Wahrheit und Versöhnung: Fragen an eine europäische Nachbarschaftspolitik - Gedenkveranstaltung für die Opfer des Genozids an den Armeniern in der Paulskirche zu Frankfurt am Main

Stephan Reimers

Exzellenzen,

sehr geehrte Damen und Herren,

zum Jahrestag des Gedenkens an den Völkermord an den Armeniern spreche ich Ihnen im Namen der Evangelischen Kirche in Deutschland unser von Herzen kommendes Mitgefühl mit dem Schicksal Ihres Volkes aus.

Es ist gut, dass es diesen Tag des Erinnerns gibt. Denn noch immer wissen zu wenige Menschen, welche Schrecken und welche Vernichtung die Armenier in den Jahren 1915 und 1916 in Anatolien durch türkische paramilitärische Sondereinheiten erleiden mussten.

Erwin Wickert, ein wichtiger Vordenker der Aussöhnung Deutschlands mit seinen östlichen Nachbarvölkern, hat als 93-jähriger im Rückblick auf das vergangene Jahrhundert geurteilt: „Es war …. niederdrückend in langen Leidenszeiten, erschütternd im Unrecht an unschuldigen Menschen, beschämend in der Feigheit selbst der Anständigen vor der Wahrheit."

Beschämend ist, dass das armenische Volk bis heute für die Anerkennung der Geschehnisse als eines Völkermordes kämpfen muss. Der Rat der Evangelischen Kirche hat sich im Jahr 2005 anlässlich des 90. Jahrestages ausdrücklich mit diesem Ziel solidarisch erklärt:

‚Deshalb stimmen wir in ökumenischer Verbundenheit dem Anliegen zu, das Karekin II., Katholikos Aller Armenier, in seiner Enzyklika vom 3. Februar 2005 formuliert hat: „Der erste Völkermord des 20. Jahrhundert muss anerkannt und verurteilt werden durch die ganze Welt und auch durch die Türkei, denn Gewalt und Mord können nicht den Kurs der Menschheit führen." Mit Aram I., Katholikos von Kilikien, erklären wir: Die Vergangenheit lässt uns nicht los, bis sie wirklich aufgearbeitet ist. Schuld muss angenommen werden, die Wahrheit muss verkündet werden. Dieser schwere Schritt der Rückwendung zur eigenen Geschichte ist notwendig, um den Weg zur Vergebung zu öffnen, bittere Erinnerungen zu heilen und eine gemeinsame Zukunft zu gewinnen."

Der Rat der Evangelischen Kirche hat diesem Zitat armenischer Geistlicher die Aussage angeschlossen: „Als Christen sehen wir unsere Aufgabe gerade darin, dafür Sorge zu tragen, dass die Wahrheit zum Zuge kommen kann."

Dass bis heute um die Anerkenntnis der geschichtlichen Wahrheit gerungen werden muss, ist auch Schuld des Deutschen Reiches. Sehr früh war das politische Berlin durch Augenzeugenberichte über das Ausmaß der Vernichtung der Armenier informiert. Einer der Zeitzeugen war der deutsche Diplomat Dr. Wilhelm Litten. Am 31. Januar 1916 reiste er, aus Bagdad kommend, von Der Sor am Euphrat Richtung Aleppo ab, wo er am 4. Februar anlangte. Die Straße, auf der er reiste, war die letzte Strecke des Todesmarsches der aus ganz Anatolien vertriebenen Armenier. Fast minütlich hielt er in seinem Notizbuch grauenvolle Einzelheiten fest. Am 6. Februar 1916 fertigte er aus diesen Notizen einen Bericht und übergab diesen dem deutschen Konsul Walter Rößler, der ihn an das Auswärtige Amt und den Reichskanzler nach Berlin weiterleitete. Dieser Bericht, der alle Behauptungen über die angeblich humanen Deportationen Lügen straft, wurde später in ganz Deutschland bekannt, da ihn der Theologe Dr. Lepsius als Flugblatt in vielen tausenden Exemplaren herausgab. Aber der Kanzler des Deutschen Reiches von Bethmann Hollweg schwieg. Schon im Dezember 1915 hatte er die deutsche strategische Priorität unmissverständlich definiert: „Unser einziges Ziel ist, die Türkei bis zum Ende des Krieges an unserer Seite zu halten, gleichgültig, ob darüber die Armenier zu Grunde gehen oder nicht."

Rückblickend auf dieses Versagen Deutschlands haben die Abgeordneten des Deutschen Bundestages im Jahre 2005 in einem Beschluss einmütig festgestellt:

„Der Deutsche Bundestag verneigt sich im Gedenken an die Opfer von Gewalt, Mord und Vertreibung, unter denen das armenische Volk vor und während des Ersten Weltkrieges zu leiden hatte. Er beklagt die Taten der jungtürkischen Regierung des Osmanischen Reiches, die zur fast vollständigen Vernichtung der Armenier in Anatolien geführt haben. Er bedauert auch die unrühmliche Rolle des Deutschen Reiches, das angesichts der vielfältigen Informationen über die organisierte Vertreibung und Vernichtung von Armeniern nicht einmal versucht hat, die Gräuel zu stoppen.

Der Deutsche Bundestag ehrt mit diesem Gedenken die Bemühungen all der Deutschen und Türken, die sich unter schwierigen Umständen und gegen den Widerstand ihrer jeweiligen Regierung in Wort und Tat für die Rettung von armenischen Frauen, Männern und Kindern eingesetzt haben. Besonders das Werk von Dr. Johannes Lepsius, der energisch und wirksam für das Überleben des armenischen Volkes gekämpft hat, soll dem Vergessen entrissen und im Sinne der Verbesserung der Beziehungen zwischen dem armenischen, dem deutschen und dem türkischen Volk gepflegt und erhalten werden."

Diese Sätze der Resolution des Deutschen Bundestages sind erfreulich. Bedauerlich ist, dass in dem Parlamentsbeschluss der Begriff des Völkermordes fehlt. Nachdrücklich zustimmen kann man dagegen der verdienten Würdigung des evangelischen Pfarrers Johannes Lepsius. Er hat verwirklicht, wozu uns die Bibel ruft: „Tu deinen Mund auf für die Stummen" (Spr. 31.8). Unangepasst und unter hohem Risiko erreichte er am 10. August 1915 eine Aussprache mit Generalissimus Enver Pascha, dem osmanischen Kriegsminister, einen der Hauptverantwortlichen für den Völkermord an den Armeniern. Dieses historische Streitgespräch hat der Schriftsteller Franz Werfel später in seinem Armenier-Epos: „Die vierzig Tage des Musa Dagh" zu einem literarischem Denkmal verdichtet. In Deutschland bringt die bereits seit Ende 1915 kursierende Genozid-Dokumentation von Lepsius die Opposition im Parlament zum Aufhorchen. Der Abgeordnete Karl Liebknecht stellt Anfragen im Reichstag. Am 14. Januar 1916 fragt er:

"Ist dem Herrn Reichskanzler bekannt, dass während des jetzigen Krieges im verbündeten türkischen Reiche die armenische Bevölkerung zu Hunderttausenden aus ihren Wohnsitzen vertrieben und niedergemacht worden ist? Welche Schritte hat der Herr Reichskanzler bei der verbündeten türkischen Regierung unternommen, um die gebotene Sühne herbeizuführen, die Lage des Restes der armenischen Bevölkerung in der Türkei menschenwürdig zu gestalten und die Wiederholung ähnlicher Gräuel zu verhindern?" Als aber Karl Liebknecht seine Anfrage fortsetzt und sich auf die von Johannes Lepsius verbreiteten Informationen

bezieht, bricht bei der Nennung dieses Namens bei den sich ansonsten unaufmerksam stellenden Abgeordneten wie auf Signal ein solcher Lärm aus, dass der Redner nicht mehr weitersprechen kann.

„Im Zweifelsfalle ist unser Platz an der Seite der Opfer", war eine der Grundüberzeugungen von Johannes Lepsius, aus der heraus er sich gegen die politische Gleichgültigkeit seiner Regierung für die Rettung von armenischen Frauen, Männern und Kinder bereits seit den riesigen hamidischen Armenier-Massakern Ende des 19. Jahrhunderts einsetzte. Das Haus, in dem Lepsius in Potsdam gelebt hat, wird derzeit wiederhergestellt und zu einem Zentrum für Erinnerung, Forschung, Bildung und Begegnung werden – ein Anliegen, das uns als EKD sehr am Herzen liegt und das wir gerne unterstützen.

Und auch die Ankündigung in der Bundestagsresolution von 2005, das Werk von Johannes Lepsius, „dem Vergessen zu entreißen und es im Sinne der Verbesserung der Beziehungen zwischen dem armenischen, dem deutschen und dem türkischen Volk zu pflegen und zu erhalten", hat Folgen gehabt: Fördergelder für das Lepsiushaus wurden vom deutschen Bundestag bewilligt. Es ist gut, dass den Worten des Parlaments so schnell Taten gefolgt sind.

Und noch eine gute Nachricht aus Potsdam: Am vergangenen Sonntag ist unter Teilnahme von Ihnen, Herr Erzbischof Karekin, sowie auch von Ihnen, Herr Dr. Owassapian, und einer großen Schar von Deutschen und Armeniern zum Gedächtnis an Johannes Lepsius‘ Kampf gegen den Völkermord ein großer Findling als deutsch-armenisches Denkmal eingeweiht worden. Der Stein zeigt auf der einen Seite das christliche Identitätszeichen des armenischen Volkes: das Kreuz in Form des paradiesischen Lebensbaumes. Und auf der anderen Seite dieses Denkmals ist deutsch und armenisch auch der Gedächtnis-Gebetsruf für die Opfer des Genozids zu lesen:

„ERLEUCHTE, HERR, IHRE SEELEN" –

armenisch:

LUSSAWORJÁ, TER, SOGÍSN TSARAJÍTS KOTS

Als Deutsche wissen wir, welche intellektuelle, emotionale und gesellschaftliche Herausforderung es bedeutet, sich den Verbrechen des vergangenen Jahrhunderts zu stellen. Unsere eigene Erfahrung ermutigt aber, für einen Prozess der Aussöhnung zwischen Türken und Armeniern einzutreten. Nur weil die Bundesrepublik Deutschland die Verbrechen des Dritten Reiches ohne Beschönigung bekannte und Konsequenzen daraus zog, gewann sie neues Vertrauen bei ihren europäischen Nachbarländern. Die Geschichte der Europäischen Einigung ist eine Geschichte der Versöhnung. Aus ehemaligen Kriegsgegnern wurden Partner und dann Freunde. Die Europäische Union als ein Raum der Freiheit und des Rechts erlebte auch wirtschaftlich eine Erfolgsgeschichte. Die Union ist anziehend. Elf Staaten Mittel- und Osteuropas sind zu Beginn dieses Jahrhunderts ihr neu beigetreten. Weitere Staaten streben nach Annäherung und Mitgliedschaft. Auch für die Europäische Union ist es wichtig, über ihre heutige Ostgrenze hinaus Stabilität und Frieden durch eine aktive Nachbarschaftspolitik zu stärken. Ziel ist es, die Standards der Demokratie, der Menschenrechte, der Rechtsstaatlichkeit und guten Regierungsführung in den Nachbarstaaten zu festigen. Armenien ist ein Partner dieser Nachbarschaftspolitik. Mit der Türkei wird der Prozess der Angleichung der politischen Standards im Rahmen von Beitrittsverhandlungen gefördert.

Im Blick auf diese langfristig terminierten Beitrittsverhandlungen stellt sich auch die Frage, wie ein Land Teilhaber am Europäischen Projekt der Aussöhnung und Gerechtigkeit werden kann, das seinerseits mit seinen eigenen Nachbarn noch schwerwiegende ungelöste Probleme hat. Daher haben die Abgeordneten des Europäischen Parlaments in einem Beschluss vom 27. September 2006 die türkische und armenische Regierung aufgefordert, ihren Aussöhnungsprozess fortzusetzen.

Zwar gehöre die Anerkennung des Völkermordes an den Armeniern nicht formal zu den Prüfkriterien von Kopenhagen, trotzdem sei es unerlässlich für ein Land, das Vollmitglied der Europäischen Union werden wolle, sich seiner Vergangenheit zu stellen. Die europäischen Abgeordneten haben deshalb weiter gefordert, dass die türkischen Behörden das Bemühen von Forschern, Intellektuellen und Akademikern, die an dieser Frage arbeiten, unterstützen mögen, indem sie ihnen Zugang zu den historischen Archiven gewährten und ihnen alle einschlägigen Dokumente zur Verfügung stellten. Zu den gut nachbarschaftlichen Beziehungen zu Armeniern gehöre es außerdem, die Wirtschaftsblockade aufzuheben und die Landesgrenze frühestmöglich zu öffnen. Dies sei ein Erfordernis der Beitrittsverhandlungen, um den Verhandlungsrahmen ‚friedliche Beilegung von Grenzstreitigkeiten’ zu erfüllen - Europa erwartet, dass die Türkei sich verändert.

Die Meldung vom 21. April 2008, also vom Montag dieser Woche, dass der türkische Außenminister Babakan in einem Schreiben dem neuen armenischen Außenminister Nalbandyan vorgeschlagen hat, gemeinsam an der Verbesserung der Beziehungen zwischen den beiden Republiken zu arbeiten, lässt uns Europäer angesichts der immer noch bestehenden türkischen Blockade der Grenze zu Armenien und der großen staatlichen Anstrengungen, den Völkermord zu leugnen, aufhorchen. Nicht zufällig kommt dieser Schritt Ankaras kurz vor dem heutigen 24. April. Eine Verbesserung ist aber nicht zu erwarten, sollte die türkische Seite mit diesem neuerlichen Schritt, wie bisher, die Leugnung oder die Relativierung des Völkermordes verbinden.

Unsere heutige Gemeinschaft hier in der Frankfurter Paulskirche ist dem Erinnern gewidmet. Was Erinnern bedeuten kann, hat unser damaliger Bundespräsident Richard von Weizsäcker 1985 in seiner wichtigen Rede zum 40. Jahrestag des Kriegsendes so formuliert:

Erinnern heißt, eines Geschehens so ehrlich und rein zu

gedenken, dass es zu einem Teil des eigenen Innern wird.

Das stellt große Anforderung an unsere Wahrhaftigkeit."

 

Möge Gott uns auf diesem schwierigen Weg mit dem

Trost seiner Nähe begleiten und uns Kraft geben.