Festrede anlässlich der 10. Templeton-Preisverleihung, Berlin

Petra Bahr

Die Gemäldegalerie, in der wir heute die 10. Templeton-Preisverleihung feiern, ist mehr als ein willkürliches Dach über dem Kopf und auch mehr als eine „coole Location“. Auf den ersten Blick ist so ein Museum abendländischer Kunst allerdings ein ziemlich gewagter Ort für ein Filmpreisjubiläum. Stehen hier nun lauter Cineasten, die nebenher ganz schamlos den Triumph der neuen über die alte Kunst feiern? Das Kino ist nun mal die stärkste Mythenmaschine der Moderne und produziert auf ähnliche Weise innere und äußere Bilder, wie es die Malerei vor der Erfindung des Cinematographen über Jahrhunderte getan hat: Als Spiegel unserer Existenz und ihrer Zerreißproben, als Moralanstalt, als Biblia Pauporum, als Unterhaltung, Geschichtsdrama und als Gesellschaftskritik, vor allem aber als visuelle Erzählkunst, die imposante Bilder erfindet, auf die man selbst immer nur fast gekommen wäre. Diese Bilder schaffen es, in einem kurzen Augenblick eine lange und komplexe Geschichte zu erzählen, für die wir, wollten wir dafür eine Sprache finden, Tage und Nächte bräuchten, ohne zum Ende zu kommen. Bilder können nämlich vieles gleichzeitig erzählen. Und der Film leistet potenziert diese ungeheure Macht der Bilder.

Oder flüchten heute lauter Kinobegeisterte ins Haus der altehrwürdigsten Kunst, weil ihnen mit der Digitalisierung und den neuen Bilderzeugungsapparaten langsam klar wird, dass auch ihrem Lieblingsmedium bald ein neuer Generationswechsel ins Haus steht? Hoffen sie gar, hier als die jüngste Großkunst des Abendlandes unterzukommen, während es für das Kunstfilmgewerbe draußen auf dem freien Markt langsam zugig wird? Welche Motive Sie auch immer heute hierher geführt haben: das Kino und die exponierte Malerei des Abendlandes, wie sie hier ausgestellt wird, vertragen sich auf den ersten Blick nicht gut. Probt das Kino nicht den Sturm auf das abendländische Bildgedächtnis? Wildert es nicht ohne Sinn und Verstand in den Archiven? Zapfen die Filmemacher nicht die Reservoirs der Mythen und menschlichen Konstellationen so lange an, bis die Reservoirs leergefegt sind, weil alles verschleudert, verarbeitet, vermarktet und dann vergessen ist? Alexander Kluge hat den Film einmal einen „Angriff der Gegenwart auf die übrige Zeit“ genannt. Dieser Angriff ist durchaus gefährlich, weil er mutwillig an das Material geht, das unser Bild des Menschen über Jahrhunderte geprägt hat. Doch das ist nur die halbe Wahrheit. Es stimmt: Der Bildersturm des Kinos wirbelt ordentlich im historischen Bildgedächtnis und macht vor den Museen der Welt nicht halt. Aber die Bilder verschwinden nicht, nur weil sie nachts, wenn es dunkel wird, aus der Galerie gestohlen werden. Sie finden neue Umschlagplätze und Kanäle. Das Kino ist, wenn Sie so wollen, der größte Schwarzmarkt der alten Bildprogramme, die wir haben. Als teure Hehlerware und als billiges Plagiat werden die alten Bilder in neuem Style an die Panoramaleinwände geworfen. Und es ist die Aufgabe der passionierteren Kinogeher, aber auch der Kritiker und Kritikerinnen, diese alten Bezüge wiederzuentdecken und das Langzeitgedächtnis der Bilder immer neu herzustellen. Zum systematischen Bilderklau des Kinos gibt es – wie sollte es anders sein – ein eigenes Filmgenre. Die „Thomas-Crown-Affair“ etwa erzählt die Geschichte eines kunstsinnigen Meisterdiebs, der die Bilder nicht nur aus dem Museum entwendet. Er trägt sie auch in die heiligen Hallen der alten Meister zurück, wenn er sich an ihnen vergnügt hat, ohne dass die Museumsleiter merken, welcher Schatz ihnen da in die Galerie zurückgetragen wird. Der Schmuggelweg der Bilder führt nämlich in beide Richtungen und die Grenzen zwischen Original und Fälschung sind nur noch schwer zu bestimmen. Die Entwicklung der Bildenden Künste in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zeigt, dass das, was in den Museen der Gegenwartskunst hängt, ohne den Film gar nicht zu denken ist. Längst sind Maler und Videokünstler auf Bilderklau ins Kino gegangen. Die Ikonen des Films, seine Oberflächen, seine Regietechnik, seine Lichtdramaturgien prägen das Spiel mit dem Bildmaterial. Alte und neue Bildwelten, Kino und Museum, stehen in einem mehrfach intrikaten Verhältnis zueinander. Das vorderhand durcheinander gewirbelte Material findet zu neuen Zusammenhängen.

Hans Werner Dannowski ist so ein Meister, der Zusammenhänge findet zwischen den Urszenen des Christentums und den Filmen der Gegenwart. Das sind nicht immer Zusammenhänge, die sich sofort aufdrängen. Biblische Geschichten und Filme legen sich bei ihm gegenseitig aus und sind aufeinander angewiesen. Das macht nicht nur das Filmerlebnis reicher. Es verleiht auch den Ansichten des Christentums eine neue Gegenwärtigkeit, die am Schluss unklar werden lässt, welcher Bildraum uns näher ist, was Vorlage und was Auslegung ist. Wer also das Alte mit dem Neuen ins Gespräch bringt, dem bleibt das Alte nicht alt und ehrwürdig, es wird so brisant, wie das Neue eine Tradition zurückbekommt. Unberührt bleibt das Museum der Bilder also nicht, auch nicht das Museum der christlichen Bilder.

Wenn sie hier in den Räumen vor den großen alten Meistern wandeln, nachdem Sie alle ja schon eine ganze Menge Filme gesehen haben, werden sich manche Zusammenhänge ganz unversehens einstellen. Alle die verlorenen Söhne und zornigen Väter, all die Gesichter der Passion, das Panoptikum menschlicher Gesten und Pathosformeln, die Landschaftseinstellungen, die Abendmahlgesellschaften und die Morde, die Experimente mit Licht und Schatten – das finden Sie hier auf geheimnisvolle Weise wieder. Vor allem aber finden sich die Gesichter wieder, all die Nahaufnahmen, die die einzigartigen Züge, Falten und Höhlen eines menschlichen Antlitzes zeigen – der Blick in eine ganze Welt. Die Revolution des Portraits haben die alten Meister angezettelt. Sie haben dem Individuum ein Gesicht gegeben. Der Film ist nur ihr Profiteur, oder sollte ich besser sagen: ihr legitimer Erbe? Hier liegt der vornehmste Verwandtschaftsbeweis des Kinos mit der Malerei des Abendlandes. Es ist ja nicht nur so, dass das Kino den Bildern endlich die nötige Bewegung gibt und sie aus den Rahmen befreit. So mancher Film-Still könnte ohne weiteres als Gemälde durchgehen, an dem sich die historische und die künstlerische Dimension des Bildermachens und seiner Macht zeigen lässt. Umgekehrt steckt auch in jedem dieser alten Gemälde ein neues Filmprojekt. Wer je einmal länger als nur zwei Minuten vor einem der alten Meister verweilt hat, weiß, dass der Betrachter in den Bann der Assoziationen und Geheimnisse geraten kann, die einen bis in den Schlaf verfolgen. Wer diesen Zusammenhang entdecken will, muss nicht in den Fallstricken der bloßen Nachahmung landen. Das wäre, wie wenn man ein Gemälde Rembrandts als „Malen nach Zahlen“-Baukasten in Umlauf bringt.

Der diesjährige Preisfilm „Grbavica“ zeigt, dass die Suche nach Vorbildern glatt in die Irre führt. Bilder verarbeiten Bilder eigensinnig und kreativ. Denn in diesen Bildern kommen ja neue Erfahrungen zum Ausdruck. Der abwesende Vater entpuppt sich als Mitglied eines paramilitärischen Vergewaltigerkollektivs. Die etablierten Vaterbilder des Abendlandes führen in die Irre, sie sind unbrauchbar, ja kompromittiert. Das bukolische Szenario des „göttlichen Vergewaltigers“ Zeus, der sich ständig über neue Töchter anderer Väter hermacht, gerät hier zum zynischen Kommentar aus dem Off des Bildgedächtnisses. Bilderstürme können nötig und heilsam sein. Doch auch in der Negation steckt noch eine Verbindung zum Verneinten. Das Bildgedächtnis des Abendlandes hat dafür die Fratzen des Bösen vorgesehen. In sein Antlitz gucken die, die sich dem Film von Jasmila Zbanic aussetzen. Ohne die Bilder des Abgrunds geht es nicht – weder im Museum noch im Film. Deshalb kommen uns die Bilder ja auch so nahe und brennen sich bisweilen auf unserer Netzhaut ein, so dass wir unsere ganze Welt durch sie verwandelt sehen - ob im Goldrahmen oder auf Zelluloid.