Gemeinschaft gestalten – Evangelisches Profil in Europa - Vortrag auf der 6. Vollversammlung der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa

Wolfgang Huber

I.

Europa befindet sich in einer Phase des Übergangs. Der Erweiterung der Europäischen Union muss eine Vertiefung entsprechen. So wie ein Baum, dessen Geäst sich ausladend verzweigt, auf feste und tiefe Wurzeln angewiesen ist, so ist es auch mit der gewachsenen Gemeinschaft in Europa. Die Grenze zwischen Ost und West, die Europa noch vor siebzehn Jahren durchschnitt, ist überwunden; jetzt kommt es darauf an, den Geist zu erneuern, der Europa zu einer Gemeinschaft macht.

Dieser Geist verdankt sich unterschiedlichen Quellen. Athen, Rom und Jerusalem stehen für diese Quellen: Wissenschaft und Kunst, Staat und Recht, Gottvertrauen und Weltverantwortung bestimmen zusammen das Gesicht Europas. Von einem christlichen Europa konnte nie in dem Sinn die Rede sein, als bestimme der christliche Glaube allein die kulturelle Gestalt unseres Kontinents. Von einem christlichen Europa muss aber immer in dem Sinn die Rede sein, dass die christlichen Prägekräfte unverkennbar und bleibend in die Fundamente unseres gemeinsamen Lebens eingelassen sind; sie beruhen ihrerseits auf der Glaubensgeschichte des jüdischen Volkes, dem Jesus von Nazareth angehörte.

Von jüdisch-christlichen Prägekräften spreche ich, nicht, wie es so häufig geschieht, vom „jüdisch-christlichen Erbe“. Ein Erbe steht nur zur Verfügung, wenn es einen Erblasser gibt, der, weil sein Leben zu Ende ging, seinen Nachkommen dieses Erbe hinterlassen hat. So kann ich die Geschichte des Christentums in Europa nicht deuten. Es ist nicht bloß ein Erbe, das uns hinterlassen wurde, sondern eine lebendige Überlieferung, die uns anvertraut ist. Es handelt sich nicht um ein Erbteil, dessen Konturen blass geworden sind, sondern um einen Lebensvollzug, nach dessen Profil neu gefragt wird. Auch in Europa wächst in diesen Jahren die Frage nach dem, was unserem Leben Halt und Hoffnung gibt. Wir Christen sind nach unserer Antwort gefragt.

Diese Antwort ist vielgestaltig. Die drei großen Grundgestalten, welche die Christenheit im Lauf ihrer Geschichte angenommen hat, sind in Europa auf engstem Raum versammelt. Ja, die Ausbildung dieser drei Grundgestalten hat die europäische Geschichte tief und bleibend geprägt. Die orthodoxe Gestalt des gefeierten Glaubens, des Zusammenklangs von Gott und Mensch in der Liturgie, der bruchlosen Anknüpfung an die Sprache der Kirchenväter ist die eine dieser Grundgestalten. Die römisch-katholische Kirche, auf den Bischof von Rom als Oberhaupt zentriert und von ihm her wie auf ihn hin hierarchisch verfasst, auf die Wahrung und Erneuerung der Einheit verpflichtet, ist die zweite dieser Grundgestalten. Die Kirchen der Reformation, konzentriert auf das vierfache Allein des einen Herrn Jesus Christus, der Schrift als alleinigen Maßstabs, der Gnade als alleiniger Quelle menschlicher Anerkennung vor Gott, des Glaubens als der einzigen Weise, vor Gott zu treten, bilden die dritte dieser Grundgestalten.

Die Kirchen der Reformation haben in besonderer Weise die politische wie die kulturelle, die wissenschaftliche wie die wirtschaftliche Entwicklung der Moderne beeinflusst und sich von ihr beeinflussen lassen; sie haben in besonderer Weise die Freiheit wie die Verantwortung des einzelnen hervorgehoben; sie haben aus der Anerkennung der gleichen Würde von Frauen und Männern schließlich auch die notwendigen Folgerungen für die Gestalt des kirchlichen Amtes und für die Leitung der Kirche gezogen. Sie existieren in volks- und landeskirchlicher wie in freikirchlicher Gestalt; sie haben aber auch erkannt, dass Zersplitterung und Flügelbildung keineswegs zu den Tugenden reformatorischer Kirchen zu zählen sind. Sie haben deshalb damit begonnen, als Kirchen der Reformation zusammenzurücken, das Gemeinsame zu stärken und den jeweiligen Auftrag in einen weiteren Horizont zu rücken.

Auf diesem Weg ist die Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa entstanden. Indem sie das evangelische Profil in Europa und für Europa erkennbar macht, dient sie einer doppelten Aufgabe: Sie fördert den evangelischen Beitrag zu dem Fundament, auf dem Europa steht. Und sie fördert die ökumenische Gemeinschaft, indem sie dem evangelischen Beitrag zur Ökumene eine klare Kontur gibt. Das eine ist so nötig wie das andere.

Natürlich ist die ökumenische Situation der Gegenwart komplexer, als ich sie mit dem idealtypischen Bild der drei Grundgestalten christlicher Kirchen dargestellt habe. Evangelikale Gemeinschaften, pentekostale Neubildungen und charismatische Bewegungen stellen neue Herausforderungen dar. Die Kirchen der Reformation werden durch sie vor die doppelte Frage gestellt, was sie von diesen Strömungen in sich selbst aufnehmen und integrieren können und worin angesichts solcher neuer Strömungen ihr eigenes und unverkennbares Profil besteht. Wir wären miteinander gut beraten, uns dieser Aufgabe zu stellen. Der ökumenische Austausch und gemeinsame ökumenische Herausforderungen sind deshalb von großer Bedeutung.

Auch die europäische Situation ist komplexer, als ich sie mit dem doppelten Akzent von Erweiterung und Vertiefung beschrieben habe. In manchen Hinsichten lässt sich gegenwärtig eine Phase der Ernüchterung beobachten. An der eigenen Nation orientierte Akzente finden wieder verstärkt Gehör. Der europäische Verfassungsprozess ist ins Stocken geraten. Wohin die Reise in den nächsten Jahren geht, ist noch nicht ausgemacht. Dennoch ist Europa eine Schicksalsgemeinschaft. Seine Verantwortung in den Konflikten unserer Zeit muss es verstärkt gemeinsam wahrnehmen; seinen Ort im weltweiten wirtschaftlichen Wettbewerb muss es gemeinsam finden; über seine kulturellen Wurzeln muss es sich gemeinsam verständigen.

II.

Eine starke Gemeinschaft der evangelischen Kirchen in Europa erweist sich heute auf eine neue Weise als dringlich. Europa braucht die reformatorische Botschaft von der Freiheit eines Christenmenschen, die in die verbindliche Zuwendung zu Gott und zum Mitmenschen führt. Budapest ist ein guter Ort dafür, über die Aktualität dieser Botschaft nachzudenken. Im Jahr 1992 fand hier die Europäische Evangelische Versammlung statt, die sich bereits dieser Aufgabe stellte. Eberhard Jüngel hat bei dieser Zusammenkunft einen programmatischen Vortrag gehalten. An seine Beschreibung des evangelischen Profils knüpfe ich heute bewusst an; das geschieht in der Gestalt von fünf Akzentsetzungen.

Evangelisches Glaubensverständnis hat seine Mitte darin, dass Jesus Christus die über Leben und Tod entscheidende Wahrheit ist. Zu deren Kraft bekennt sich das Johannesevangelium mit der Aussage: Ihr werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen (Johannes 8, 32). Evangelisches Christsein orientiert sich also an der Wahrheit, die Jesus Christus in Person ist. Weil er die Wahrheit ist, ist er der Herr der christlichen Existenz ebenso wie der Herr der Kirche. In diesem sehr präzisen Sinn bekennt sich eine evangelische Kirche zum kyrios Iesous, zum Dominus Iesus. Das Bekenntnis zu dieser Wahrheit markiert nicht nur den Unterschied zwischen Kirche und Welt, sondern ebenso auch die Unterscheidung zwischen Christus, der diese Wahrheit ist, und der Kirche, die dieser Wahrheit dient.

Diese Wahrheit wird – das ist der zweite Grundzug – als befreiende Macht erfahren. Sie befreit aus der Lebenslüge, als könnten wir unser Leben selbst herstellen und dessen Sinn selbst produzieren. Sie befreit zu der Einsicht, dass der Mensch mehr ist, als wir im Bild des homo faber, des sich und seine Welt selbst erschaffenden Menschen denken. Der Mensch ist mehr, als er selbst aus sich macht. Er ist deshalb weder mit seinen Taten noch mit seinen Untaten identisch. Er ist das Lebewesen, das beständig über sich selbst hinausweist. Er ist von der Hoffnung getragen, dass er, indem er sich selbst übersteigt, nicht nur auf sich selbst trifft. Darin, dass er von Gott geliebt und anerkannt ist, findet er die Wahrheit wie den Frieden seines Lebens.

Indem Gottes Wahrheit uns – das ist der dritte Grundzug – in dem Menschen Jesus von Nazareth begegnet, tritt uns die Berufung zum Menschsein entgegen. Von Gott wird jede und jeder als menschlicher Mensch angesprochen, als eine von Gott definitiv anerkannte und mit einer unverlierbaren Würde begabte Person. Die Würde, die jedem Menschen zukommt, kann durch keine menschliche Tat überboten und durch keine menschliche Untat zerstört werden. Weil es sich so verhält, kommt diese Würde nicht nur der Menschheit als Gattung, sondern in unantastbarer Weise jedem einzelnen Menschen zu. Die darin begründete Hochschätzung des einzelnen Menschen bringt evangelischer Glaube ins Gespräch der Gegenwart ein. Sie ist von Gewicht sowohl im Gespräch der christlichen Konfessionen wie im Gespräch mit dem Islam und anderen religiösen Überzeugungen. Freilich ist diese Hochschätzung des einzelnen Menschen, der in seiner Einmaligkeit von Gott geliebt und anerkannt ist, grundsätzlich wie praktisch deutlich zu unterscheiden von einem Individualismus, der gerade von der Vorstellung geprägt ist, als sei jeder Mensch der Herr des eigenen Lebens und insofern auch nur sich selbst verantwortlich.

Die protestantische Hochschätzung menschlicher Verantwortung und menschlicher Leistung gründet nicht in der Vorstellung, sich durch Eigenverantwortung selbst produzieren oder durch eigene Leistung selbst sichern zu können. Sie gründet vielmehr – und das ist der vierte Grundzug – in dem Dank für die uns anvertrauten Gaben, von denen wir in Freiheit einen verantwortlichen Gebrauch machen können. Evangelische Ethik ist eine Ethik der Dankbarkeit und zugleich eine Ethik verantworteter Freiheit. Sie drängt deshalb auf Lebensformen, in denen beides Raum finden kann: Dankbarkeit und verantwortete Freiheit. Dankbarkeit drängt auf das Gotteslob und braucht deshalb einen Raum der persönlichen Glaubensfreiheit wie der gemeinschaftlichen Religionsfreiheit, in dem dieses Gotteslob laut werden kann. Verantwortete Freiheit drängt auf eine Gestalt der Gesellschaft, in der gerechte Teilhabe möglich ist. Dass sich alle an der Gestaltung des gemeinsamen Geschicks beteiligen können, ist ein Grundimpuls des evangelischen Glaubens. Die Verbürgung von Grundfreiheiten und die Ermöglichung von demokratischer Mitwirkung liegen genauso in der Richtung dieses Grundimpulses wie die Ermöglichung von wirtschaftlicher Teilhabe in einer Gesellschaft, in der für Gerechtigkeit und Solidarität Raum ist. In all dem und über all dem bilden der Respekt für die Integrität des anderen Menschen und damit der Verzicht auf Gewalt sowie eine tragfähige Gestalt des gemeinsamen Lebens – also der Frieden unter den Menschen und die Bewahrung der Natur – den unerlässlichen Horizont verantworteter Freiheit.

Eine Kirche, die aus der befreienden Wahrheit lebt, die in Jesus Christus als Person begegnet, ist eine Kirche der Freiheit. Das ist der fünfte und letzte Grundzug, den ich heute hervorheben möchte. Die Kirche der Freiheit ist dadurch geprägt, dass das Gotteslob, das der ganzen Gemeinde anvertraut ist, in Freiheit erklingt. Die Taufe ist die Ordination zu diesem Gotteslob; Frauen und Männer haben an ihm Anteil; die Gemeinde und das ordinierte Amt sind an ihm in gleicher Weise beteiligt. Kirche der Freiheit ist sie, weil sie sich den Herausforderungen ihrer jeweiligen Zeit stellt und ihre Antworten auf die Fragen der Zeit vor der Botschaft der Heiligen Schrift verantwortet. Kirche der Freiheit ist sie, weil sie jeden Getauften dazu befähigen möchte, seinen Glauben zu verantworten und Rechenschaft abzulegen von der Hoffnung, die in ihm ist. Verantwortete Freiheit ist nicht nur der Grundzug evangelischer Existenz in der Welt, sie bestimmt zugleich das Profil einer evangelischen Kirche. Wir haben deshalb in der Evangelischen Kirche in Deutschland den kirchlichen Reformprozess, den wir angesichts der gegenwärtigen Herausforderungen in Gang bringen wollen und zu dem wir gerade ein Impulspapier veröffentlicht haben, unter den Leitbegriff der Kirche der Freiheit gestellt.

III.

Wie selbstverständlich habe ich schon in den bisherigen Überlegungen den Begriff des Profils verwendet. Im kirchlichen Gebrauch begegnet er in der jüngsten Vergangenheit häufiger als früher. Auch ich habe immer wieder auf ihn zurückgegriffen. So habe ich in der jüngsten Vergangenheit verschiedentlich gesagt, dass wir uns in der Phase einer Ökumene der Profile befinden.

In dieser Formulierung liegt keine Einschränkung der ökumenischen Verpflichtung; sie beschreibt vielmehr ein unaufgebbares und unausweichliches Moment des ökumenischen Weges. Die Rede von einer Ökumene der Profile soll den ökumenischen Einsatz unserer Kirche auf neue Weise unterstreichen. Wir wollen das Gemeinsame stärken. Den einen Glauben haben wir zu bekennen, weil wir an den einen Herrn gebunden sind. Die eine Taufe feiern wir, weil uns der eine Geist bestimmt (vgl. Epheser 4,4-6). Aber wir sind auch zur Rechenschaft darüber verpflichtet, was wir jeweils aus der eigenen Überlieferung und dem eigenen Auftrag in das gemeinsame Zeugnis einbringen. Auch darüber müssen wir Auskunft geben, was uns – einstweilen – an voller und sichtbarer Kirchengemeinschaft hindert. Dabei muss auch zur Sprache kommen, warum wir auf die Frage, welche Form der Gemeinschaft heute schon möglich ist, unterschiedliche Antworten geben.

Dabei denke ich aus der Erfahrung unserer Kirche dankbar an die großen Schritte, die gelungen sind, vor allem an die Schritte zur Gemeinschaft am Tisch des Herrn, die zwischen evangelischen Landeskirchen und Freikirchen, aber auch mit der anglikanischen und der altkatholischen Kirche möglich geworden sind. Aber in anderen Hinsichten waren solche Schritte bisher nicht möglich. Es wäre ein Missverständnis von Ökumene, wenn solche Trennungen zwar andauerten, wir aber nicht erklären würden, warum. Die Aussage, normale Zeitgenossen könnten die Unterschiede zwischen den christlichen Kirchen sowieso nicht verstehen, ist nicht einmal im Ton der Resignation gerechtfertigt. Diese Unterschiede sind sehr wohl verständlich. Wir brauchen uns ihrer nicht einmal zu schämen – auch wenn wir alles uns Mögliche daran setzen, ihre trennenden Auswirkungen zu überwinden.

Im Blick auf dieses Ziel gibt es nicht nur wichtige Ergebnisse aus der Vergangenheit, die zu bewahren sind; die Überwindung der Lehrverurteilungen des 16. Jahrhunderts und den erreichten Konsens in der Frage der Rechtfertigungslehre nenne ich als Beispiele. Sondern es gibt auch in der gegenwärtigen Phase der Ökumene wichtige Ansätze und Vorhaben, deren Bedeutung nicht gering geschätzt werden sollte. So wollen wir beispielsweise in Deutschland zu einer Vereinbarung zwischen den Mitgliedskirchen der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen über die wechselseitige Anerkennung der Taufe kommen. Auch in den Gesprächen der GEKE mit der europäischen Baptistischen Föderation sowie mit den orthodoxen Mitgliedskirchen der Konferenz Europäischer Kirchen (KEK) ist das ein zentrales Thema. Andere Vorhaben stocken oder lassen sich in der zunächst geplanten Form nicht durchführen. So erwies sich im deutschsprachigen Bereich ein ökumenisches Zusammenwirken bei der Revision der katholischen Einheitsübersetzung der Bibel als nicht realisierbar, weil die Kriterien für die Bearbeitung eines solchen Vorhabens auf katholischer und auf evangelischer Seite zu unterschiedlich sind.

Die beiden Beispiele illustrieren, dass wir es in der konkreten ökumenischen Arbeit mit beidem zu tun haben: mit Einheit und mit Vielfalt, mit Verschiedenheit und mit Versöhnung. Wenn die ökumenische Aufgabe deshalb als Einheit in Vielfalt oder als versöhnte Verschiedenheit beschrieben wird – zwei Ausdrucksweisen, die doch im Kern dasselbe besagen –, dann muss beides zusammen zum Thema werden: die Legitimität der Verschiedenheit wie der Grund und die Gestalt der Einheit.

Das Gemeinsame zwischen den christlichen Kirchen zu stärken, bleibt die erste ökumenische Aufgabe. In diesem Rahmen muss aber auch über unterschiedliche Auffassungen des christlichen Glaubens wie über unterschiedliche Typen des Kircheseins offen gesprochen werden. Die Wahrnehmung von Differenzen ist keine Absage an die ökumenische Verpflichtung, sondern bildet in ihr ein unaufgebbares Moment. Sie darf auch nicht von der Absicht geleitet sein, sich gegen den ökumenischen Partner und in Abgrenzung von ihm zu „profilieren“. Doch es wäre verkehrt, sich den Gründen zu verschließen, aus denen der Dialog über die jeweiligen Prägungen der unterschiedlichen Kirchenfamilien heute an Gewicht gewinnt. Die verstärkte Hinwendung des römisch-katholischen Interesses zu den orthodoxen Kirchen trägt dazu ebenso bei wie die Notwendigkeit, sich verstärkt mit evangelikalen und pflingstlerischen Strömungen zu beschäftigen. Solche Bemühungen können in wichtigen Fragen Übereinstimmungen zur Folge haben. Aber sie zielen zugleich darauf, dass Gemeinsamkeit auch in der Differenz bewahrt und gelebt werden kann.

Dies setzt freilich voraus, dass sich die Verschiedenen im Bewusstsein des Gemeinsamen respektieren. Versöhnte Verschiedenheit ist und bleibt ein Grundzug des ökumenischen Miteinanders. Wir halten an der Hoffnung auf ein wachsendes Maß an Gemeinschaft fest; das Bemühen darum muss weitergehen. Aber die Verweigerung des Respekts vor dem Kirchesein eines ökumenischen Partners ist kein geeignetes Mittel, die Gemeinschaft mit ihm wachsen zu lassen. Zum wechselseitigen Respekt zwischen ökumenischen Partnern, den Respekt vor den kirchlichen Ämtern des anderen eingeschlossen, gibt es keine Alternative.

In die Ökumene unserer Zeit bringen wir gern und zuversichtlich unser evangelisches Profil ein. Wir wollen es für das gemeinsame Zeugnis fruchtbar machen. Heute bezeugen wir das Evangelium in missionarischer Situation. Ökumenisch verbunden sind wir nicht zuletzt durch den Auftrag zu einem gemeinsamen Wirken nach außen. Dieses wird nicht geschwächt, wenn die bleibenden Unterschiede zwischen den Kirchen hervortreten und verständlich gemacht werden. Es wird vielmehr dann geschwächt, wenn die Kirchen zwar voneinander getrennt bleiben, aber niemand weiß, warum. Wenn die Kirchen in Europa auf je unterschiedliche Weise dazu beitragen, dass das eine Evangelium die Menschen erreicht, brauchen sie sich ihrer Unterschiede nicht zu schämen.

IV.

Papst Benedikt XVI. hat bei der ökumenischen Begegnung aus Anlass des Weltjugendtags in Köln am 19. August 2005 angeregt, bei der Weiterführung des ökumenischen Dialogs die Trias grundlegender Orientierungspunkte im Sinn zu behalten, die sich als Merkmale des altkirchlichen Konsenses nach der Auseinandersetzung mit der Gnosis herausgestellt haben: die Festlegung des Kanons der Heiligen Schrift, die Formulierung der regula fidei im altkirchlichen Bekenntnis und die Ausbildung einer Amtsstruktur, orientiert am monarchischen Episkopat.

Ein Blick auf diese drei Themen zeigt schnell, dass der Konsens hinsichtlich der Bedeutung der Heiligen Schrift und ihres Kanons sowie im Blick auf die Bedeutung der altkirchlichen Bekenntnisse sehr viel weiter entwickelt ist als im Blick auf die Amtsfrage. Die Unterschiede in der Amtsfrage freilich haben erhebliche Auswirkungen auf Verständnis und Praxis der Eucharistie, auf das Verhältnis von Männern und Frauen in der Kirche und auf manche anderen Fragen.

In der Amtsthematik deuten manche Zeichen derzeit eher auf auseinander laufende als auf zusammenführende Tendenzen. Das Jahr 2005 wird auf längere Zeit als ein Jahr im Gedächtnis bleiben, in dem sich die katholische Kirche in einem herausgehobenen Sinn als Papstkirche erwiesen hat. Nun haben die Päpste der jüngsten Vergangenheit sich selbst zu der Einsicht bekannt, dass das Papstamt zu den großen Hindernissen auf dem Weg zur Einheit zu zählen ist. Kardinal Lehmann hat auf diese Äußerungen der Päpste seit Johannes XXIII. bei einer gemeinsamen Diskussion zu dieser Thematik auf dem Katholikentag in Saarbrücken im Juni dieses Jahres ausdrücklich hingewiesen.

Auf evangelischer Seite wiederum gibt es eine Entwicklung, die auf eine erneute Profilierung des evangelischen Amtsverständnisses vom Priestertum aller Glaubenden her hinausläuft. Die konstruktive Verhältnisbestimmung zwischen der Ordination zur öffentlichen Verkündigung des Evangeliums und zur Verwaltung der Sakramente und der besonderen Beauftragung zu Wortverkündigung und Sakramentsverwaltung auf Zeit und für einen bestimmten Ort (pro loco et tempore) bildet den Anlass zu diesem Klärungsprozess. Die Schärfe, in der diese Bemühungen von katholischer Seite als Abkehr von einem bereits erreicht geglaubten Konsens kritisiert werden, muss zu denken geben. Die große Frage heißt, ob solche Unterschiede im Amtsverständnis in wechselseitigem Respekt für das Amt in der jeweils anderen Kirche interpretiert werden können. Dafür wird es entscheidend sein, ob eine positive Verhältnisbestimmung des jeweiligen Verständnisses von apostolischer Sukzession gelingen wird.

Diese Frage beschäftigt uns nicht nur im Verhältnis zu der römisch-katholischen Kirche, sondern auch – trotz aller Lehrgesprächsergebnisse – in den Dialogen unter den Signatarkirchen der GEKE wie auch mit den Kirchen der Porvoo-Gemeinschaft. Insofern gibt es zu diesen Themen weiterhin dringenden Klärungsbedarf auch unter den reformatorischen Kirchen.

V.

Zur Ökumene der Profile gehört unabdingbar die Ernsthaftigkeit, die jeweils für unsere Kirchen unaufgebbaren theologischen Einsichten auszusprechen und zu vertreten. Eine Ökumene der Profile ist wahrheitsorientiert, sie will das benennen, was den Vätern und Müttern unseres Glaubens unveräußerlich war. Es sollen nicht alte, schon überwundene Gegensätze künstlich wieder belebt werden, um sich zu profilieren. Wohl aber sollen zentrale, für den jeweiligen Glauben unhintergehbare Einsichten ebenso fair wie klar benannt werden. Eine präzise Beschreibung dieser Einsichten ist darum der erste Beitrag zu einer Ökumene der Profile.

In diese Bemühungen bringen die Kirchen der Reformation ihre eigenen Lernerfahrungen mit ein. Die reformatorischen Kirchen haben 1973 mit der Leuenberger Konkordie ein Grundmodell der Kirchengemeinschaft entwickelt. Dieses Einheitsmodell achtet die Verschiedenheit der Kirchen, ohne die Übereinstimmung im Grundsätzlichen zu vernachlässigen.

Diese Orientierung an gemeinsamen Ausgangspunkten ist keine willkürliche Festlegung reformatorischer Kirchen; sie gründet sich vielmehr auf denjenigen Abschnitt des Epheserbriefs, den man ebenso wie das Gebet um die Einheit im Hohepriesterlichen Gebet Jesu als neutestamentlichen Bezugspunkt aller ökumenischen Bemühungen im Gedächtnis behalten sollte. Dort (Epheser 4, 3–6) heißt es: Seid darauf bedacht zu wahren die Einigkeit im Geist durch das Band des Friedens: ein Leib und ein Geist, ... ein Herr, ein Glaube, eine Taufe; ein Gott und Vater, der da ist über allen und durch alle und in allen. Hier erscheint die Einheit nicht als das Ergebnis unserer kirchlichen Bemühungen und ökumenischen Anstrengungen, sondern als eine im Glauben und im kirchlichen Bekenntnis vorgegebene und anerkannte Wirklichkeit.

Nun wurde von hoher römisch-katholischer Autorität zu dem Verständnis von Kirchengemeinschaft in evangelischer Perspektive folgende Kritik formuliert: Die katholische Kirche wolle wirkliche Einheit in der Verschiedenheit, also eine Einheit im Glauben, in den Sakramenten und im apostolisch begründeten Bischofsamt. Dagegen habe sich auf der evangelischen Seite  eine Auffassung durchgesetzt, die man als Verschiedenheit ohne wirkliche Einheit bezeichnen müsse. Denn es genüge zur Einheit ein gewisser Grundkonsens hinsichtlich des Evangeliums und der Sakramente, im übrigen aber seien nicht nur vielfältige Ausdrucksformen, sondern auch gegensätzliche Positionen vor allem im Verständnis und in der Gestalt der Ämter möglich. Wenn aber ein solches Nebeneinander unterschiedlicher, ja gegensätzlicher Kirchenformen als Ökumene der Profile definiert werde, dann  sei das entschieden zu wenig. Damit täusche man etwas vor, was in Wirklichkeit nicht existiere.

Mir erscheint es ökumenisch nicht als weiterführend, die Kirchengemeinschaft der evangelischen Kirchen in Europa als unwirklich zu qualifizieren. Es kann ja durchaus sein, dass im römisch-katholischen Raum eine ganz spezifische Definition von Einheit in der Vielfalt vorherrscht; eine solche römisch-katholische Auffassung ist freilich bisher nicht verbindlich definiert. Aber eine Qualifizierung anderer Einheitsvorstellungen als unwirkliche Einheit lässt doch zu sehr den Eindruck entstehen, es gebe eine Einheit in der Vielfalt nur zu römisch-katholischen Bedingungen.

VI.

Die Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa hat sich nicht nur darauf verpflichtet, die Verbundenheit untereinander und das gemeinsame Glaubenszeugnis zu vertiefen. Sie will zugleich Evangelische Stimme in Europa sein. Die letzte Vollversammlung der GEKE in Belfast hat deshalb beschlossen, die theologischen und ethischen Aspekte und die humanitären Konsequenzen politischer Entscheidungen aus der Sicht des Evangeliums gemeinsam zu erörtern, in grundlegenden Fragen die protestantischen Stimmen zu bündeln und sie in der europäischen Öffentlichkeit zur Sprache und zu Gehör zu bringen. Dadurch soll die Gemeinschaft evangelischer Kirchen in Europa (GEKE) in die Lage versetzt werden, profilierter und zeitnaher als bisher in aktuellen wichtigen Fragen der Politik, der Gesellschaft und der Ökumene ein deutliches evangelisches Zeugnis abzulegen und insbesondere die Präsenz der evangelischen Kirchen auf europäischer Ebene auszubauen. Hierbei sind auch die bereits vorhandenen Strukturen und Kooperationen, insbesondere mit der Konferenz Europäischer Kirchen (KEK), zu nutzen und zu vertiefen.

Um in der Öffentlichkeit sichtbar zu werden oder zu bleiben, bedarf es einer klaren und gut erkennbaren Identität. Das ist für die reformatorischen Kirchen in gewisser Hinsicht schwieriger als für andere. In dieser Schwierigkeit liegt eine Kehrseite ihrer Stärken, zum Beispiel ihrer Bereitschaft zur kritischen Erneuerung der Kirche selbst wie ihrer Fähigkeit, sich produktiv auf die Herausforderungen der Gegenwart und die jeweiligen Probleme der Menschen einzulassen. Mit dem Gedanken des Priestertums aller Glaubenden verbindet sich die Verpflichtung, kirchenleitende Aufgaben synodal wahrzunehmen und der innerkirchlichen Pluralität Raum zu geben. Die Beteiligung der evangelischen Kirchen an der politischen Entwicklung der Neuzeit hatte schließlich zur Folge, dass die evangelischen Kirchen weithin national verfasst sind; das macht es nicht leicht, eine gemeinsame Urteilsbildung auf europäischer Ebene mit der wünschenswerten Autorität auszustatten und ihr so die nötige Aufmerksamkeit im politischen Raum zu sichern. Das sind Probleme, mit denen man sich nüchtern und ernsthaft auseinander setzen muss; sie sind aber kein zureichender Anlass dazu, Grundprinzipien des evangelischen Selbstverständnisses außer Kraft zu setzen – ganz abgesehen, dass es die Instanz, die das vermöchte, gar nicht gibt.

Was auf den ersten Blick als möglicher Nachteil für die politische Durchschlagskraft des Protestantismus erscheinen mag, kann sich auf einen zweiten Blick als Stärke erweisen. Reformfähigkeit, gestaltete Vielfalt, der Verzicht auf eine zentralisierte und hierarchische Organisationsstruktur sind Kennzeichen, die sich im Blick auf die Herausforderungen unserer Zeit als chancenreich erweisen. Weitsichtige Kritiker mahnen beispielsweise für den europäischen Integrationsprozess verbesserte Beteiligungs- und Einflussmöglichkeiten an; eine Kirche, die selbst durch aktive Beteiligungsstrukturen geprägt ist, hat besondere Chancen, einen solchen Prozess zu fördern.  Das setzt jedoch voraus, dass die evangelischen Kirchen bereit sind, die Erfahrungen und Stärken zu nutzen, die sie aufgrund ihres Selbstverständnisses und ihrer eigenen Akzentuierung des christlichen Glaubens einbringen können.

Ein solcher Beitrag hat freilich zur Bedingung,  dass die evangelischen Kirchen auch im eigenen Bereich Beteiligungsstrukturen aufrecht erhalten und weiter entwickeln. Ebenso gehört zu ihm, dass sie einer an der biblischen Botschaft und ihrer Auslegung ausgerichteten und zugleich gewissensbestimmten Pluralität Raum geben und diese nicht im Namen eines evangelischen Fundamentalismus ausgrenzen. Dass Glaubensgewissheit in der Freiheit eines Christenmenschen gelebt werden kann, sollte auch in Zukunft zu den grundlegenden Kennzeichen evangelischer Kirchen gehören. An dem Mut, sich mit gegenläufigen Entwicklungen auseinanderzusetzen, sollten sie es nicht fehlen lassen.

Unter einem solchen Gesichtspunkt sind es allerdings gegenwärtig Entwicklungstendenzen, die beunruhigen. Drei derartige Entwicklungstendenzen hebe ich besonders hervor.

Es gibt auch in evangelischen Kirchen eine Tendenz zur Konfessionalisierung, zur Nationalisierung und zum Fundamentalismus. Kirchen suchen ihre Identität vermehrt durch eine dezidiert konfessionell begründete Abgrenzung. Dies führt leicht zu Abspaltungen und zur Bildung vielfältiger kirchlicher Gruppierungen.

In ihrem Selbstverständnis beziehen sich viele Kirchen ausdrücklich auf die nationale bzw. ethnische oder sprachliche Herkunft ihrer Mitglieder. Auch kleinste Minderheiten streben dabei eine eigene, unabhängige Kirche an und beziehen sich dabei häufig auf eine spezifische Herkunft und Geschichte.

In den Stellungnahmen zu ethischen Fragen sind manche Kirchen angesichts neuer gesellschaftlicher Orientierungsprobleme durch die Aufstellung rigider Normen und damit durch eine Dogmatisierung bestimmter ethischer Themen geprägt.

In solchen Entwicklungen zeigt sich die Suche nach der eigenen Identität und einer ihr entsprechenden Lebensform in einer Zeit des Wandels. Nach Jahrzehnten der Unterdrückung und der Marginalisierung suchen Kirchen ihr Profil durch Abgrenzung zu schärfen. Diese Abgrenzung richtet sich bisweilen auch auf westlich-liberale Tendenzen, die man im Bann eines allgemeinen Relativismus und Säkularismus sieht. Doch allzu leicht geraten dabei persönliche Freiheit und Menschenrechte, ökumenische Verbundenheit und kirchliche Friedensverantwortung in den Ruf, Themen einer vergangenen Epoche zu sein. Ihnen werden als theologische Themen der Zeit Identität und Bekenntnis, Konfession und Amt entgegengestellt.

Doch der reformatorische Auftrag unserer Kirchen wird damit zu eng bestimmt. Die klare Kontur einer am biblischen Zeugnis orientierten kirchlichen Identität verbindet sich in diesem Auftrag mit der Verantwortung in der Welt. Die christliche Existenz wird als eine Antwort auf den Ruf Gottes beschrieben, die sich in der Liebe zum Nächsten bewährt. Die Befreiung des Glaubens von einer Bevormundung durch die Vernunft mündet in eine Freiheit aus Glauben, die gerade dazu ermächtigt, die Welt vernünftig zu begreifen und zu gestalten. Von der Tyrannei des Zeitgeistes sollten wir uns als reformatorische Kirchen frei halten. Doch wir sollten den Beitrag der reformatorischen Kirchen zur Freiheitsgeschichte der Neuzeit, auch zu den Befreiungserfahrungen unserer eigenen Generation nicht gering schätzen. Auch in der Erfahrung politischer Freiheit können wir deshalb einen Widerschein der Freiheit erkennen, zu der uns Christus befreit hat.

Auf diesem Hintergrund brauchen wir auch in der Vielgestaltigkeit des europäischen Protestantismus nicht den Ausdruck einer Beliebigkeit zu sehen; wir können diese Vielgestaltigkeit vielmehr so weiterentwickeln, dass sie zu einer Ausdrucksform evangelischer Freiheit wird. Dafür müssen wir allerdings die Verbindlichkeit dieser Freiheit achten. Wenn die Vielgestaltigkeit in Separatismus und Eigenbrötelei mündet, wenn Konfessionalismus sich in Enge und Abgrenzung erschöpft, wird ein Neuaufbruch zu evangelischer Freiheit nötig. Sie ist dadurch geprägt, dass sie in die Verantwortung führt – in die Verantwortung für Weg und Gestalt der Kirche ebenso wie in die Verantwortung für die Zukunftsfähigkeit und die Menschlichkeit der Gesellschaft, in der wir leben.

Von den Kirchen der Leuenberger Kirchengemeinschaft hat die Vollversammlung in Belfast, gesagt, sie handelten aus der Verpflichtung heraus, der ökumenischen Gemeinschaft aller christlichen Kirchen zu dienen. Heute müssen wir mit Dringlichkeit fragen, welche Funktion und Struktur die europäische Zusammenarbeit im Rahmen der Konferenz Europäischer Kirchen und ihrer Kommission für Kirche und Gesellschaft haben soll und wie sie sich zur Europaarbeit der weltweiten ökumenischen Zusammenschlüsse und konfessionellen Weltbünde verhält. Auf europäischer und auf Weltebene besteht eine erhebliche Spannung zwischen der Sicherung der eigenen konfessionellen Identität und dem gemeinsamem Zeugnis in einer die verschiedenen christlichen Traditionen übergreifenden Gemeinschaft. Für die Mitgliedskirchen der GEKE nimmt diese Spannung unter Umständen höchst unterschiedliche Formen an. Dafür sind weniger konfessionelle Faktoren oder unterschiedliche ökumenische Geschwindigkeiten, sondern eher regionale Besonderheiten und politische Traditionen, die Stellung als Mehrheits- oder Minderheitskirchen und die Auseinandersetzung mit der eigenen Gesellschaft ausschlaggebend. Die Kirchen in Europa müssen sich darüber abstimmen, zu welchen Themen und Fragestellungen spezifisch innerprotestantischer Klärungsbedarf besteht und zu welchen Themen sie ihren Beitrag in die ökumenische Verständigung einbringen. Die dritte Europäische Ökumenische Versammlung in Hermannstadt steht als Bewährungsprobe in dieser Hinsicht unmittelbar bevor. Nur eine selbstbewusste GEKE, die sich solchen Aufgaben stellt, wird den inneren Anforderungen wie den äußeren Herausforderungen durch das neu gestaltete Europa gerecht werden können.

VII.

Leider ist es noch immer nicht in allen europäischen Ländern selbstverständlich,  dass die evangelischen Kirchen ihrem doppelten Auftrag in gleicher Weise nachkommen können: den christlichen Glauben zu verkündigen und aus dem Geist christlicher Liebe heraus in die Gesellschaft zu wirken. Auf den europäischen Prozess wie auf die Entwicklungen in einzelnen Ländern sollten wir so einzuwirken versuchen, dass diese beiden Aufgaben in ihrer inneren Zusammengehörigkeit immer deutlicher wahrgenommen werden. Der Artikel 52 im Entwurf der Europäischen Verfassung ist dafür ein wichtiger Bezugspunkt. Er soll gewährleisten, dass durch europäisches Gesetz nicht in die nationale Gestaltung des Staat-Kirche-Verhältnisses – solange es die individuelle und kollektive Religionsfreiheit aller Menschen in einem Staat respektiert – eingegriffen werden kann. Aber die Europäische Verfassung soll zugleich gewährleisten, dass die Stimme der christlichen Kirchen wie anderer Religionsgemeinschaften auch auf der Ebene der europäischen Institutionen wirksamer zu Gehör kommen kann. Aber es liegt an den Kirchen selbst, gemeinsam deutlich zu machen, dass ihr Beitrag zu einem Europa in Gerechtigkeit und Frieden unverzichtbar ist.
Was können die evangelischen Kirchen dazu beitragen? Ich nenne fünf Punkte:

1. Freiheit und Verantwortung

In einer Zeit, in der sich ein individualistisches Freiheitsverständnis unverkennbar in Sackgassen verrannt hat, ist es eine besondere Aufgabe evangelischer Kirchen, eine Lebensform vorbildhaft zur Anschauung zu bringen, in der Freiheit und Verantwortung, Selbstbestimmung und Verlässlichkeit sich miteinander verbinden. Das übrigens ist der Gesichtspunkt, unter dem das christliche Ja zur Familie in der Vielfalt ihrer Formen gerade heute an der Zeit ist. In einer Zeit, in der wir mit guten Gründen nach den ethisch zu verantwortenden Grenzen für Forschungsmethoden wie für den Einsatz von Forschungsergebnissen der modernen Lebenswissenschaften fragen, ist es besonders wichtig, deutlich zu machen, dass dies im Horizont der reformatorischen Tradition auf der Grundlage eines klaren Ja zur forschenden Durchdringung der Welt, ja auf der Grundlage eines Bündnisses von Glauben und Wissenschaft, Glauben und Bildung, Glauben und Aufklärung geschieht

2. Brücken bauen

Die protestantische Tradition ist vom Respekt für den Pluralismus der Überzeugungen geprägt und betont den offenen und ernsthaften Dialog. Unterschiede sind im Sinne einer wechselseitigen Bereicherung zu verstehen und zur Geltung zu bringen.

Interessant ist, dass auch in der politischen Diskussion in Europa der Begriff einer Einheit in Vielfalt immer häufiger verwendet wird. Dieser Begriff hat auch in der kirchlichen Diskussion in Entsprechung zu dem Begriff der versöhnten Verschiedenheit als Modell der Kirchengemeinschaft einen festen Ort.

Die Kirchen bringen sich in den europäischen Integrationsprozess ein, indem sie unter anderem durch grenzüberschreitende Partnerschaftsarbeit Gestalt und Gehalt, Auftrag und Ziel des europäischen Einigungsprozesses thematisieren.
Wenn dabei Grenzen überschritten werden, wird dadurch zugleich das Bewusstsein dafür wach gehalten, dass Europa sich nicht auf die Grenzen der Europäischen Union beschränkt.

3. Konsens suchen und Dissens aushalten

Die dynamische Spannung zwischen Tradition und Innovation ist grundlegend für die evangelischen Kirchen. Protestanten wissen, dass die kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte und Tradition notwendig ist, wenn Wege der Erneuerung gefunden werden sollen.

Dissense auszuhalten und den Konsens zu suchen: diese Offenheit ist für evangelische Kirchen eine unumgängliche Voraussetzung dafür, handlungsfähig zu werden und öffentlich wahrnehmbar zu sein. Jede Kirche steht heute in der Pflicht, zur Verbindlichkeit des Redens und Handelns durchzudringen. Das gilt erst recht angesichts der Herausforderungen, vor denen die evangelischen Kirchen in Europa gemeinsam stehen.

4.  Eine Theologie der Versöhnung anbieten

Ein entscheidender Impuls dafür, dass die Gemeinschaft evangelischer Kirchen in Europa entstand, liegt in der Versöhnungsaufgabe, vor der die Kirchen nach den Katastrophen der beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts standen.

Wer die Wirklichkeit mit dem Blick der Versöhnung sieht, nimmt Spannungen zwischen Menschen unterschiedlicher Prägungen wahr und auf. Versöhnung analysiert Ursachen der Verschiedenheit und sucht Wege der Veränderung. Sie zielt auf Ausgleich im Interesse eines größeren Ganzen.

Das reformatorische Verständnis der Rechtfertigung allein aus Gnade ist im letzten halben Jahrhundert zur Grundlage einer Theologie der Versöhnung geworden, welche die reformatorischen Kirchen verstärkt  in den Prozess der europäischen Integration einbringen können.

5. Zur Gemeinschaft befähigen – Menschen bilden

Die evangelische Gestalt des christlichen Glaubens ist am Leitbild des mündigen Christen orientiert. Sie sieht deshalb in der Mündigkeit des modernen Menschen keine Bedrohung des christlichen Glaubens, sondern eine Folge aus ihm. Daraus folgt die Pflicht, Bildungsprozesse zu ermöglichen die Menschen dazu befähigen, eine religiöse Identität auszubilden, von ihr Rechenschaft ablegen und andere religiöse Haltungen verstehen zu lernen. Neue Initiativen zur Familienbildung, Bildung im Elementarbereich, Schulen in kirchlicher Trägerschaft, evangelischer Religionsunterricht, Kinder- und Jugendarbeit und Erwachsenenbildung sind Handlungsfelder, in denen Menschen ihr Verhältnis zum eigenen Glauben klären und zugleich befähigt werden, sich an demokratischer Verantwortung in Europa und für Europa zu beteiligen.

Es ist unter diesem Gesichtspunkt zu bedauern, dass in dem EU-Programm Active European Citizenship viele Partner genannt werden, nicht aber die Kirchen. Sie werden zwar in Konzepten zur Weiterbildung in Europa, zur Neubewertung der Rolle der Religionen oder zur Prävention religiöser Konflikte genannt. Aber als Träger von Bildungsprozessen, die auf die Beteiligung mündiger Bürgerinnen und Bürger gerichtet sind, treten sie im Bewusstsein der europäischen Institutionen bisher nicht in den Blick. Wir sollten uns gemeinsam dafür einsetzen, dass sich das ändert.

Auf solchen Wegen können die evangelischen Kirchen in Europa ihren Beitrag zu einer Aufgabe leisten, die 2001 in der Charta Oecumenica für alle christlichen Kirchen in Europa folgendermaßen formuliert wurde: Die Kirchen fordern eine Einigung des europäischen Kontinents. Ohne gemeinsame Werte ist die Einheit dauerhaft nicht zu erreichen. Wir sind überzeugt, dass das spirituelle Erbe des Christentums eine inspirierende Kraft zur Bereicherung Europas darstellt. Aufgrund unseres christlichen Glaubens setzen wir uns für ein humanes und soziales Europa ein, in dem die Menschenrechte und Grundwerte des Friedens, der Gerechtigkeit, der Freiheit, der Toleranz, der Partizipation und der Solidarität zur Geltung kommen. Wir betonen die Ehrfurcht vor dem Leben, den Wert von Ehe und Familie, den vorrangigen Einsatz für die Armen, die Bereitschaft zur Vergebung und in allem die Barmherzigkeit.