Statement bei der Präsentation der vierten Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung „Kirche in der Vielfalt der Lebensbezüge“ (KMU IV)

Johannes Friedrich

Sehr gerne habe ich die Aufgabe übernommen, Ihnen heute als Mitglied des Rates der EKD und als Mitherausgeber gemeinsam mit Kirchenpräsident Prof. Dr. Steinacker und mit Prof. Dr. Hermelink als Vorsitzendem des wissenschaftlichen Beirates die ausführliche Auswertung der vierten Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung vorstellen zu können. Die EKD hat sie in Auftrag geben und sie trägt den Titel „Kirche in der Vielfalt der Lebensbezüge“. Bereits ihr stattlicher Umfang von 512 Seiten spiegelt etwas von der Weite und Vielfalt wider, in der hier Kirche aus der Perspektive von Mitgliedern und Konfessionslosen betrachtet und wahrgenommen wird. Im Jahr 2002 wurde eine repräsentative Umfrage bei insgesamt rund 3000 Personen durchgeführt, die Kirchenmitglieder und Konfessionslose in Ost- und Westdeutschland gleichermaßen erfasst hat.

Eine Projektgruppe von religionssoziologischen Fachleuten verschiedener deutscher Universitäten hat dann - mit Beratung und Begleitung durch einen namhaft besetzten wissenschaftlichen Beirat von Theologen und Religionssoziologen- in den zurückliegenden drei Jahren intensiv daran gearbeitet, die innere Logik der verschiedenen Beziehungen zu Kirche, Glaube und Religion zu entfalten und zu erklären.

Nach der Veröffentlichung erster Ergebnisse im Jahr 2003 liegt somit nun ein neues Referenzwerk kirchenreformerischer Überlegungen für die kommenden Jahre vor. Gerade in einer Zeit, in der auf allen kirchlichen Handlungsebenen Strukturveränderungen und Reformmaßnahmen konzipiert und durchgeführt werden, kann die Bedeutung einer solchen grundsätzlichen Orientierung nicht hoch genug eingeschätzt werden. Die evangelische Kirche in Deutschland leistet sich damit Grundlagenarbeit jenseits des kirchenpolitischen Tagesgeschäft. Die Kirchenmitgliedschaftsstudie beleuchtet die Wirklichkeit kirchlichen Lebens mit Hilfe von quantitativen und qualitativen Methoden eingehend und umfassend beleuchtet.

Mit der vierten Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung wird so die lange und gute Tradition fortgesetzt, in der die Evangelische Kirche in Deutschland - unterstützt durch die Evangelisch-Lutherische Kirche in Bayern und die Evangelische Kirche in Hessen und Nassau - seit nunmehr 30 Jahren nach der kirchlichen Verbundenheit und den Einstellungen ihrer Mitglieder fragt. Die „Kirchenmitgliedschaftsuntersuchungen“, kurz KMU, sind seit der Veröffentlichung der ersten Studie im Jahr 1974 gleichsam zu einem evangelischen Markenprodukt in der kirchensoziologischen Forschung geworden, die wichtige Standards gesetzt haben. In ihnen drückt sich eine protestantische Geisteshaltung aus, in der sich kritische Selbstwahrnehmung mit analytischer Klarheit und praktischer Reformbereitschaft verbindet.

Die große Leistung der Kirchenmitgliedschaftsstudien liegt seit ihren Anfängen darin, den Blick für die Vielfalt der Lebensbezüge, in denen Menschen ihren Glauben und ihre Kirchenzugehörigkeit leben, zu öffnen und zu schärfen. Auch die vierte Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung vermittelt tiefergehende Einsichten in das weite Feld der Kirchenmitgliedschaft und auch der Konfessionslosigkeit. Sie reichen von der Entfaltung differenzierter Formen der Kirchenbindungen und Glaubensüberzeugungen, über die sozialstrukturelle Verortung und Typologisierung der Mitglieder bis hin zu der Untersuchung von Lebensstilen, Weltsichten und religiöser Kommunikation. Bei der Untersuchung handelt es sich - das sei hier ausdrücklich gesagt - um eine Grundlagen-Arbeit. Es zielt auf die Ausbildung lebensweltlicher Sensibilität und die Steigerung perspektivischer Wahrnehmungskompetenz. Doch auch der stärker praktisch orientierte Leser bzw. die Leserin kommt in der Publikation auf seine bzw. ihre Kosten. Praktisch-theologische Kommentare von Vertretern unterschiedlicher kirchenpolitischer Positionen zeigen am Ende jeden Hauptkapitels mögliche Konsequenzen für kirchenleitendes Handeln auf. Dass die Ergebnisse dabei in sehr unterschiedlicher Weise interpretiert werden, entspricht m.E. der Komplexität des Sachverhalts. Die KMU unterstützt damit kirchenreformerischer Überlegungen, nicht ihrer abschließenden Beantwortung. Sie ist eine Anleitung zu empirisch verantworteter kirchenleitender Reflexion. Der umfangreiche Abdruck des Fragebogens und der Grundauszählung im Anhang bietet denjenigen, die mit diesem Buch arbeiten, eine Fülle von erhellendem Material und die Möglichkeit, sich selbst eine Meinung zu bilden.

In der vierten Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung werden in methodischer Hinsicht neue Wege beschritten, um sich der Wirklichkeit gelebter Kirchlichkeit und Religion anzunähern. Drei dieser innovativen Herangehensweisen möchte ich hier kurz entfalten:

1. Die Analyse von Lebensstilen evangelischer Kirchenmitglieder und Konfessionsloser. Bei den Ergebnissen der Umfrage wurden auffällige Antwortkombinationen analysiert und - mit Hilfe des Instruments der Clusterbildung - zu bestimmten Typen der Kirchlichkeit bzw. der Nicht-Kirchlichkeit verdichtet. Noch vor den „harten“ sozialstrukturellen Fakten wie Bildung, Einkommen und Status spielten hierbei vor allem „weiche“ sozialkulturelle Daten eine wichtige Rolle: Was macht ein Mensch in seiner Freizeit, welche Musik hört er, wie eng ist sein Kontakt zu den Nachbarn, welche Werte und Normen sind für sein Leben wichtig. Oder das gleiche in wissenschaftlicher Sprache ausgedrückt: Es geht um expressives Verhalten, Interaktion und Evaluation. Sechs Lebensstile evangelischer Kirchenmitglieder konnten auf diese Weise analysiert werden: hochkulturell-traditionsorientiert, gesellig-traditionsorientiert, jugendkulturell-modern, hochkulturell-modern, vom „Do-it-yourself“-geprägt-modern und traditionsorientiert-unauffällig. Sie besitzen - ebenso wie die ihnen korrespondierenden Lebensstile der Konfessionslosen - eine große Leistungskraft für die Wahrnehmung und Erklärung kirchlicher Partizipationsformen. So spielen etwa für den jugendkulturell-modernen Lebensstil institutionelle Einbettung, Formen kirchlicher Gemeinschaft und Möglichkeiten zu ehrenamtlicher Mitarbeit keine besondere Rolle. Dem jugendkulturellen Lebensstil gehört über die Hälfte der rund 6 % austrittsgeneigter Kirchenmitglieder an. Eine der wichtigen Aufgaben kirchenleitender Verantwortung besteht entsprechend darin, der fortschreitenden Gefahr einer Milieu-Verengung innerhalb der evangelischen Kirchenmitgliedschaft entgegen zu wirken. Zugleich zeigen verschiedene Ergebnisse der Umfrage aber auch unausgeschöpfte Potentiale ehrenamtlichen Engagements - vor allem bei kirchlich verbundenen Menschen. Im Blick auf die wachsende Bedeutung ehrenamtlicher Arbeit in der Kirche wird die unterschiedliche Logik des In-der-Kirche-Seins und die damit einhergehende differenzierte Motivationslage zu aktiver Beteiligung zukünftig von großer Bedeutung sein.

2. Die Konzeption von Weltsichten. Gegenüber den früheren Studien besteht ein weiterer wichtiger Neuansatz in der aktuellen Untersuchung im Konzept der Weltsichten. Es zielt darauf, die kirchliche und religiöse Landschaft, die aus kirchlicher Sicht oft als „unbestimmt“ wahrgenommen wird, näher zu beleuchten, zu verstehen und zu strukturieren. Dazu wurde untersucht, wie Kirchenmitglieder und Konfessionslose, Religiöse und Nicht-Religiöse die Welt betrachten und interpretieren, wo zwischen ihnen Gemeinsamkeiten und Unterschiede bestehen. Als Grundlage dienten Fragen zu den fünf Themenfeldern: Sinn des Lebens, aktive Sterbefelder, Zusammenleben mit muslimischen Migranten, Gesundheit und Krankheit und Arbeitslosigkeit - also Fragen zu Themenfeldern von besonderer gesellschaftlicher Relevanz.

Auch wenn das Verhältnis von protestantischem Glauben und Weltsichten kontrovers beurteilt wird - wie die folgenden Kommentare in dem Band dokumentieren -, so wird mit dieser Konzeption ein äußerst elaboriertes und aufschlussreiches Instrumentarium kirchlicher wie gesellschaftlicher Wahrnehmung entworfen. Es zeigt einmal mehr, dass die religiöse Landschaft bunter und komplexer ist als es die klaren Grenzen der Kirchenzugehörigkeit vermuten lassen. Zugleich hilft es Argumentationsgänge und Fraktionsbildungen innerhalb der aktuellen gesellschaftlichen Diskussion besser zu verstehen.

3. Die Untersuchung religiöser Kommunikation. Zusätzlich zu der quantitativen Erhebung mittels repräsentativer Umfrage wurde in der vierten KMU auch eine qualitative Untersuchung durchgeführt. Dazu wurden Diskussionen von 15 Gruppen aus dem kirchlichen wie nicht-kirchlichen Kontext aufgezeichnet und ausgewertet. Die Bandbreite der Gruppen aus Ost- und Westdeutschland reichte vom Herrensport- und Kleingartenverein, über Gemeindegesprächskreise, eine Jugendgruppe und die Frauenhilfe bis hin zum studentischen Musik-Ensemble, einer Trainee- und einer Attac-Gruppe. Angestoßen durch Impulsfragen tauschten sich die Teilnehmer/innen frei zu Themen wie Relevanz im Leben, Sicht der Kirche, Erwartungen über den Tod hinaus oder den Bau einer Moschee aus. Leitend für die Analyse und Interpretation dieses überaus interessanten und aufschlussreichen Materials waren dabei weniger die einzelnen Meinungen der konkreten Personen. Im Blickpunkt standen vielmehr die kommunikativen Prozesse: Wie vollzieht sich Kommunikation über Religion? Wie und wo geht sie in religiöse Kommunikation über, also in eine Kommunikation, in der die distanzierte Haltung des Redens „über“ aufgegeben wird? Was verhindert bzw. befördert solch eine religiöse Kommunikation? Welche typischen Argumentationsfiguren und Diskussionsrollen lassen sich bei dieser Kommunikation wahrnehmen? Wie entwickeln sich die verschiedenen Positionen bei der diskursiven Entfaltung der jeweiligen Frage? Auf diese Weise konnten erhellende Einsichten gewonnen werden, wie Menschen in unserem Land über ihre Kirche, ihren Glauben, ihr Leben sprechen und welche Anschlussmöglichkeiten und Probleme sich für die Kommunikation der Kirche hieraus ergeben. Das umfangreiche Material der Gruppendiskussionen wird zur Zeit weiter ausgewertet, die Ergebnisse werden dann in einem zweiten Band im Herbst diesen Jahres veröffentlicht.

Das Buch „Kirche in der Vielfalt der Lebensbezüge“ bietet eine Fülle von weiteren inhaltlichen Themen, Fragestellungen und Einsichten. Ob zu den Erwartungen an Kirche und Gottesdienst, zur Rolle der Pfarrer und Pfarrerinnen, zur unterschiedlichen Religionskultur in Ost- und Westdeutschland, zur Bedeutung von Familie und Medien für die religiöse Sozialisation, zum Stellenwert der kirchlichen Amtshandlungen oder zu den Perspektiven für kirchliche Ausbildung: Die Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung bietet ein breites Tableau kirchenrelevanter Erkenntnisse, zu denen Herr Kirchenpräsident Steinacker und Herr Prof. Dr. Hermelink gleich noch näher eingehen werden.

Ich wünsche mir, dass das Buch eine entsprechend breite Resonanz innerhalb wie außerhalb der Kirche findet. Ich bin überzeugt, dass mit dem vorliegenden Werk ein wichtiger Beitrag dazu geleistet wird, „Kirche in der Vielfalt der Lebensbezüge“ wahrzunehmen und so seine auftragsgemäße Neugestaltung zu fördern.