„Kirche im Aufbruch“ - Drei Jahre Reformprozess in der EKD - Statement in der Pressekonferenz, Berlin

Wolfgang Huber

Im Sommer 2006, vor ziemlich genau drei Jahren, veröffentlichte der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland das Impulspapier „Kirche der Freiheit“. Dieses Impulspapier hat insofern seinem Namen alle Ehre gemacht, als es auf vielen Ebenen unserer Kirche vorhandene Impulse verstärkte, viele neue Impulse vermittelte und Reformaktivitäten auslöste. Um Ihnen einen Eindruck vom eingeschlagenen Weg und vom erreichten Stand des Reformprozesses in der evangelischen Kirche zu geben, will ich drei Fragen ansprechen: Woher kommen wir? Wo stehen wir gegenwärtig? Wohin wollen wir?

1) Woher kommen wir?

„Es ist genug, dass jeder Tag seine eigene Plage hat“ (Matthäus 6, 34). Mit diesen Worten beschließt Jesus in der Bergpredigt seine Rede über das „Schätze sammeln und Sorgen“. Es ist ein befreiender Ruf dazu, das Wesentliche wahrzunehmen. Zu einer Sorglosigkeit wird eingeladen, die den Plagen ihre richtige Stelle weist und damit der Freiheit Raum gibt: „Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes und seiner Gerechtigkeit, so wird euch das alles zufallen“, heißt es unmittelbar davor (Matthäus 6, 33).

In diesen Worten Jesu begegnet uns die Grundmelodie einer „Kirche der Freiheit“. Sie weiß sich befreit von den falschen Sorgen um die eigene Existenz und kann gerade deshalb Initiative und Engagement entwickeln. Sie weiß: Die eigenen Reformanstrengungen retten die Kirche nicht, das tut Christus allein; aber sie stärken die Verkündigung des Evangeliums, und eben dies soll auch ihr Bemühen sein. Denn das Jesuswort weist ja auch darauf ausdrücklich hin, dass jeder Tag, jede Phase, jede Generation jeweils eigene Mühen hat. Jede Zeit steht vor spezifischen Herausforderungen; jede Generation muss schauen, dass sie ihre Aufgaben erkennt und bewältigt.

Wird man das später einmal von unserer Generation sagen können? Haben wir uns im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts den richtigen Problemen gestellt und haben wir uns diesen Problemen richtig gestellt?

Die friedliche Revolution vor zwanzig Jahren war protestantisch geprägt; darin erinnern wir uns in diesem Jahr mit großer Dankbarkeit. Aber unser Land ist durch den Fall der Mauer und das Gelingen der Einheit in Freiheit nicht insgesamt christlicher oder gar evangelischer geworden. Vielmehr steht die Aufgabe zu großen Teilen noch vor uns, den Glaubensentwöhnten und Kirchenungeübten die Größe und den Glanz unseres Glaubens nahezubringen. Zugleich ist festzustellen, dass in Deutschland eine junge Generation heranwächst, die religiös interessiert ist - neugierig, fragend und suchend. Erneut gilt: Für ihr Fragen Räume zu schaffen und ihnen mit den richtigen Angeboten zu begegnen, ist eine große Herausforderung. Und schließlich: In Deutschland sind mittlerweile nicht nur die großen Weltreligionen mit beachtlichen Mitgliederzahlen vertreten, sondern auch die Zahl unabhängiger freier Gemeinden wächst. Den eigenen Ort und den eigenen Beitrag in dieser religiösen Pluralität zu bestimmen, ist eine wichtige Aufgabe.

An Herausforderungen fehlt es nicht; je früher wir uns ihnen stellen, desto mehr Lernzeit haben wir. Untätigkeit dagegen provoziert die Frage: Was passiert, wenn nichts passiert?

Diese Frage war ein kräftiger Motivationsschub für das Impulspapier „Kirche der Freiheit. Perspektiven für die evangelische Kirche im 21. Jahrhundert“ vom Sommer 2006. Dieses Impulspapier ist zum Signal und zum Symbol für die Bereitschaft in der evangelischen Kirche geworden, sich den grundlegenden Herausforderungen unserer Generation, den „Sorgen unserer Tage“ zu stellen.

2) Wo stehen wir gegenwärtig?

Im Reformprozess wurden seit der Veröffentlichung des Impulspapiers wichtige Schritte unternommen. In den ersten Wochen und Monaten nach der Veröffentlichung erreichten uns viele Stellungnahmen, sowohl mit Kritik als auch mit Bestärkung und Ermutigung. Der Protestantismus machte das, was er am besten kann: er diskutierte die Impulse kritisch-konstruktiv.

Dafür stand besonders der Zukunftskongress in Wittenberg im Januar 2007. Er machte, zur Verwunderung mancher Beobachter, diesen vielstimmigen Diskurs transparent und öffentlich. Das geschah auf gut evangelische Weise: Der Weg in die Zukunft wird nicht zentralistisch von oben festgelegt, sondern gemeinsam gesucht. Ich bin dankbar dafür, wie intensiv die Debatte über die Wege in die Zukunft geführt wurde. Denn allen Beteiligten war und ist klar: „Gespielt wird auf dem Platz“; entschieden und gestaltet wird an der kirchlichen Basis.

Deshalb ist am allerwichtigsten, wie Reformimpulse in Gemeinden, kirchlichen Regionen und Landeskirchen aufgegriffen und weiter entwickelt werden. Dafür gibt es ungezählte Beispiele; erfreulich ist, dass sie allermeist durch eine gemeinsame Grundrichtung miteinander verbunden sind. Die Konzentration auf Schlüsselaufgaben in der Weitergabe des Evangeliums, in der Feier des Glaubens, im praktischen Dienst an den Menschen verbindet sich mit einer neuen Öffnung hin zu den Menschen, denen die Botschaft der Kirche gilt. Die „Kirche der Freiheit“ ist eine Kirche für die Menschen, eine Kirche für das Volk.

In dieser Bewegung hat die EKD ihre eigene und besondere Aufgabe wahrgenommen. Rat, Kirchenkonferenz und Synode der EKD haben dafür Schwerpunkte gebildet; dabei kristallisierten sich drei große Fragenstellungen als Schlüsselthemen heraus:

1. Wie ist es um die Qualität unsere Kirche gerade in ihrem Kernbereich bestellt, also auf dem Feld der Gottesdienstgestaltung und der Predigtkunst.

2. Wie einladend, offen und attraktiv ist unsere Kirche? Ist sie auch im geistlichen Sinne „Kirche für andere“, für die also, die sich noch nicht oder nicht mehr zur Kirche halten?

3. Wie organisiert sich unsere Kirche, wie wird Verantwortung transparent, wie werden Erfolge gewürdigt und Menschen motiviert? Wie also steht es um die Leitungs- und Führungskompetenz in unserer Kirche?

Die Synode der EKD hat im November 2007 in Dresden mit der Kundgebung „evangelisch Kirche sein“ deutliche Pflöcke für das Selbstverständnis unserer Kirche auf dem Weg der Reform eingeschlagen. Evangelische Kirche, so sagte sie, ereignet sich dort, wo Gottesbegegnung, Lebenserneuerung und Gemeinschaft eröffnet werden und erlebt werden können. Damals setzten Synode, Kirchenkonferenz und Rat der EKD eine gemeinsame Steuerungsgruppe ein, die seitdem den Reformprozess vorantreibt und konkretisiert.

Seit 2008 sind die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Reformbüros im Kirchenamt der EKD dabei, konkrete Umsetzungsschritte einzuleiten und zu begleiten. Eine neue Homepage (www.kirche-im-aufbruch.ekd.de) mit einer Fülle guter Praxisbeispiele ist entstanden. Drei neue Zentren wurden eingerichtet; die Leitungspersonen wurden berufen. Es handelt sich dabei um das „Zentrum für Predigtkultur in Wittenberg“, das „Zentrum für Qualitätsentwicklung in Hildesheim“ sowie das „Zentrum für Mission in der Region“ mit Sitz in Dortmund, Stuttgart und Greifswald. Auch andere Initiativen sollen gestärkt werden, z.B. die Führungsakademie für Kirche und Diakonie hier in Berlin.

Daneben wurden neue Initiativen gefördert, die Angebote zur Unterstützung der Arbeit vor Ort bereitstellen. Als Beispiele nenne ich „Erwachsen glauben“, eine von der Arbeitsgemeinschaft missionarischer Dienste (AMD) ausgehende Unterstützung von Gesprächen über den Glauben als verlässliches Angebot in jeder Region sowie „Religion von Anfang an“, eine Initiative zur frühkindlichen Lese- und Sprachförderung einschließlich religiöser Anregungen, die der Deutsche Verband evangelischer Büchereien übernommen hat.

3) Wo wollen wir hin?

Das Impulspapier spricht von einem „Mentalitätswandel“, der nötig ist und den es anzuregen gilt. Ein solcher Mentalitätswandel braucht Zeit, er kann nicht angeordnet werden, sondern muss sich entwickeln und entfalten. Aber dieser Mentalitätswandel ist nicht einfach ein Selbstzweck; er zielt vielmehr auf eine missionarische Öffnung unserer Kirche hin zu den Menschen, deren Kontakte zu Kirche und Glaube dünn geworden oder ganz verloren gegangen sind. Die quantitativen Zielangaben, für die wir ja oft kritisiert worden sind (Stichwort „Taufquote“) sollen dieses Ziel praktisch verdeutlichen. Es ist uns in der evangelischen Kirche eben nicht gleichgültig, ob wir schlechten oder guten Gottesdienstbesuch haben, es ist uns nicht gleichgültig, ob wir viele oder wenige Kinder eines Jahrgangs taufen.

Wenn ich mir die vielen guten Beispiele vor Augen führe, die im Internet oder während der Zukunftswerkstatt in Kassel gezeigt werden, dann bin ich nicht nur beeindruckt, sondern begeistert über den Einfallsreichtum und die Kreativität in unserer Kirche. Auch die Bereitschaft, gute Beispiele zu übernehmen, breitet sich aus. Wir müssen überhaupt keine Verzagtheit an den Tag legen, wir können dankbar sein für die Vielfalt der Ideen und das hohe Engagement in den unterschiedlichen Bereichen unserer Kirche.

Eben dies soll die Zukunftswerkstatt in Kassel vom 24. – 26. September zeigen. Sie soll von der Freude geprägt sein über das, was auf dem Weg zu einer einladenden, qualitätsbewussten evangelischen Kirche in Gang gekommen ist. Wir ziehen eine Zwischenbilanz, feiern gelungene Beispiele, lernen voneinander und danken Gott für den Reichtum seiner Gaben. Werkstatt sagen wir; denn wir wissen, dass vieles noch unfertig ist. Deshalb werden wir auch Herausforderungen bedenken, Fragen bearbeiten, Themen vorstellen, Initiativen starten. In einer Haltung dankbarer Zuversicht soll der Reformprozess unserer Kirche weitergehen. Die Initiativen, die von der Zukunftswerkstatt in Kassel ausgehen, sollen ihn zusätzlich motivieren und beflügeln.

Ein Grundton soll uns bestimmen, den Präses Katrin Göring-Eckardt kürzlich so beschrieben hat – und das ist mir aus dem Herzen gesprochen: „Der Glaube will das Leben nicht schwerer machen, sondern leichter, auch das Leben der Kirche selbst.“