Evangelischer Dialog mit Politik und Wirtschaft zu Bildungs- und Arbeitsmarktpolitik: „Zwang verwandelt die Wohltat in ein Übel“

Wolfgang Huber


I.

Gemeinsam mit Herrn Präsidenten Klaus-Dieter Kottnik begrüße ich Sie herzlich zu dieser Tagung. Sie ist der Erinnerung an Johann Hinrich Wichern gewidmet, dessen Geburtstag sich in diesem Jahr zum zweihundertsten Mal jährt. Wichern war Hamburger; deshalb begrüße ich einen Hamburger, nämlich Bundesminister Olaf Scholz, besonders herzlich in unserer Mitte.

Auch das Motto dieser Tagung geht auf Wichern, diesen Unternehmer aus christlichem Glauben, zurück: „Zwang verwandelt die Wohltat in ein Übel.“ Also ist die Wohltat als solche kein Zwang. Sie kann sogar Ausdruck der Freiheit sein und der Freiheit dienen. Man kann das auch umgekehrt wenden: Soziale Verantwortung ist kein Gegensatz zur Freiheit, sondern sie ist recht verstanden ein Ausdruck der Freiheit und ein Dienst an der Freiheit. Vorausschauende Sozialpolitik und das soziale Handeln freier Träger, Kirche und Diakonie in ihrer Mitte, sind deshalb ein angemessenes, ja ein unentbehrliches Element in einem freiheitlichen Gemeinwesen.

Dieses Signal wollen evangelische Kirche, Diakonie und Evangelische Akademie, die diese Tagung gemeinsam verantworten, miteinander setzen: ein deutliches Signal in Erinnerung an eine der Gründergestalten der modernen Diakonie, ein deutliches Signal in die politische, gesellschaftliche und kirchliche Wirklichkeit des Jahres 2008.

Wichern war Sozial- und Bildungsreformer; zugleich war er an der Reform der Kirche interessiert. Ihn prägte die Überzeugung, dass das Evangelium Menschen in Bewegung bringt und Grundlage einer Gemeinschaft ist, die trägt. Eine Gemeinschaft wollte er begründen, in der jeder sinnvolle Arbeit findet, die Auskommen gibt und Zukunft schafft. Er war angetrieben von der Idee eines Netzwerkes der rettenden Liebe. In diesem Netzwerk sollten Menschen Halt finden, die ihre Arbeit verloren hatten und in Elendsvierteln lebten.

Armut und Arbeitslosigkeit, Gewalt in Familien, Jugendliche ohne Ausbildung, Stadtbezirke, die schon abgeschrieben sind – zahlreiche der Probleme Wicherns bewegen uns heute auf neue Weise, wenn auch in anderer Gestalt. Wichern wollte bei seinen Vorhaben mit Menschen aus Kirche, Wirtschaft und Staat, mit Handwerkern und Diakonen, die er ausbildete, zusammen arbeiten, um jungen Männern Halt und Heimat zu geben.

Einer seiner wichtigsten Weggefährten war dabei der Berliner Unternehmer Baron Ernst von Kottwitz, der mit eigenen Initiativen und Gründungen – beispielsweise einer Kattunfabrik für arbeitslose schlesische Weber – Wirtschaftlichkeit und Gerechtigkeit miteinander verband. Ernst von Kottwitz und Johann Hinrich Wichern schmiedeten ein Bündnis für die Arbeitslosen ihrer Zeit, das beachtlichen politischen Einfluss gewann.

Bündnisse und Allianzen brauchen wir auch heute. Kein einzelner politischer, gesellschaftlicher oder wirtschaftlicher Akteur vermag die Fragen unserer Tage zu lösen. Deswegen freue ich mich vor allem darüber, dass die Referenten und Diskutanten, die sich an dieser Tagung beteiligen, etwas von einem solchen Netzwerk der rettenden Liebe erahnen lassen.

II.

Immer wieder bin ich auf der Suche nach Symbolen und Vorbildern für eine Gesellschaft, die von Empathie und Solidarität geprägt ist. Immer wieder suche ich auch Symbole und Vorbilder dafür, was wir als christliche Kirchen zu einer solchen empathischen und solidarischen Gesellschaft beitragen können.

Ein Beispiel zum Thema Symbole. Nahe dem Hauptbahnhof in Brüssel, in einem etwas heruntergekommenen Stadtviertel, befindet sich das Seelsorgezentrum einer Freikirche. Als Erkennungszeichen prangt gleich über dem Eingang ein offenes, flammendes Herz. Es signalisiert: Hier sind Menschen zusammen, die zuhören und zugewandt sind, weil sie darauf vertrauen, dass Gott Liebe ist. Es ist wichtig, dass Christen Menschen in Situationen sozialer Not nahe sind und ihnen gesellschaftliche Teilhabemöglichkeiten eröffnen.

Ein Beispiel zum Thema Vorbilder. „Wachsen gegen den Trend“ war eine Formel, mit der in den neunziger Jahren in der evangelischen Kirche hier in Berlin ein missionarischer Aufbruch unserer Kirche ausgerufen wurde. „Wachsen gegen den Trend“ – so heißt auch ein neu erschienenes Buch von Wilfried Härle und anderen, in dem Gemeinden vorgestellt werden, mit denen und in denen es aufwärts geht. Eine davon ist die Andreasgemeinde in Niederhöchstadt, die ihre Arbeit ganz bewusst auf dem Doppelgebot der Liebe und auf dem Taufauftrag Jesu aufbaut. Mehr als dreihundert ehrenamtliche Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen sind dort in rund achtzig Diensten und Arbeitskreisen engagiert. Die Gemeinde hat ihr Angebot aufgefächert, um verschiedene Zielgruppen zu erreichen und die Verengung auf ein Mittelschichtmileu aufzubrechen.

„Begleiten, beraten, Begegnungen fördern“ will die Gemeinde. In ihr sollen insbesondere auch Alleinerziehende, junge Familien, Kinder und Jugendliche eine geistliche Heimat finden. Die diakonische Arbeit ist aus dieser Gemeinde nicht ausgelagert, sondern wird als Aufgabe der ganzen Gemeinde begriffen und vielfältig vernetzt. „Die Gemeinde wächst, so heißt es dazu, indem sie im Sinne einer Caring Community auf andere ausstrahlt und ein Netzwerk bildet“. Und in einer der Grafiken zur Struktur der Gemeinde findet sich in der Mitte ein Kästchen mit dem Zentrum, um das es geht: „Gott von ganzem Herzen zu lieben“.

Das ist nur ein Beispiel unter vielen. Ich bin davon überzeugt, dass Wichern von diesem Verständnis der Inneren Mission begeistert gewesen wäre. Der Glaube, der in der Liebe tätig ist, stand im Zentrum seiner Arbeit, denn nur „die Liebe“, schrieb er, „hat das scharfe Auge, alles zu sehen“ – auch die Not, an der andere leicht vorübergehen.

III.

„Gott ist die Liebe.“ So heißt ein zentraler biblischer Satz. Er heißt übrigens nicht: „Gott ist Liebe“. Es geht nicht um eine Definition Gottes, aus der dann zugleich alle anderen Züge ausgeschlossen wären: der verborgene und rätselhafte, der fordernde und richtende Gott. Nein: „Gott ist die Liebe.“ Er handelt aus Liebe. Er offenbart in Jesus Christus seine Liebe. Auch wenn er richtet, richtet er damit Menschen nicht zu Grunde, sondern er richtet sie auf. Er tritt auf die Seite der Leidenden. Er öffnet uns den Weg zur Nächstenliebe, zu Empathie und Solidarität. „Gott ist die Liebe.“ Diese zentrale biblische Aussage lag Wichern besonders am Herzen. Auf dieser Grundlage beschreibt er die christliche Gemeinde als eine Gemeinschaft der Liebe. Sie ist der Ort, an dem das Leben zu seiner Wahrheit kommt.

Eine biblische Erzählung zeigt dies in eindrücklicher Weise: An dem Abend vor der Nacht, in der er verraten wurde, füllte Jesus eine Schüssel mit Wasser und kniete vor seinen Jüngern nieder, wie es sonst die Diener taten. Jesus wusch ihnen die staubigen Füße. Simon Petrus wollte sich diese Wohltat nicht zugute kommen lassen und wehrte sich gegen diese demütige Geste seines Herrn und Meisters. Jesus erwiderte: „Wisst ihr, was ich euch getan habe? Ihr nennt mich Meister und Herr und sagt es mit Recht, denn ich bin's auch. Wenn nun ich, euer Herr und Meister, euch die Füße gewaschen habe, so sollt auch ihr euch untereinander die Füße waschen. Ein Beispiel habe ich euch gegeben, damit ihr tut, wie ich euch getan habe.“

Offensichtlich geht es bei dem Tun Jesu um mehr als um den Schmutz an den Füßen und das Wasser, das ihn abwäscht. Es geht um den Dienst der Liebe, den einer dem anderen erweisen soll. In diesem Dienst wird das Gefälle aufgehoben, das sonst die einen von den anderen trennt. Jesus macht das klar, indem er selbst die niedrigste Aufgabe übernimmt. Hierin liegt der Grund, aus dem Wichern die christliche Gemeinde in der Sprache seiner Zeit den „Verein der zur Wahrheit befreiten Menschen“ nannte. Denn der Wahrheit kommen wir nahe, wenn wir lernen, Mensch zu werden unter Menschen – mit Gaben, die wir für andere einsetzen können, mit Einfühlungsvermögen in deren Not. Was für eine Wohltat, nicht nur für uns, sondern auch für die anderen – aber eben nicht nur für die anderen, sondern auch für uns selbst.

IV.

Für Wichern war es wichtig, dass die Kirche ihren besonderen Auftrag zur Nächstenliebe wahrnimmt und zu ihrem diakonischen Auftrag steht. Zugleich erkannte er die Notwendigkeit, dass ebenso wie die Kirche auch die Gesellschaft insgesamt, darüber hinaus aber auch der Staat ihrer sozialen Verantwortung nachkommen. Es gilt, gemeinsam Not und Elend zu mindern, die Bildungschancen zu verbessern, sozialen Ausgleich zu schaffen. Zwang aber kann Menschen nicht verändern; ja manchmal erreicht er sogar das Gegenteil. Wichern und die Diakoniker seiner Zeit waren sehr mit den damaligen Gefängnisreformen beschäftigt. In diesen Institutionen, die notgedrungen Zwangsinstitutionen sind, leuchtet es besonders ein, dass der Zwang selbst oder allein eine Veränderung der Menschen nicht bewirken kann. Da muss noch etwas anderes hinzutreten: die Liebe, aus der heraus Freiheit möglich wird.

Aber das gilt ebenso für die großen Herausforderungen unserer Zeit. Arbeit und Arbeitslosigkeit sind ein Beispiel dafür. Was unter dem Signum „Fordern und Fördern“ in Gang kam, muss noch stärker darauf ausgerichtet werden, dass die Kräfte, die Menschen anvertraut sind, geweckt und in Anspruch genommen werden, statt dass sie mit allem, was sie in ihrem Leben geprägt und auch belastet hat, plötzlich entblößt dastehen und es so empfinden, als sei keiner da, der sich aus Zuneigung und Respekt um sie kümmert. Dass eine solche Atmosphäre sich ändert, ist ebenso wichtig, wie es konkrete Maßnahmen der Eingliederung sind.

Was soll man daraus schließen? Es bleibt dringlich, dass der Staat die Instrumente bereithält und immer wieder neu entwickelt, mit denen er seiner sozialen Verantwortung gerecht werden kann. Aber ebenso wichtig ist es, dass wir es nicht allein dem Staat überlassen, Menschen auf ihrem Weg zu helfen und sie zu neuen Wegen zu ermutigen. Sie brauchen neben aller staatlichen Förderung Netzwerke der rettenden Liebe. Dem Nachdenken darüber gilt diese Tagung. Für alle guten Beispiele, auf die wir dabei stoßen, und für alle neuen Initiativen, die heute und morgen verabredet werden, erbitte ich Gottes Segen.