur, die sie selbst übrigens eher geringschätzen, ihnen verloren gegangen ist. Laut Roy sind die Wurzeln vor allem des islamischen Fundamentalismus nicht im Nahen Osten, aber auch nicht einfach nur in der westlichen Welt zu finden. Bei dem spannungsgeladenen Verhältnis zum Islam im heutigen Europa handelt es sich demnach nicht um einen Konflikt zwischen ‚europäischen’ und ‚orientalischen’ Werten, sondern um eine innereuropäische Auseinandersetzung über die eigenen Werte: Sexualität, Ehe, Abstammung.

Manches von dem, was Roy vorträgt, ist zu einlinig. Seine der Diskussion würdigen Behauptungen sollen uns hier auch nicht im einzelnen beschäftigen. Unser Interesse muss seiner Hauptthese gelten, dass die Globalisierung selbst das grundsätzliche Problem darstellt, das sich in den Bereichen von Religion und Politik in der Gestalt zunehmender Gewaltsamkeit äußert. Wache Aufmerksamkeit verdient seine Überlegung darin, dass in den von ihm betrachteten Fällen geradezu die Auflösung von Kultur zum Entstehen eines religiösen Fundamentalismus führt. Auf die Frage nach dem Verhältnis von Religion und Kultur wirft diese Beobachtung ein höchst bemerkenswertes Licht.

Angetrieben wird die Globalisierung durch wirtschaftliche Prozesse. Das Stichwort der Globalisierung steht für eine veränderte Verhältnisbestimmung zwischen Wirtschaft und Politik, die in den gängigen Diskursen der politischen Ethik nur selten in ihrer Dramatik wahrgenommen wird. Dabei hat schon Otto von Bismarck gesagt: „Wer den Daumen auf dem Beutel hat, hat die Macht.“  Noch knapper hat Bill Clinton auf die Frage geantwortet, was die Politik antreibt: „It’s the economy, stupid!“ Wer heute Politik treibt, hat in viel stärkerem Maße weltweite wirtschaftliche Entwicklungen zu beachten, als dies noch vor wenigen Jahrzehnten, wenn nicht sogar Jahren der Fall war.

Auch die Gewalt ist globalisiert. Es ist nicht nur die Wahrnehmung von Gewalt durch die alltäglichen Bilder in den Medien. Es sind auch die Akteure von Gewalt. Das sieht man, wenn man die Ströme des internationalen Waffenhandels in den Blick nimmt. Man erkennt es auch, wenn man sieht, woher die islamistischen Terroristen kommen, die in New York, Madrid oder anderswo ihre schrecklichen Taten verübt haben. Gewalt lässt sich durch nationale Grenzen nicht stoppen.

Wer nach dem Verhältnis von Religion, Politik und Gewalt fragt, kann den Schattenseiten der Globalisierung nicht ausweichen: der Erosion von Kultur, der Fundamentalisierung von Religion, der Ökonomisierung der Politik, der Ubiquität von Gewalt.

VI.

Um solchen Tendenzen zu widerstehen, ist es ebenso notwendig, sich den eigenen kulturellen und religiösen Wurzeln zuzuwenden, wie es nötig ist, die politische Bändigung wirtschaftlicher Macht und die Unterwerfung der Gewalt unter die Herrschaft des Rechts zu erneuern. Das ist gewiss eine Aufgabe europäischer Politik. Es ist ebenso eine Aufgabe der Kirchen in Europa.  Es ist aber auch eine Aufgabe für einen Europäischen Kongress für Theologie.

Worum es geht, lässt sich an bestimmten Debatten verdeutlichen. Ich bedaure es weiterhin, dass der Entwurf einer europäischen Verfassung in seiner Präambel den Gottesbezug nicht eigens benannt hat. Die Prägekraft des jüdisch-christlichen Erbes für Europa ist eine historische Tatsache, derer wir uns vergewissern müssen, um die Zukunft des Kontinents gestalten zu können. Der europäische Verfassungsvertrag ist durch das Ratifikationsverfahren in eine Warteschleife geraten; daraus kann sich leicht die Notwendigkeit ergeben, ihn auch in seiner Substanz noch einmal neu zu diskutieren. Warum sollte das nicht auch eine erneute Debatte über die Präambel und damit über die kulturellen und religiösen Grundlagen Europas einschließen? Ich wüsste nicht, warum es dabei bleiben soll, dass der mutigste Vorstoß für ein christliches Europa von einem amerikanischen Juden, J.H.H. Weiler nämlich, stammt.

VII.

Welchen Sinn hat es, Erwartungen an einen Kongress zu formulieren? Die Themen sind schon längst vergeben, die Vorträge hoffentlich bereits geschrieben. Die Erwartungen werden zu frommen Wünschen – was allerdings unter Theologen nichts Schlechtes sein kann. Deshalb seien meine frommen Wünsche noch einmal zusammengefasst:
Ich schlage vor, dass zwischen Religion und Gewalt das Thema des politischen Ethos seinen Raum behält.

Es reicht nicht, das Verhältnis zwischen Religion und Gewalt differenziert zu betrachten; es braucht auch den Mut zur systematischen Klärung und zu praktischen Konsequenzen.

Es gibt nicht nur ein Verhältnis zwischen Religion und Politik, es gibt auch Religionspolitik. Sie verdient besondere Aufmerksamkeit.

Das europäische Modell von demokratischem Staat, Religionsfreiheit und säkularer Rechtsordnung hat sich bewährt. Doch in einer globalisierten Welt stellt sich die Frage, wie es bewahrt werden kann.

Die Globalisierung hat Schattenseiten. Wer vor ihnen nicht kapitulieren will, muss nach Wegen suchen, um die religiösen und kulturellen Grundlagen des gemeinsamen Lebens zu erneuern.

Für einen europäischen Kongress für Theologie konkretisiert sich dies in der Frage nach der religiösen und kulturellen Gestalt Europas, wie sie erneut in der Debatte um den europäischen Verfassungsvertrag aktuell werden kann.

Religion, Politik und Gewalt – Sie haben sich für diesen Kongress eines der Großthemen des beginnenden 21. Jahrhunderts gewählt. Meine wichtigste Erwartung an diesen Kongress ist, dass er dieses Thema aus dem Geist guter Theologie bearbeitet. Und meine Hoffnung ist, dass die Stimme guter Theologie, die hier laut wird, auch Gehör findet.