"Religion, Politik und Gewalt" - Vortrag Europäischer Theologenkongress 2005, Berlin

Gesine Schwan

I. Erste Assoziationen

Religion, Politik und Gewalt – ein umfassenderes Tagungsthema lässt sich kaum denken! Das hat etwas Einschüchterndes und etwas Befreiendes. Einerseits ist es ganz unmöglich, diesen weitgespannten Horizont in einführenden Überlegungen auch nur annähernd abzuschreiten. Deshalb möchte man’s eigentlich lieber gleich lassen. Andererseits befreit diese Unmöglichkeit von vornherein zur Perspektivität, dazu, nur einige Gesichtspunkte zu beleuchten, auf einige mögliche Zusammenhänge hinzuweisen, ohne erschöpfenden, ohnehin unerfüllbaren Rechtfertigungszwang. So will ich denn auch heute verfahren und bitte dafür um großzügige methodologische Nachsicht.

Als gelernte Philosophin neige ich dazu, mit Definitionen beginnen, damit wir uns darüber verständigen können, wovon überhaupt die Rede ist. Aber auch das würde hier ins Uferlose führen. Deshalb versuche ich es statt eines historischen, etymologischen oder systematischen Zugangs über Assoziationen und Intuitionen, die zwar ungeordnet sind, aber dafür vielleicht mehr einfangen können.

Zunächst: Man könnte bei der Reihenfolge der drei Begriffe an eine „absteigende“ Linie denken: vom eher Positiven, der Religion, über das Ambivalente, die Politik, bis zum schließlich ganz Negativen, der Gewalt. Zumal im Kontext eines Theologenkongresses löst „Religion“ ja durchaus positive Gefühle, moralische Assoziationen,  Erinnerungen an befreiende existenzielle Erfahrungen aus. Zugleich aber, und dies ist sicher einer der Gründe, warum Sie Ihr Thema gewählt haben, denkt man an dunkle Fundamentalismen, hierarchische Unterdrückungen, aufklärungsfeindliche und Gewalt fördernde Bevormundungen oder an Bigotterie. Neuerdings begegnet man der Religion in der Öffentlichkeit allerdings in Europa mit unerwarteter Neugier, z. T. sogar mit Respekt, wobei man sich des Eindrucks nicht ganz erwehren kann, dass wir in letzter Zeit Zeugen medialer „Schau(Bindestrich)Prozesse“ wurden ohne anhaltende tiefer gehende Wirkung; und dass der Respekt aus der Erwartung herrührt, Religionen könnten oder würden  bereits jetzt über die Medien neue innerweltliche Macht entfalten, weswegen wir sie nicht vernachlässigen dürften. Das spirituelle Zentrum von Religion, die nicht instrumentelle und nicht zu instrumentalisierende Beziehung zwischen Mensch und Gott, zwischen dem Menschen und dem Heiligen, treffen solche Überlegungen gerade nicht.  Ziemlich ambivalente Assoziationen also bereits in Verbindung mit dem Wort Religion.

Bezogen auf den Begriff „Politik“ klingt Ambivalenz vielleicht sogar eher wie ein Euphemismus. Der Respekt, den Aristoteles der sog. Königswissenschaft entgegenbrachte, weil sie die Gesamtheit der Bedingungen untersucht und wägt, von denen das Gelingen des menschlichen Lebens abhängt – dieser Respekt wird ihr in den gegenwärtigen Demokratien in der Regel nicht entgegengebracht. Erst recht nicht unter Bedingungen von Diktatur, gewaltbegünstigender Anarchie oder Bürgerkrieg. Wobei man Krieg auch gerade als das Gegenteil von Politik bestimmen könnte. Auf der anderen Seite mag die grassierende gegenwärtige Tendenz, an der Politik kein gutes Haar zu lassen, auch von der Sehnsucht der Menschen zeugen, dass sie von ihr doch eine Ordnung für ein gemeinwohlorientiertes Zusammenleben erwarten, dass also Enttäuschung die herbe Kritik begründet.  Jedenfalls gilt dies in dem Maße, wie Menschen begreifen – z.B. durch Umweltkatastrophen oder durch  rasant steigende Energiepreise -, dass wir Politik nicht durch einen ungeregelten Markt ersetzen können, der die Voraussetzungen seines Funktionierens ausblendet und in eins damit zerstört. Wie Religion eröffnet das Wort Politik somit ein weites Feld emotional und intellektuell ganz konträrer Assoziationen, was schon rein rechnerisch unzählige Zusammenhänge zwischen beiden Lebensbereichen vermuten lässt.

Eindeutiger scheinen die Assoziationen beim Begriff „Gewalt“ auszufallen. Jedenfalls in unseren Breitengraden und nach den historischen Erfahrungen von Nationalsozialismus und Faschismus ebenso wie beim gegenwärtigen Erleben von blutrünstigen Bürgerkriegen. Gewalt, so scheint es, richtet sich immer zentral gegen den Menschen, gegen seine Integrität, gegen seine Freiheit. Dabei denkt man zunächst an körperliche Beeinträchtigung, an physischen Zwang. Man möchte ihr ein für allemal den Garaus oder sie überflüssig machen. Aber wir wissen doch, aus den Erfahrungen unserer Vorfahren, aus der Bibel, aus unzähligen Analysen, dass wir damit einer Schimäre nachliefen. Gewalt bist aus der menschlichen Geschichte nicht einfach eliminierbar. Das sog. Gewaltmonopol des Staates erscheint da schon realistischer, um sie zu bändigen, ihr Zerstörungspotenzial einzudämmen. Wenn der Staat dieses Monopol allerdings nicht mehr ausüben kann, wenn er seine Entscheidungen, seine Gesetze nicht mehr mit Gewalt zu bekräftigen und durchzusetzen vermag, dann kann es heillos werden. Das Gewaltmonopol des Staates, vielleicht in Zukunft realistischer: nicht allein des (National)Staates, sondern allgemeiner: demokratischer Politik wird hier zu einem Unterpfand friedlichen menschlichen Zusammenlebens. Auch hier also mehr Ambivalenz als zunächst vermutet.

Mithin nicht einfach eine absteigende Linie, sondern ein komplizierter, unüberschaubarer und uneindeutiger Zusammenhang zwischen Religion, Politik und Gewalt? Denn um einen Zusammenhang oder um mögliche unterschiedliche Zusammenhänge soll es doch wohl bei dieser Trias Ihrer Tagung gehen. Um nicht in Ambivalenzen unterzugehen, sondern etwas mehr Eindeutigkeit zu gewinnen, lockt es mich, zunächst widersprüchliche Korrelationen zwischen den drei Bereichen zu behaupten und diese Widersprüche dann differenzierend zu entkräften, nicht wirklich auszuräumen.

II. Widersprüchliche Korrelationen

Ich beginne mit sechs widersprüchlichen Sätzen:

Politik, die sich religiös legitimiert, befördert Gewalt, weil sie in einer endlichen und notwendig pluralen Welt mit einem transzendenten absoluten Wahrheitsanspruch auftritt.

Politik, die sich ethisch auf eine religiöse Fundierung beruft, bietet ein entscheidendes Widerstandspotenzial gegen innerweltliche Gewalt, weil dieses sich auf einen absoluten transzendenten Wahrheitsanspruch berufen kann.

Religion tendiert zur Autokratisierung von Politik und steht daher der Freiheit im Wege.

Religion befreit den Menschen von innerweltlichen Zwängen und bereitet damit einer freiheitlich-demokratischen Politik den Boden.

Gewalt steht im Gegensatz zur Politik, die dort beginnt, wo die Gewalt – z.B. der Krieg – aufhört. Sie steht immer in Versuchung, sich religiös zu legitimieren.

Politik wird gegen absolute religiöse Ansprüche gegen den Menschen erst möglich, wo sie über ein Gewaltmonopol verfügt.

Für jeden dieser Sätze, die unter einander auf den ersten Blick im Widerspruch stehen, lassen sich plausible systematische und historische Argumente anführen.

So finden wir zahlreiche historische und gegenwärtige Beispiele dafür, dass eine Politik, die sich auf eine absolute religiöse Wahrheit beruft, das Recht der Individuen, ihre eigenen Überzeugungen und Wahrheitsquellen zu behaupten, negiert. Die autokratischen Epochen Ägyptens, das Spanien der Inquisition, das calvinistische Genf, die fundamentalistischen islamistischen Theokratien zeugen davon. Die USA verdanken ihre Entstehung  der Behauptung der individuellen Gewissensfreiheit gegen eine autokratische, religiös legitimierte Politik. In der aktuellen Auseinandersetzung um die politische Bedeutung und die Toleranzfähigkeit des Islam steht die Frage im Zentrum, ob der Islam die erkenntnistheoretische und daraus folgend: die institutionelle Unterscheidung zwischen Religion und Politik, zwischen den Ansprüchen des Staates und denen des individuellen Gewissens als Ergebnis der europäischen Aufklärung und als Grundlage der Toleranz anerkennen kann oder nicht.

Systematisch stellt sich hier die Frage nach den Folgen dessen, dass sich religiöse Wahrheit und religiöser Anspruch, jedenfalls in den drei monotheistischen Religionen des Judentums, des Christentums und des Islam, einerseits transzendent begründen und andererseits innerweltlich institutionalisiert zum Ausdruck bringen. Gott als Stifter und Zentrum der Religion überschreitet unerreichbar alle endliche Erkenntnis oder Wahrheitsbehauptung. Aber seinen Geboten ebenso wie dem vom Menschen entgegengebrachten Glauben kommt innerweltlich eine absolute Verbindlichkeit zu. Diese Verbindlichkeit kann autokratische Gewaltausübung legitimieren, wenn ihre Interpretation bzw. ihre Sanktion in die Hände einer endlichen politischen Institution gelegt wird.

Umgekehrt ist es gerade eben diese Verbindlichkeit, die seit Jahrhunderten den Widerstand gegen eine autokratische gewaltbereite Politik genährt hat. Damit ist die Brücke zum zweiten Satz geschlagen, der im Widerspruch zum ersten zu stehen scheint. Der Widerspruch wird entkräftet, wenn die Paradoxie ausdrücklich wird, die in einer transzendenten, aber innerweltlich bedeutsamen Verbindlichkeit liegt, welche zugleich prinzipiell einer verbindlichen innerweltlich-institutionellen Auslegung widersteht.

Die Sätze drei und vier bringen diese Paradoxie in Bezug auf die individuelle Freiheit zum Ausdruck. Viele nicht religiöse oder nicht gläubige Menschen können schwer nachvollziehen, dass Religion, trotz oder angesichts ihrer absoluten Verbindlichkeit von gläubigen Menschen als Befreiung erfahren wird. Gemeinhin steht in solcher, gegenüber der Religion distanzierter Sicht  die individuelle Freiheit dem göttlichen Gebot entgegen, dem sich die Freiheit zu unterwerfen hätte. Das erscheint plausibel, ist allerdings dann nicht der Fall, wenn das göttliche Gebot einerseits zwar inhaltlich Orientierung, anderseits aber die Entscheidung dazu dem freien und als frei gewollten Entschluss der menschlichen Person anheim gibt. Wenn der Gehorsam seinen Wert erst dadurch erlangt, dass er in Freiheit geschieht, weil sonst der Mensch als Geschöpf Gottes nur dessen Marionette, sein ausführendes Organ, kein in seiner Würde ernst genommener Partner Gottes wäre, dann findet die Freiheit des Menschen eine zusätzliche Unterstützung und Bekräftigung im Willen  Gottes. Freilich wiederum nur dann, wenn die Allmacht Gottes nicht, wie bei Augustinus, der freien Entscheidung des Menschen zum Guten im Wege steht, weil diese, da alles Gute immer schon von Gottes Allmacht gewollt wird, gar nicht eigenständig vom Menschen gewollt werden könnte. Nach Augustinus ist daher menschliche Freiheit immer die Freiheit zum Bösen. Eine komplizierte Bedingung. Anders verstanden aber befreit Religion von allen innerweltlichen Gehorsams- und Anpassungszumutungen, damit auch vom Anspruch der Politik, ungerechtfertigt Gewalt gegen Abweichler zu üben.

Aber dies gilt eben nur in einem Religionsverständnis, in dem das Geschöpf Mensch von Gott prinzipiell, auch gegen alle innerweltlichen Stellvertreterforderungen, in seine Freiheit entlassen wird. Dazu gehört, dass Gottes Wort – die aus der Transzendenz kommende Offenbarung -  kommunikationstheoretisch oder hermeneutisch als immer schon durch Interpretation und Endlichkeit  gleichsam kontaminiert bzw. eingebettet gilt, dass wir Menschen es zu aller Zeit immer nur in unserem Erfahrungs-Horizont aufnehmen und deuten können und deswegen auf absolute Verstehenssicherheit verzichten müssen. Religiöse Orientierung dispensiert in dieser Deutung nicht von der Notwendigkeit und der Bereitschaft, sich innerweltlich zu verständigen. Wenn Politik sich dagegen durch Religion absolute Sicherheit anmaßt, dann greift sie leicht mit vermeintlicher religiöser Legitimation auf Gewalt zurück.

Damit kommen wir zum letzten Gegensatzpaar: zum Gegensatz von Politik und Gewalt und der Rolle, die Religion dabei spielt. Besonders schwierig gestaltet sich hier die Definition von Gewalt. Denn man kann sie nicht einfach behavioristisch oder phänomenologisch bestimmen, etwa als physisch oder psychisch  verletzende oder beschädigende Einflussnahme auf die Person. Sonst könnte darunter z.B. auch eine medizinisch angezeigte oder riskante Operation fallen. Vielmehr scheint mir am überzeugendsten eine Definition, die solche Einflussnahme im Gegensatz zum freien Willen dessen begreift, gegen den bzw. auf den sie ausgeübt wird. Damit wird die Freiheit der Person zum Angelpunkt nicht nur dieses Gegensatzverhältnisses, sondern auch, wie mehr und mehr zu erkennen war und wie weiter herauszuarbeiten sein wird, insgesamt in der versuchsweisen Klärung des Verhältnisses von Religion, Politik und Gewalt. Denn von einem Gegensatz zwischen Politik und Gewalt kann nur die Rede sein, wenn wir Politik nicht machiavellistisch im Sinne des „Principe“ begreifen, nämlich als moralisch indifferente Kunst, die Herrschaftsmacht auch auf Kosten der individuellen Freiheit zu bewahren, sondern wenn wir sie als Institutionengefüge, als Kunst und als Kultur verstehen, die dem freiheitlichen Zusammenleben von Menschen dienen.

Als, wie mir scheint, utopischer Entwurf für ein solches Institutionengefüge hatte sich in den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts für einige Zeit ex negativo der Begriff der sog. strukturellen Gewalt eingebürgert, von Johan Galtung eingeführt mit dem richtigen Verweis darauf, dass Gewalt nicht nur als Folge persönlichen Handelns wirken, sondern auch von Strukturen  ausgehen kann. Dann nämlich, wenn Menschen aufgrund von Herrschafts- Sozial- oder Wirtschaftsstrukturen bzw. –institutionen immer schon benachteiligt und gegen ihren Willen von politischer Einflussnahme ausgeschlossen sind. Dieser richtige Hinweis, der als Merkpunkt beachtet werden muss, verliert allerdings als Totalentwurf seine Überzeugungskraft, wenn man ihn zuende denkt. Denn am Ende kann dann alles als „strukturelle Gewalt“ bezeichnet werden, was nicht zu definitiv gerechten Verhältnissen führt. Da aber Strukturen allein nie Gerechtigkeit errichten können, weil das konkrete menschliche Handeln immer dazu kommen muss, fallen alle Institutionen unter dieses Verdikt. Deshalb hilft der Begriff der „strukturellen Gewalt“ nicht weiter, wenn man ihn kritisch für die Beziehung zwischen Gewalt und freiheitlicher Politik verwenden will.

Gewalt kann also auch aus freiheitlicher Politik nicht ganz verbannt, sondern nur gebändigt werden: durch das Recht, das ihre Anwendung im Sinne des staatlichen Gewaltmonopols an die Verfassung und an die Sicherung von Freiheit und Gerechtigkeit bindet. Im Zeichen der zunehmenden Entstaatlichung von Politik in Richtung auf komplexe Governance-Strukturen und Akteure im Zuge der ökonomischen Globalisierung wird es immer schwieriger, dieses Monopol für freiheitlich–demokratisch legitimierte Politik zu sichern, weil diese Art von Governance, territorial entgrenzt, nicht mehr rein staatlich organisiert werden kann und infolgedessen zunehmend auf freiwillige Übereinkunft angewiesen ist. Aber verzichten können wir darauf nicht, wenn wir nicht in eine Welt der Bürgerkriege abgleiten wollen.

Das mit der Akzeptanz von rechtmäßig geordnetem Gewaltmonopol einhergehende Religionsverständnis verzichtet mithin auf Reinheit, Absolutheit, unbeeinträchtigtes Gelingen des menschlichen Lebens in dieser Welt. Es begreift den Menschen zwar als Geschöpf Gottes, aber nicht als gefeit gegen das Böse oder eindeutig bestimmt für das Gute, sondern als zu beidem fähig und in seiner Würde auf Freiheit angelegt. Weil Menschen zu einer verantwortlichen Handhabung ihrer Freiheit fähig sind, ist freiheitliche Politik möglich. Weil sie immer auch in Gewalt abgleiten können, ist deren Sicherung durch freiheitliche Politik mit  rechtmäßigem Gewaltmonopol nötig. Die zunächst als Paria erscheinende Gewalt kann also nicht einfach aus der Dreierbeziehung ausgeschlossen, sondern muss geregelt  werden.

Wie also sähe ein in den bisherigen Überlegungen angelegtes Verhältnis von Religion, Politik und Gewalt aus?

III. Religion, Politik und Gewalt im Zeichen personaler Freiheit

Die vorangegangenen Annäherungsversuche sollen durch eine Skizze des Verhältnisses von Religion, Politik und Gewalt abgeschlossen werden, denen eine normative Entscheidung für die Freiheit mit der philosophisch-anthropologischen Prämisse vorausgeht, dass Menschen – universal und überhistorisch – für die sinnvolle Gestaltung ihres individuellen wie ihres Zusammenlebens darauf angelegt und angewiesen sind, ihren Weg in Freiheit zu wählen und dies auch für ihre Mitmenschen so wollen - also nicht nur „zähneknirschend“ zugestehen - müssen. Das gleiche Recht auf Selbstbestimmung und die gleiche Pflicht zur Verantwortung stehen also am Anfang meiner Skizze. Die unüberwindbare Gefährdung des Menschen, seine Freiheit zu missbrauchen, gehört als Kehrseite zu dieser anthropologischen Prämisse.

Die so verstandene Freiheit steht der Gewalt diametral entgegen, nicht jedoch der politischen Macht. Ich folge hier Hannah Arendt, die Macht nicht im Gefolge Max Webers als die Fähigkeit definiert, andere von ihrem Willen abzubringen, sondern als Vermögen, Menschen zusammen zu führen, um mit ihnen etwas gemeinsam voranzubringen. Dieser Zusammenfügung von Einzelvermögen gehen Erörterung, Erwägung und Überzeugung voraus. Politik setzt auf Übereinkunft und Vereinbarung.

Die ihr vorgelagerte Freiheit hat immer mit konstruktiven und mit destruktiven Potenzialen im Menschen umzugehen. Diese Offenheit steht gegen die Versuchung der Utopie, gegen die Gefahr der Überschätzung wie der Unterschätzung von Menschen. Ob Politik als die Kunst, menschliches Zusammenleben gemäß dieser Freiheitsannahme gemeinsam zu ordnen und zu pflegen, gelingt, hat deshalb Einfluss auf die Chance, im religiösen Sinne als Geschöpf und Partner Gottes zu leben. Natürlich gibt es auch unter diktatorischen Bedingungen, gibt es auch im Gefängnis und im Konzentrationslager ein Leben nach Gottes Willen, aber die Fragilität und Verführbarkeit der Menschen steigert die Gefahr, unter derartigen Bedingungen einen unguten  Gebrauch von der eigenen Freiheit zu machen und moralisch bitter, gar notwendig  zu scheitern. Politik und Religion sind insofern einander ergänzend zugeordnet, als die Religion Wegmarken eines „guten, gelungenen Lebens“ zeigt, aber gerade um der in ihr angelegten und gebotenen Freiheit Willen die Politik in ihre Autonomie entlassen muss. Eine Politik, die der Religion unterworfen würde, liefe Gefahr, die im Glauben angelegte Freiheit zu pervertieren.

Umgekehrt ist mit einer derartigen freiheitlichen Politik nur eine Religion vereinbar, die ihre absolute Verbindlichkeit an die freie Entscheidung der Menschen knüpft und diese nicht durch ausdrücklichen Zwang oder durch de facto zwingende Gewohnheit annulliert. Damit ist nicht eine vergleichgültigende Relativierung des religiösen Ernstes gefordert, sondern die Einsicht in die Begrenztheit menschlicher Endlichkeit gegenüber der absoluten Majestät Gottes.

Diese Koordinierung von freiheitlicher Politik und Religion im Zeichen der Freiheit klingt nach „patch-work-Religion“. Können wir uns angesichts der bestehenden Religionen und Ihres eigenmächtigen Wirkens und vor allem angesichts ihres göttlichen Ursprungs – wenn wir ihn ernst und Religionen nicht nur religionswissenschaftlich bzw. –soziologisch in den Blick nehmen -, einfach eine derartige Komplementarität zurecht bauen? Natürlich können wir das nicht. Allein die gewaltsamen Auseinandersetzungen im Zeichen religiöser oder konfessioneller Zugehörigkeiten, die wir gegenwärtig beobachten, lehren uns, dass gegenüber den von ihnen frei gesetzten Kräften derartige intellektuelle Konstruktionen eher hilflos anmuten.

Auf der anderen Seite gibt es keine sichere Unterscheidung zwischen dem, was an diesen Auseinandersetzungen eindeutig religiös, und dem was rein menschlich – sozial, psychologisch, ökonomisch, politisch – begründet oder bestimmt ist. Die Pluralität der Interpretationen in allen Religionen legt sogar den Gedanken nahe, dass es zumindest in jeder empirischen Religion vertretbare und legitime Versionen gibt, die dem hier skizzierten Verhältnis von Politik und Religion positiv entsprechen könnten. Einen Lackmus-Test mag dabei der Umgang mit Gewalt darstellen.

Denn sowohl die Weisheit der Weltreligionen als auch die täglichen empirischen Beobachtungen zeigen uns, dass Gewalt nicht einfach durch Gegengewalt besiegt und überwunden werden kann, dass vielmehr die scheinbar schwache Macht der Liebe, die uns dazu anhält, uns dem Gegner so zuzuwenden, dass wir ihn auch in seinem Selbstverständnis begreifen und gemeinsam mit ihm einen Weg aus dem Konflikt finden, der für seine Freiheit und für seine darin beschlossene Würde – zumindest perspektivisch – einen Weg öffnet, das zerstörerische Potenzial der Gewalt am wirksamsten überwinden kann. Dies mag erklären, weshalb der Dialog zwischen Gläubigen, auch wenn sie auf den ersten Blick von konträren Positionen starten, oft leichter zu einem Einvernehmen führt als ein Gespräch, das auf der Ebene des Innerweltlichen, des Vorletzten verharrt.

Damit komme ich auf den Angelpunkt der personalen Freiheit zurück. Ich füge der Freiheit das Adjektiv „personal“ hinzu, um wenigstens andeutungsweise den anthropologischen Ansatz der Person zu nennen. Der Hinweis auf die Person enthält zum einen das Sprechen aus dem eigenen und zugleich transzendenten Ursprung und die Unersetzbarkeit, sowie zum anderen die Angewiesenheit auf das personale Du, in der Immanenz wie in der Transzendenz, um dem eigenen Potenzial und der eigenen Bestimmung gerecht werden zu können. Als Autisten neigen wir zur Gewalt, als Personen kann es uns gelingen, im freiheitlichen, rechtlich geregelten politischen Dialog über das uns alle Betreffende, aber Umstrittene zu entscheiden und damit dem zu entsprechen, wozu Gott uns in die Verantwortung der Mitschöpfung gerufen hat.