Dialog der Religionen - Ansprache bei der Matthiae-Mahlzeit im Rathaus zu Hamburg

Wolfgang Huber

I.

Dass der Vertreter einer christlichen Kirche bei der Matthiae-Mahlzeit das Wort ergreifen darf, scheint in der Geschichte dieser ehrwürdigen Einrichtung nicht häufig der Fall zu sein. So wird es dafür einen besonderen Grund geben. Gehe ich fehl in der Annahme, dass die neue Aufmerksamkeit für die Religion und die Religionen, für die christlichen Wurzeln unserer europäischen Tradition wie für Zusammenleben verschiedener Religionen in unserem Land dabei eine Rolle spielt? Ich vermute das und möchte deshalb meinen Dank für die Einladung zum heutigen Abend mit einigen Bemerkungen zum Dialog der Religionen verbinden.

Vor einem Jahrzehnt hätten nur wenige Menschen erwartet, dass eine renommierte, in Hamburg erscheinende Wochenzeitung eine fünfteilige Serie über die großen Religionen der Welt veröffentlicht. Eher breitete sich damals in der veröffentlichten Meinung die Vorstellung aus, Religion sei Privatsache, die europäische Säkularisierung sei ein unumkehrbarer Vorgang und der Dialog der Religionen sei ein Gesprächsthema für wenige Experten.

Heute wird über den Wechsel im Papstamt oder über Reisen des neuen Papstes in aller Ausführlichkeit berichtet. Die Äußerungen von evangelischen Bischöfinnen oder von katholischen wie evangelischen Bischöfen werden aufmerksam wahrgenommen. Kulturschaffende sorgen sich um die Qualität evangelischer Gottesdienste; Zeitungen diskutieren Fragen der Liturgie. Das persönliche Verhältnis zum christlichen Glauben wird wieder zum Thema; dass Menschen zu seiner geistlichen Kraft verstärkt Zugang finden können, ist ein verbreiteter Wunsch. Die Gleichgültigkeit gegenüber der Gottesfrage weicht klaren Aussagen, natürlich nicht nur im Ja, sondern auch im Nein. Die christlichen Wurzeln der westlichen politischen Kultur werden öffentlich thematisiert. Das ökumenische Klima beschäftigt viele; dass der interreligiöse Dialog vorankommen muss, ist allgemeine Überzeugung.

Deshalb  sorgt – wer hätte das vor wenigen Jahren erwartet – auch die Absage eines fest verabredeten interreligiösen Gesprächs durch muslimische Verbände bundesweit für Schlagzeilen. Die großen religiösen Feste sind medial ebenso präsent wie vermeintlich religiös motivierte Auseinandersetzungen. Ereignisse in einem Teil der Welt haben unmittelbare Auswirkungen auf die anderen Teile; das gilt für die Folgen des 11. September 2001 genauso wie für die enorme Hilfs- und Trostbereitschaft nach der Tsunami-Katastrophe an der Wende zum Jahr 2005.

Religion vermittelt den Menschen Halt; sie bringt die Ehre Gottes ebenso zur Geltung wie die gleiche Würde jedes Menschen. Aber der Gottesname kann durch Religion auch schmählich missbraucht werden; im Namen der Religion sind Menschen schon schrecklich entwürdigt worden. Religion vermag Frieden und Gerechtigkeit zu fördern; aber sie kann auch für Hass und Gewalt benutzt werden.

Die globalisierte Welt zeigt beide Gesichter der Religion; eben dies führt die Religionsgemeinschaften noch intensiver zueinander und in das Gespräch miteinander. Es ist ihre gemeinsame Aufgabe, dort zu widersprechen, wo Religion zur Legitimierung von Gewalt missbraucht wird, und dort Antwort zu geben, wo nach der Bedeutung von Religion für das eigene Leben gefragt wird.

II.

In Hamburg über den Dialog der Religionen zu reden, bedeutet zunächst, Dank und Respekt für die ökumenische und interreligiöse Gesprächskultur in dieser Stadt auszusprechen. Es bedeutet auch, an einen Autor zu erinnern, der früher und deutlicher als andere Leitlinien für diesen Dialog formuliert hat. 230 Jahre liegt das zurück. Natürlich meine ich Gotthold Ephraim Lessing, der in Hamburg Dramaturg war, bevor er als Bibliothekar nach Wolfenbüttel wechselte. Sein Aufenthalt in Hamburg dauerte nur so kurz, weil das Nationaltheater, an dem er die Hamburgische Dramturgie entwickelte, bald nach seinem Amtsantritt, nämlich schon 1768, aufgelöst wurde. Aber auch, wenn Lessings „Nathan der Weise“ erst ein Jahrzehnt später in Wolfenbüttel entstand, enthält dieses Theaterstück schon dank des vorausgehenden Streits mit dem Hamburger Hauptpastor Goeze deutliche Bezüge zur Freien und Hansestadt.

Noch heute kommt man beim Nachdenken über den interreligiösen Dialog an Lessings Ringparabel nicht vorbei. Dass dieser Dialog im Geist der Toleranz zu erfolgen habe, wurde von Lessing unvergesslich eingeprägt. Doch welche Art von Toleranz beschreibt Lessing – und welche Art brauchen wir heute? Ist das Bild der drei Ringe, unter denen der wahre Ring sich nicht mehr finden lässt, wirklich ein zureichendes Modell von Toleranz? Die drei Söhne, die von ihrem Vater drei gleich aussehende Ringe erhalten, ziehen vor den Richter, um feststellen zu lassen, wer den echten Ring und mit ihm auch die Herrschaft erhalten hat. Da jedoch nach der Auffassung des Richters die Wahrheitsfrage nicht entschieden werden kann, macht er stattdessen die Frage zum Prüfstein, wer von den dreien der beliebteste sei, welchen also zwei der drei Brüder besonders lieben. Dieser Test geht negativ aus, weil die erklärte Liebe zu einem Bruder das Eingeständnis impliziert hätte, dass er über den echten Ring verfügt. Das veranlasst den Richter zu der Einschätzung, dass es diesen gar nicht mehr gibt; er ging vielmehr, so vermutet er, verloren. An die drei Brüder appelliert er, trotzdem an die Echtheit ihres Rings zu glauben und dies durch ein Verhalten unter Beweis zu stellen, das durch vorurteilsfreie Liebe und Verträglichkeit geprägt ist.

Mit diesem Ausgang der berühmten Ringparabel tritt die Frage nach der Wahrheit  in den Hintergrund. Das von Lessing vorgeschlagene Konzept der Toleranz kann deshalb zu einer relativistischen Vorstellung von Toleranz verleiten, der alle Wahrheitsansprüche gleich gültig sind; der öffentliche Streit um die Wahrheit wird dann um des lieben Friedens willen ausgesetzt. Wer sich dem von Lessing vorgeschlagenen Konzept dagegen entzieht, wird sich zu einem fundamentalistischen Verständnis religiöser Wahrheit verführt sehen, welches dem andern einen Zugang zur Wahrheit des Glaubens gerade bestreitet. Relativistische Toleranz und fundamentalistischer Absolutheitsanspruch sind aber beide mit einem aufrichtigen Dialog der Religionen unvereinbar. Diesem ist mit Gleichgültigkeit so wenig geholfen wie mit Fundamentalismus. Er braucht vielmehr eine überzeugte Toleranz. Toleranz ist also nicht mit einer Haltung gleichzusetzen, die alles für richtig hält und jedem Recht gibt. Wenn alles gleich gültig ist, wird alles gleichgültig. Es wird beliebig und verliert an Bindungskraft und Überzeugung.

Das aber widerspricht dem Wesen der Religion. Denn keine Religion kann ohne Konsequenzen für die Lebensführung wahrhaftig gelebt werden. Deshalb hat jede Religion zugleich mit ihrer persönlichen, ja individuellen Dimension auch eine öffentliche, politische Dimension. Sie betrifft nicht nur das private, sondern auch das öffentliche Leben.

So verstandene Religion hat auch in der offenen Gesellschaft westlicher Prägung ihren Ort. Die freiheitliche Gesellschaft braucht eine Haltung wechselseitigen Respekts, die den Dialog einfordert und dem Streit um die Wahrheit nicht ausweicht. „Klarheit und gute Nachbarschaft“ – so haben wir in der Evangelischen Kirche in Deutschland das Verhältnis zwischen den Religionen deshalb beschrieben. Und wir treten über diese Grundhaltung gern ins Gespräch ein – ganz besonders mit Vertretern des Islam.

III.

Für den christlichen Glauben gründet der Respekt vor den Anhängern eines anderen Glaubens in der Gewissheit, dass jeder Mensch zum Bild Gottes erschaffen und von Gott – all seinen Verfehlungen zum Trotz – geliebt ist. Wechselseitiger Respekt gründet dieser christlichen Betrachtungsweise zufolge nicht in religiöser Indifferenz, sondern in der Gewissheit des Glaubens. Tolerant kann nur sein, wer in einer eigenen  Glaubensgewissheit beheimatet ist. In einem guten Verständnis schließen sich deshalb Dialog und Mission nicht aus. Das meint freilich nicht, dass der Dialog der Religionen sich in einer Art von gegenseitigem Bekehrungswettstreit vollzieht. Zwang und Unterwerfung lassen sich weder mit einem Dialog der Religionen noch mit einem christlichen Verständnis von Mission vereinbaren. Es geht vielmehr um eine gemeinsame Suche nach der Wahrheit.

Deshalb ist die Frage nach Frieden und Toleranz zwischen den Religionen auch noch nicht mit der Ausrufung eines „Projekts Weltethos“ beantwortet; die Antwort kündigt sich vielmehr erst dann an, wenn die Religionen ihre Differenzen im Glaubensverständnis in einer Weise austragen können, die den Frieden nicht gefährdet, sondern stärkt.

Ich erinnere mich gut daran, wie Herr Ministerpräsident Prodi als Präsident der Europäischen Kommission im Jahr 2004 in Brüssel auf den Besuch europäischer Kirchenführer reagierte. Während dieses Gesprächs sagte Präsident Prodi zu uns: Bis zu einem gewissen Grade nehmen Sie in den Kirchen die Zukunft Europas vorweg. Denn die entscheidende Aufgabe Europas ist es, der Pluralität eine Gestalt zu geben, die Einheit in Verschiedenheit zu leben. Und er fuhr fort: Die ökumenische Gemeinschaft der Kirchen ist ein Modell für die Einheit in Verschiedenheit, die wir in Europa brauchen.

Wir sollten diese Perspektive erweitern: Die Weise, in welcher die Religionen ihr Verhältnis untereinander klären und wie sie ihren Dialog gestalten, ist von enormer Bedeutung für die Frage, ob unsere Gesellschaft ihre Differenzen friedvoll klären kann oder nicht. Wir haben die Chance, den Dialog in Klarheit und im gemeinsamen Fragen nach der Wahrheit friedlich zu führen. Damit können wir ein Vorbild für das friedliche Miteinander verschiedener Überzeugungen abgeben. Unsere Gesellschaft wird davon profitieren.