Gedenkrede anlässlich der Gedenkveranstaltung für die evangelischen Opfer des Konzentrationslagers Sachsenhausen

Wolfgang Huber

I.

„Die Evangelische Kirche in Deutschland gedenkt aller evangelischen Christen, die in der Zeit der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft an diesem Ort inhaftiert, gequält oder ermordet worden sind. Die Erinnerung an ihr Leiden mahnt uns, Gott mehr zu gehorchen als den Menschen und gegen Gewalt und Unrecht aufzustehen.“

So heißt es auf der Vorderseite der Gedenkstele, die der Bildhauer Christian Roehl im Auftrag der Evangelischen Kirche in Deutschland gestaltet hat und die wir heute enthüllen.

Die Evangelische Kirche in Deutschland gedenkt ... – damit ist eine zentrale Aufgabe der Kirche angesprochen. Ihre jüdisch-christliche Tradition sieht in der Kultur des Gedenkens ein Grundelement für die kollektive und individuelle Identitätsbildung. Nach dem 5. Buch Mose (6, 20ff) haben die Älteren die Pflicht, den Jüngeren von den Erfahrungen des Volkes mit seinem Gott zu erzählen und so den Glauben im Volk weiterzugeben. Auch im Neuen Testament erscheint die Gedenkkultur an zentraler Stelle: Das letzte Abendmahl feiern Jesus und seine Jünger in der Gewissheit, künftig im Teilen von Brot und Wein der Gegenwart Jesu Christi zu gedenken. Jesus beschließt das Mahl mit den Worten: Das tut zu meinem Gedächtnis (Lk 22,19).

Die Hochschätzung der Erinnerungskultur hat die Evangelischen Kirche in Deutschland vor einigen Jahren mit folgenden Worten zum Ausdruck gebracht: Die Frage nach der Identität der Deutschen und dem Rang der nationalsozialistischen Gewaltverbrechen für ihr kulturelles Gedächtnis steht heute neu auf der Tagesordnung. Eine christliche Kultur des Gedenkens geht in diesem Zusammenhang von der erinnernden Solidarität mit den Opfern aus. Ziel solchen Erinnerns muss sein, dass sich Vergleichbares niemals wiederholt (Gestaltung und Kritik. Zum Verhältnis von Protestantismus und Kultur im neuen Jahrhundert).

Erinnern gehört zu den notwendigen Grundvollzügen unserer Gesellschaft. Ich bin davon überzeugt, dass jede Gesellschaft ein kollektives Gedächtnis braucht für Inhalte, die den Alltag übersteigen. Dazu gehören neben großen Erzeugnissen der Kunst auch religiöse Überlieferungen und prägende Riten, vor allem aber außerordentliche Ereignisse der Vergangenheit. Ohne solche gemeinsamen Bezugspunkte kommt keine Gesellschaft aus, weil sich an ihnen die Identität einer Gesellschaft wie die Identität der einzelnen bildet. Jan Assmann hat dies das kulturelle Gedächtnis genannt. Aus den Grundelementen des kulturellen Gedächtnisses entsteht ein wichtiges Potential der Erneuerung, der Selbstkritik oder der Reform. Mit dem kulturellen Gedächtnis bewahrt eine Gesellschaft nicht nur ein gemeinsames Bild der Vergangenheit auf. Darin sind zugleich die Potentiale zur Deutung der Gegenwart wie zu einem Entwurf der Zukunft enthalten. Ohne Grundbestände eines kulturellen Gedächtnisses ist weder das eine noch das andere möglich, weder eine Verständigung über die Wahrnehmung der eigenen Zeit noch eine Vision der Zukunft.

Das kulturelle Gedächtnis ist für sein Bestehen auf beständige Erneuerung angewiesen. Bloß konservierende Bewahrung reicht nicht. Über das Verständnis der religiösen Tradition, die Interpretation der Klassiker oder die Deutung großer Ereignisse muss immer wieder gestritten werden. An der Debatte über die Zugehörigkeit von Günter Grass zur Waffen-SS ist wieder deutlich geworden, dass dies oft sehr kontrovers geschieht und unsere tiefsten Emotionen aufrührt. Aber unsere Emotionen können noch tiefer und weit authentischer angesprochen werden. Das geschieht, wenn wir auf die Seite der Opfer treten, auf die Seite derer, die ihr Leben ließen.

II.

Wir gedenken heute aller evangelischen Christen, die in der Zeit der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft an diesem Ort inhaftiert, gequält oder ermordet worden sind. Die Stele, die wir heute enthüllen, ist ein Symbol für ein konkretes und bewusstes Erinnern, an jene, die ihren christlichen Glauben bekannt und die an diesem Ort gelitten haben. Dies geschieht nicht unter Absehen von den vielen Opfern der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft, insbesondere der Jüdinnen und Juden oder der Sinti und Roma. Auch wenn es – trotz entsprechender Bemühungen und zu meinem ausdrücklichen Bedauern – zu einem gemeinsamen Gedenken aller christlichen Opfer nicht gekommen ist, verneigen wir uns auch vor den Opfern aus anderen christlichen Kirchen. Auch wenn wir mit der Stele, die wir heute enthüllen, die Aufmerksamkeit auf die evangelischen Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft lenken, verschließen wir die Augen nicht vor dem  Leiden von Menschen, die nach 1945 an diesem Ort inhaftiert waren und gestorben sind.

Wenn wir mit dieser Stele der evangelischen Opfer des Konzentrationslagers Sachsenhausen in der Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft gedenken, dann geschieht dies um unserer Identität als evangelische Kirche willen und in dem Bewusstsein, einen Beitrag zur Identität unserer ganzen Gesellschaft zu leisten.

Einige Namen evangelischer Opfer möchte ich exemplarisch nennen; sie sind hier in Sachsenhausen zu Tode gekommen. Viele ihrer Biographien haben Eingang gefunden in das Gedenkbuch für die evangelischen Märtyrer des 20. Jahrhunderts, das im Auftrag der EKD im Frühjahr erschienen ist. Gedenkt an eure Lehrer, die euch das Wort Gottes gesagt haben; ihr Ende schaut an und folgt ihrem Glauben nach. (Hebräer 13,7):

Unter den Menschen, denen unser Gedenken gilt, nenne ich beispielhaft:

- Friedrich Weißler († 19. Februar 1937)
- Jens Mungard († 13. Februar 1940)
- Israel Johannes Rubanowitsch († 10. Juni 1941)
- Hermann Reinmuth († 26. April 1942)
- Franz Kaufmann († 17. Februar 1944)
- Fritz Elsas († 4. Januar 1945)
- Malte von Putbus († 10. Februar 1945)
- Hans von Dohnanyi († 9. April 1945)

Ich nenne ebenso den polnischen evangelischen Bischof Julius Bursche († 20. Februar 1942).

Wir gedenken evangelischer Christen, die an diesem Ort gequält wurden und an anderen Orten starben. Ich nenne:

- Otto Kneip († 8. Oktober 1941 in Groß-Rosen)
- Werner Sylten († 26. August 1942 bei Linz)
- Nikolaus Graf von Halen († 9. Oktober 1944 in Brandenburg-Görden)
- Georg Elser († 9. April 1945 in Dachau).

Auch Martin Niemöller war als persönlicher Gefangener Hitlers im Konzentrationslager Sachsenhausen inhaftiert. Er wurde später nach Dachau überführt und überlebte die nationalsozialistische Gewaltherrschaft. Er starb am 6. März 1984 in Wiesbaden. Niemöllers zu gedenken, bedeutet auch an Kurt Scharf zu erinnern, meinen Vorgänger im Bischofsamt, der als Gemeindepfarrer von Sachsenhausen zugleich auf besondere Weise ein unerschrockener Seelsorger an diesem Ort war.

Wir erinnern uns auch an Heinrich Grüber, der wegen seines Einsatzes für die verfolgten Christen jüdischer Herkunft in das Konzentrationslager Sachsenhausen kam. Er überlebte das Lager und starb am 29. November 1975.

Unter den Beteiligten des 20. Juli 1944 nenne ich Carl-Hans Graf von Hardenberg; auch er überlebte und starb am 24. Oktober 1958 in Kronberg im Taunus.

Im Blick auf die beispielhaft genannten Namen, aber ebenso im Blick auf die Ungenannten danke ich von Herzen den Angehörigen, die heute unter uns sind und diesen Tag mit uns begehen.

Die genannten Namen stehen exemplarisch für die vielen evangelischen Christinnen und Christen, denen die Evangelische Kirche in Deutschland mit dieser Stele ein Zeichen des Gedenkens setzt. Ihr Ende schauen wir an. Nicht immer wurden sie unmittelbar ihres Glaubens wegen verfolgt. Viele sind aus politischen Gründen oder aus reiner Willkür verhaftet und an diesen Ort gebracht worden. Manche der Namen sind bekannt, andere sind in der allgemeinen, aber auch in der kirchlichen Öffentlichkeit eher unbekannt. Sie alle verdienen es, dass man ihrer gedenkt. Im Falle von Friedrich Weißler hat die Union Evangelischer Kirchen sich in besonderer Weise für das Gedenken eingesetzt. Die ihm gewidmete Stele, die wir im Frühjahr 2005 enthüllt haben, steht zu der neuen Gedenkstele in unmittelbarer Nachbarschaft. Wir tragen als Kirche schwer an dem, was ihm und anderen angetan wurde. Sie waren verlassen oft genug nicht nur von der deutsch-christlichen Reichskirche, die auf Seiten der Nationalsozialisten stand. Auch die Bekennende Kirche trat ihnen oft nicht zur Seite. Dazu bekennen wir uns als Evangelische Kirche in Deutschland. Nicht nur in ihren Stärken, sondern auch in ihrer Schwäche stehen wir im Erbe der Bekennenden Kirche. Wir bekennen uns zu unserer Geschichte, die in vielen Fällen eine Geschichte der Schuld ist.

Wir erinnern uns derer, die um ihres Glaubens willen inhaftiert, gequält und ermordet worden sind, und die wir deshalb als Zeugen einer besseren Welt, als Vorbilder im Glauben ansehen. So wie das Licht von oben in die neue Stele hineinfällt, die wir heute einweihen, und die Schrift, die Botschaft von innen scheinen lässt und sichtbar macht, so ist es bei jenen, derer wir gedenken. Durch sie scheint das Licht Gottes für uns.

In der Bibel wird von Jesus nicht nur gesagt, dass er das Licht der Welt sei (Johannes 8,12), sondern auch, dass er von seinen Jüngern sagt, dass sie das Licht der Welt sind (Matthäus 5,14). Das eine bedingt das andere. Menschen, die wir als evangelische Märtyrer, als evangelische Heilige ansehen, sind Christen, die die Aufforderung Jesu ernst genommen haben: So lasst euer Licht leuchten vor den Menschen, damit sie eure guten Werke sehen und euren Vater im Himmel preisen (Matthäus 5,16). Wir sind ihnen dankbar, weil sie im Dunkel dieser Zeit ihr Licht und damit den Lobpreis Gottes nicht verhüllt haben.

Neben dieser Dankbarkeit steht zugleich die Scham. Scham prägt unsere Erinnerung daran, wie viele evangelische Christinnen und Christen diesen Mut nicht aufbrachten, wie auch die Kirche als Institution an der Geschichte der Schuld Anteil hat, an die wir uns schamvoll erinnern.

III.

Wenn Sie nachher vor der Gedenkstele stehen, werden Sie zunächst die Vorderseite wahrnehmen und dort den ersten Teil des Textes sehen, den Sie vollständig auf Ihrer Einladungskarte lesen konnten. Wenn Sie sich dann der Stele nähern, werden Sie merken, dass Sie durch die Buchstaben hindurch sehen können; sie sind aus der Bronzeplatte mit einem Laser ausgestanzt worden. Durch sie hindurch kann man in das Innere der Säule und auf ihre Rückseite sehen. Dort steht der Grund für unser Gedenken, der zweite Teil des Textes:

„Wir vertrauen dabei auf Gottes Zusage:

‚Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst; ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du bist mein! Wenn du durch Wasser gehst, will ich bei dir sein, dass dich die Ströme nicht ersäufen sollen; und wenn du ins Feuer gehst, sollst du nicht brennen, und die Flamme soll dich nicht versengen.’ Jesaja 43,1-2

Evangelische Kirche in Deutschland 2006“

Dieser Text „im Hintergrund“ ist der Hintergrund unseres Gedenkens. Gottes Zusage geht allem voraus, was wir als Ansage für unsere Gegenwart sagen. Dieser Zusage, diesem Gott vertrauen wir. Die Worte aus dem 43. Kapitel des Jesajabuchs sind dabei von einer Aktualität, die die Jahrhunderte überdauert. Sie weichen der harten Wirklichkeit dieses Ortes nicht aus. Die Menschen, die hier inhaftiert waren, hatten allen Grund, sich zu fürchten. Die Metaphern des Wassers, das zu ersäufen droht, und des Feuers, das versengen will, waren für sie nicht bloße Begriffe, sondern nackte und nahe Erfahrung.

Im Gedenken daran erinnern wir zugleich an Gottes Zusage. Bei ihm ist der Name jedes einzelnen Menschen aufgeschrieben. Sie, die die Hölle auf Erden im Konzentrationslager Sachsenhausen erlebt haben, gehören zu ihm. In Gott sind wir mit jedem einzelnen von ihnen im Gedenken verbunden. Vor Gott sind wir zum Gedenken verpflichtet.

IV.

Die Erinnerung an ihr Leiden mahnt uns, Gott mehr zu gehorchen als den Menschen und gegen Gewalt und Unrecht aufzustehen. Gott mehr gehorchen als den Menschen, dieses Zitat aus der Apostelgeschichte (5,29) steht auch auf der Stele, die an Friedrich Weißler erinnert. Er hat sich wie viele seiner Glaubens- und Leidensgenossen an das gehalten, was in der zweiten These der Barmer Theologischen Erklärung von 1934 so formuliert wurde: Wir verwerfen die falsche Lehre, als gebe es Bereiche unseres Lebens, in denen wir nicht Jesus Christus, sondern anderen Herren zu eigen wären, Bereiche, in denen wir nicht der Rechtfertigung und Heiligung durch ihn bedürften.

Dies gilt auch heute noch: Es gibt keine Bereiche, in denen nicht Jesus Christus der Herr unseres Lebens wäre. Auch heute dürfen wir nicht wegschauen, wenn Gewalt und Unrecht sich ausbreiten wollen, sondern müssen dagegen aufstehen.

Ich denke dabei beispielsweise an das Engagement der Bürgerinnen und Bürger von Delmenhorst, die sich mit großem Einsatz und viel Phantasie dagegen einsetzen, dass ein Hotel in ein rechtsextremes Tagungszentrum umgewandelt wird. Eine Bürgerinitiative hat innerhalb von wenigen Tagen 750.000 Euro gesammelt, in der Stadtbücherei wird ein Medienpaket gegen Rechtsradikalismus zusammengestellt, das auch für den Schulunterricht zur Verfügung steht, viele weitere Aktionen erzeugen großes mediales Interesse. Ich bin froh darüber, dass sich viele evangelische Christen und Christinnen und ihre Kirchengemeinden in der Oldenburgischen Landeskirche an der Aktion beteiligen und deutlich machen: Wir schweigen nicht, wir schauen nicht zu!

Eine weitere Thematik will ich ausdrücklich ansprechen. Zur diesjährigen Interkulturellen Woche / Woche der ausländischen Mitbürger habe ich zusammen mit Kardinal Lehmann und Metropolit Augustinos gesagt: Als Kirchen sind wir darum bemüht, sowohl im eigenen Bereich als auch in die Gesellschaft hinein Anstöße für ein gelingendes Zusammenleben mit den Zugewanderten zu geben und uns den immer wieder zu Tage tretenden Tendenzen von Ausgrenzung, Diskriminierung und Gewalt in unserer Gesellschaft gemeinsam zu widersetzen. Jedem Menschen kommt trotz aller Unterschiede eine unumstößliche Würde zu, die in Gott selbst gründet (1. Mose 1,26f). Sie ist unabhängig von gesellschaftlichen Bewertungsmaßstäben und nicht an Bedingungen geknüpft. Von da aus haben wir kritische Worte zu den Wirkungen des Zuwanderungsgesetzes von 2005 gefunden, weil wir beobachten, dass die erhoffte rechtliche und soziale Integration von einheimischen und zugewanderten Menschen in vielerlei Hinsicht noch nicht gelungen ist.

Die Debatte über die No-Go-Areas für - vor allem dunkelhäutige - Ausländer hat vor der Fußball-Weltmeisterschaft ganz Deutschland und besonders Brandenburg bewegt. Sie hat deutlich gemacht, dass Gewalt gegen Andersdenkende und Andersaussehende nicht der Vergangenheit angehört, sondern auch in unserer Gegenwart virulent ist. Ich bin froh, dass sich während der Weltmeisterschaft gezeigt hat, dass die Welt zu Gast bei Freunden sein konnte, ohne dass es zu gewalttätigen Übergriffen kam. Aber die Aufgabe bleibt. Wir müssen alles in unserer Macht Stehende tun, damit Fremde sich in unserem Land nicht fürchten müssen. Auch dazu lassen wir uns motivieren durch das Leiden derer, die an diesem Ort inhaftiert, gequält und ermordet wurden. Ihrer gedenken wir am heutigen Tag und über diesen Tag hinaus.