Vortrag in der St. Lamberti-Kirche in Oldenburg anlässlich der Begegnung zum 80. Geburtstag von Altbischof Wilhelm Sievers

Hans Ulrich Anke, Präsident des Kirchenamtes der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD)

Anreden

„Der Mensch im Recht“ – dieser Titel hat mich neugierig gemacht. Veröffentlicht hat ihn 1973 Wilhelm Sievers, damals noch nicht Bischof der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Oldenburg, sondern Pastor und später Propst in Kappeln an der Schlei. Welche gedanklichen Linien führt da jemand zusammen, der Theologie und Rechtswissenschaften gelernt hat?

I.

„Der Mensch im Recht“. Im Recht sein und im Recht bleiben, damit sollen Juristen sich auskennen. Sie lernen Zivilrecht, Öffentliches Recht und andere materielle Rechtsgebiete samt den dazugehörigen Prozessordnungen. Sie setzen diese Kenntnisse ein, damit Menschen dafür streiten können, was sie als ihr gutes Recht ansehen.

Was aber hat ein Theologe zu alledem zu sagen? Wilhelm Sievers fasst das in seinem Schlusssatz der angeführten Schrift „Der Mensch im Recht“ so zusammen:

„Der Beitrag der Kirche für die Entwicklung des Rechts wird darin liegen, die Erfahrungen und Erkenntnisse ihrer Traditionsgeschichte in die Diskussion über das Recht einzubringen und Menschen im Ringen um das Recht zu stärken und zu festigen“.

Wilhelm Sievers hat mit zahlreichen Predigten, Vorträgen und Schriften einen elementaren Beitrag dazu geleistet, Menschen im Ringen um das Recht zu stärken und zu festigen. Die Titel seiner Bücher sind sprechend: „Im geistlichen Amt“ aus 1989, „Leben - Auf die Einstellung kommt es an“ aus 1992, „Das Bekenntnis der Kirche und der Glaube der Christen“ aus 1996 und „Vertrauen wagen“ aus 1998. Dabei hat Wilhelm Sievers immer wieder herausgestellt, was es ihm bedeutet, in der Weite des Generationenzusammenhangs zu denken und zu leben:

Der Mensch ist „ein Glied in einer langen Kette ... Er lebt von dem Erbe der Ahnen und ist zugleich den Nachkommen verpflichtet. Das Leben gewinnt besonderen Sinn in dem Generationenvertrag und es bewahrt zugleich vor einer Selbstüberschätzung und der Überheblichkeit, als ob das ganze Leben sich nur auf die Sorge und das Wohlbefinden des eigenen Lebens reduzierte...“ („Leben - Auf die Einstellung kommt es an“, S. 57).

So ging es Sievers auch darum, die Erfahrungen und Erkenntnisse der kirchlichen Traditionsgeschichte generationenübergreifend zu erschließen, weiterzutragen und für die Gestaltung einer im Dienste des Menschen stehenden rechtlichen Ordnung fruchtbar zu machen. Also: Lernen von der Vätern – und natürlich Müttern auch für das Verhältnis von Kirche und Recht.

Was sind nun solche Erfahrungen und Erkenntnisse ihrer Traditionsgeschichte, die die evangelische Kirche in die Diskussion um das Recht einbringen kann? Ich greife vier für meine Sicht des Christenmenschen im Recht besonders wichtige Erfahrungsgeschichten heraus:

II.

1. 

Ich beginne bei den biblischen Überlieferungen: Wie war das damals mit den zehn Geboten?
 
Gott lässt Mose ja nicht nur die zehn Gebote wissen, sondern dazu noch eine große Menge an Rechtsordnungen (2. Mose 20-23). Diese Rechtsordnungen enthalten eine Vielzahl unterschiedlicher Regelungen von den Rechten der hebräischen Sklaven über Sanktionen bei Vergehen gegen Leib und Leben bis hin zu Regelungen für die Heiligung des Sabbats und der großen Feiertage. Es ist bemerkenswert, wie detailreich selbst die Gestaltung der Stiftshütte, der Bundeslade und der Priesterkleidung sowie Fragen der Opfergaben und der Steuer für das Heiligtum reglementiert sind. Es ist an alles gedacht, bis hin zur Zubereitung des Räucherwerks. Das waren Zeiten für das ius liturgicum! Heute fällt es ja schon schwer, den Talar mit Beffchen als Amtstracht den Pfarrern verbindlich vorzugeben.

„Mose kam und sagte dem Volk alle Worte des Herrn und alle Rechtsordnungen. Da antwortete alles Volk wie aus einem Munde: Alle Worte, die der Herr gesagt hat, wollen wir tun.“ (2.Mose 24 V. 3). Kaum aber ist Mose wieder herauf zu Gott auf den Berg Sinai gegangen, um die Steintafeln mit den zehn Geboten offiziell entgegenzunehmen, wirft das Volk diese Rechtordnungen sofort über den Haufen. Es fiel von Gott dem HERRN ab und machte sich ein goldenes Kalb zu seinem Gott. Mose ist bei seiner Rückkehr so erzürnt, dass er die Gesetzestafeln aus der Hand warf und zerbrach (2.Mose 32 V. 1 u.18).

Auch Gott ist zornig, aber das Volk Israel erhält noch eine zweite Chance. Nun ist es Mose ganz wichtig, dass die Gebote dem Volk im Gedächtnis bleiben, und es nicht wieder auf ein Goldenes Kalb zurückfällt. Deswegen mahnt er, dass Gottes Gebote einen „Sitz im Leben“ haben müssen. Mose spricht: „So nehmt nun diese Worte zu Herzen und in eure Seele und bindet sie zum Zeichen auf eure Hand und macht sie zum Merkzeichen zwischen Eure Augen und lehrt sie eure Kinder, dass du davon redest, wenn du in deinem Hause sitzt oder unterwegs bist, wenn du dich niederlegst oder wenn du aufstehst. Und schreibe sie an die Pfosten deines Hauses und an deine Tore, auf dass ihr und eure Kinder lange lebt in dem Land, das der Herr, wie er deinen Vätern geschworen hat, ihnen geben will, solange die Tage des Himmels über der Erde währen“ (5. Mose 11 V. 18-21).

Mose sorgt sich um die Weitergabe dieser Ordnungen und gibt schließlich die Weisung aus: „Jeweils nach sieben Jahren zur Zeit des Erlassjahres, am Laubhüttenfest, wenn ganz Israel kommt zu erscheinen vor dem Angesicht des Herrn ... sollst du dies Gesetz vor ganz Israel ausrufen lassen. Versammle das Volk, die Männer, Frauen und Kinder und den Fremdling, der in deinen Städten lebt, damit sie es hören und lernen und den Herrn, euren Gott fürchten und alle Worte dieses Gesetzes halten und tun“ (5. Mose 31 V. 10-12).

Dieses ist eine zentrale Erkenntnis für unseren Umgang mit Gottes Geboten, aber auch mit den weiteren guten Ordnungen für das Zusammenleben: um sie zu halten und zu erhalten, müssen wir sie immer wieder vor Augen haben, verinnerlichen, beherzigen. Und es gilt, dieses Wissen von Generation zu Generation weiterzugeben. Denn gute Ordnungen dürfen nicht in Vergessenheit geraten. Sie müssen immer wieder neu gelernt und gelebt, aufgeschrieben und erklärt werden.

2.

Meine zweite Geschichte erzählt davon, dass ein solches „Lernen von den Vätern“ bei den rechtlichen Ordnungen auch seine Tücke haben kann. Mephisto bringt das in Goethes Faust auf folgende einprägsame Formel:

„Es erben sich Gesetz und Rechte
wie eine ewge Krankheit fort;
sie schleppen von Geschlecht sich zu Geschlechte
und rücken sacht von Ort zu Ort.
Vernunft wird Unsinn, Wohltat Plage:
Weh dir, dass du ein Enkel bist!
Vom Rechte, das mit uns geboren ist,
von dem ist leider nie die Frage.“

Den Reformatoren um Martin Luther wurde das Kirchenrecht des Mittelalters zu einer solchen Plage. Sie spürten, dass die von Generation zu Generation überlieferten rechtlichen Formen der Kirche das geistliche Leben ausgezehrt hatten. Sie stießen sich an erstarrten Regelungen des kanonischen Rechts über die klerikale Hierarchie. Sie widersprachen der ritualisierten Sündenvergebung durch erkauften Ablass. Diese Liste ließe sich fortführen. Und sie erklärt Luthers Abneigung gegenüber den Juristenmenschen, zumindest wenn man seinen Tischreden Glauben schenkt. Dort heißt es:

„Juristen wissen nicht, was die Kirche ist. Wenn sie ihre Bücher alle durchsuchten, so fänden sie nicht, was die Kirche ist. Ein jeglicher Jurist ist entweder ein Schalk oder ein Esel, der nichts kann in göttlichen Sachen. ... Und wenn ein Jurist darüber disputieren will, so sag ihm: Hörst Du Gesell, ein Jurist soll hier nicht eher reden, es farze denn eine Sau.... Es ist ein altes Sprichwort: Ein Jurist, ein böser Christ. Und es ist wahr.“

Was aber setzten die Reformatoren dem entgegen? Vor allem die geistliche Entdeckung: dass der Mensch allein durch Christus gerechtfertigt ist, dass die Identität und der Wert eines jeden Menschen allein in der Anerkennung durch Gott begründet ist, unabhängig von seiner natürlichen Ausstattung, seinem gesellschaftlichen Status, seinem individuellen Vermögen, seiner religiösen Leistung und eben auch seiner rechtlichen Stellung. Das ist im Kern die Erkenntnis von der befreienden Botschaft des Evangeliums, dass der Mensch mit den eigenen Schwächen und Fehlern von Gott ganz angenommen ist.

Für Luther persönlich war diese Entdeckung von der Freiheit eines Christenmenschen ein echter Durchbruch. Viele Menschen suchen auch heute nach einem solchen Befreiungsschlag, der das ganze Leben prägt und stärkt. Und es naht eine gute Gelegenheit, für diese befreiende Erkenntnis der Rechtfertigungsbotschaft wieder neu in unserer Gesellschaft zu werben: 2017 jährt sich der Thesenanschlag Martin Luthers in Wittenberg zum 500. Male. Was für eine Chance!

Es geht 2017 nicht um eine Luther-Jubelfeier, sondern um neue Zugänge und Aufbrüche zum Glauben auf der Grundlage des reformatorischen Erbes. Und es geht darum, 500 Jahre Reformation mit den vielfältigen Auswirkungen auf die Entwicklung in Staat und Gesellschaft, Politik, Wirtschaft, Bildung, Kultur und eben auch Recht zu veranschaulichen. Dazu dienen die verschiedenen Themenjahre, die bis zum Jahr 2017 auf das Reformationsjubiläum hinführen. Für unser Thema „Der Christenmensch im Recht“ sind etwa die Jahre 2013 „Reformation und Toleranz“ und 2014 „Reformation und Politik“ von besonderer Bedeutung.

Wenn es in Glaubensfragen nach Luther also allein auf die Gnade Gottes ankommt, dann kann und darf weltlicher Autorität hier keine Macht zukommen. So ging es Luther bei seinen Auseinandersetzungen mit den Juristen darum, deren Übergriffe auf die befreiende Botschaft von Gottes Liebe durch Jesus Christus zu den Menschen abzuwehren. Zum wahren Glauben führt nur das geistliche Wort, nicht weltliche Zwangsgewalt. Das war für Luther entscheidend. Zwang war auch nach Luther hingegen überall dort nötig, wo Menschen nicht allein auf Gottes Wort hören und deshalb nur mit äußerer Ordnungsmacht zu einem friedlichen Zusammenleben angehalten werden können.

Diese Erkenntnis der Zwei Reiche und Zwei Regierweisen Gottes prägt bis heute die rechtliche Gestaltung der evangelischen Kirche und ihren Beitrag zur Gestaltung der staatlichen Ordnung. Das geistliche Regiment gründet allein auf Gottes Wort und Sakrament. Das andere, weltliche Regiment gewährleistet mit äußeren Mitteln bis hin zum Einsatz staatlicher Gewalt die äußere Ordnung und den Frieden im Zusammenleben der Menschen.

3.

Meine dritte Geschichte knüpft an leidvolle Erfahrungen aus dem Kirchenkampf an. Der Totalitätsanspruch des nationalsozialistischen Regimes erstreckte sich von Anfang an auch auf den Bereich von Kirche und Religion. Denn der nationalsozialistische Staat erhob einen Führungs- und Führeranspruch für alle Lebensbereiche der Gesellschaft. Viele evangelische Kirchenleitungen gerieten alsbald unter den Einfluss der „Deutschen Christen“, des kirchenpolitischen Stoßtrupps der Nationalsozialisten.

Welche Erfahrungen zur Gestaltung des Rechts sind hier auf Seiten der evangelischen Kirche anzuführen? Es ist zum Einen die Einsicht in eine vielfache Schuldverstrickung. Zum Anderen aber können hier auch positive Gestaltungsansätze benannt werden. Die Bekennende Kirche widersetzte sich dem Totalitätsanspruch der Nationalsozialisten auf der Bekenntnissynode in Wuppertal-Barmen 1934. In der dort verabschiedeten Theologischen Erklärung heißt es in der 1. These: „Jesus Christus, wie er uns in der Heiligen Schrift bezeugt wird, ist das eine Wort Gottes, das wir zu hören, dem wir im Leben und im Sterben zu vertrauen und zu gehorchen haben.“Auf dieser Grundlage ist das Wesen und der Auftrag der Kirche allein dadurch bestimmt, dass „Jesus Christus in Wort und Sakrament durch den Heiligen Geist als der Herr gegenwärtig handelt“ (III. These). Deshalb verwarf die Bekennende Kirche die „falsche Lehre, als dürfe die Kirche die Gestalt ihrer Botschaft und ihrer Ordnung ihrem Belieben oder dem Wechsel der jeweils herrschenden weltanschaulichen und politischen Überzeugungen überlassen“. Das Kirchenrecht bleibt danach dienend darauf bezogen, den Verkündigungsauftrag der Kirche möglichst optimal zur Entfaltung zu bringen.

Die Kirche muss sich dabei auf ihren Verkündigungsauftrag beschränken und darf sich nicht „staatliche Art, staatliche Aufgaben oder staatliche Würde aneignen und damit selbst zu einem Organ des Staates werden“. Auf der anderen Seite darf aber auch der Staat nicht „über seinen besonderen Auftrag hinaus die einzige und totale Ordnung menschlichen Lebens werden und also auch die Bestimmung der Kirche erfüllen“.

Als Grundlage für diese Positionsbestimmung in der V. Barmer These zog die Bekennende Kirche eine biblische Weisung heran: „Fürchtet Gott, ehrt den König“. Dieser Vers aus dem ersten Brief des Petrus (Kapitel 2, Vers 17) bringt die auf Jesu Worte zurückgehende Unterscheidung zwischen dem „was des Kaisers ist“, und dem, „was Gottes ist“ (Matthäus 22, 21) prägnant zum Ausdruck. Für Christen stellt diese Unterscheidung eine zentrale Leitlinie dar. Im Kern geht es dabei auf der einen Seite um die Freiheit des christlichen Glaubens von der Bevormundung durch staatliche Macht. Und auf der anderen Seite gilt es, die Freiheit politischer Verantwortung vor religiöser Bevormundung zu bewahren.

Der spätere Oldenburger Oberkirchenrat Hermann Ehlers, der maßgeblich in der Bekennenden Kirche engagiert war, bringt die Erfahrungen dieser Zeit folgendermaßen auf den Punkt: „Nach mehreren Jahrhunderten des Landeskirchentums, in dem die Regierung der Kirche durch den Staat fast als selbstverständlich angenommen war ... wurde hier zum ersten Mal die Eigenbestimmung der Kirche nicht nur über ihre Lehre, sondern auch über ihre Ordnung, d.h. ihren ganzen Aufbau, proklamiert. Das Jahr 1934 wird dadurch immer seine Bedeutung in der Geschichte der Deutschen Evangelischen Kirche behalten, dass die Abwehr eines totalitären Zentralismus nicht zur Flucht in die atomisierten Landeskirchen führte, sondern in das gemeinsame Bekennen rief“ (Hermann Ehlers, Europa-Archiv 1947, S. 609, 612).

Soweit Sie, sehr geehrte Damen und Herren, mit der Oldenburger Kirchengeschichte vertraut sind, werden Sie Ihrem berühmten Oberkirchenrat der Nachkriegszeit sicher nach-sehen, dass er bei seiner Würdigung der Bekennenden Kirche eine Oldenburger Besonderheit unerwähnt lässt. Bereits 1849 verfügte eine Synode der Oldenburger Kirche die Trennung von Staat und Kirche in Oldenburg. Das landesherrliche Kirchenregiment war aufgehoben. Der Synode oblag das Gesetzgebungsrecht und der Oberkirchenrat war ihr als Amtsstelle zugeordnet. Freilich währte diese Eigenständigkeit der Oldenburger Kirche gegenüber dem Staat nur ausgesprochen kurz. Bereits 1852, also nur drei Jahre später, erhielt der Großherzog das landesherrliche Kirchenregiment zurück.

Eine andere Erkenntnis Hermann Ehlers aus der Zeit des Kirchenkampfes teilen Sie in Oldenburg aber hoffentlich nach wie vor: nämlich dass es darauf ankommt, die gewachsene Einheit quer durch die Bekenntnisse innerhalb der evangelische Kirche und quer durch die Grenzen der Landeskirchen für eine möglichst wirkungsvolle Evangelische Kirche in Deutschland zu nutzen. Hermann Ehlers hat sie eingesetzt für die Gestaltung der Grundordnung der EKD. Es war mit sein Verdienst, dass die evangelische Kirche ihre Einheit nach dem Zusammenbruch des nationalsozialistischen Regimes ausdrücklich auch auf die Ergebnisse aus dem Kirchenkampf und auf die Erkenntnisse aus der Barmer Theologischen Erklärung gegründet hat. Das ist ein hoher Anspruch, an dem wir uns gemeinsam messen lassen müssen.

4.

Bleibt schließlich und viertens noch ein Blick auf die Traditionsgeschichte des deutschen Staatskirchenrechts. Auch für das Staatskirchenrecht gilt, dass es mit dem Wechsel der Generationen immer schwieriger wird, seine Plausibilität, ja seine Überzeugungskraft deutlich zu machen. Die Stichworte Individualisierung, Pluralisierung, Säkularisierung und Europäisierung stehen für weitreichende Veränderungen unserer Gesellschaft.

In diesem Umfeld lohnt es sich aufzuzeigen, welchen Beitrag das Grundgesetz für das friedliche und freiheitliche Zusammenleben verschiedener Religionen leistet. Die Väter und Mütter des Grundgesetzes haben die unantastbare Würde und die unveräußerliche Freiheit des Menschen als den bestimmenden Maßstab für das staatliche Handeln herausgestellt. In Abkehr von den Verbrechen des nationalsozialistischen Staates wird darin deutlich, dass der Staat des Grundgesetzes „um des Menschen willen da“ ist, wie es der Verfassungsentwurf des Parlamentarischen Rates für das Grundgesetz ausgedrückt hatte.

Daraus folgt, dass der Verfassungsstaat des Grundgesetzes das Handeln des Staates und seine Ordnungen in den Dienst der freien Entfaltung aller Bürgerinnen und Bürger in der Gesellschaft stellt. Das setzt die grundrechtlich verbürgte Betätigung der Menschen in vielfältigen Formen frei, sei es je für sich allein oder in Gemeinschaft mit anderen.

Für die Ausgestaltung der Religionsfreiheit waren dabei jahrhundertelange Erfahrungen von konfessionellen Kämpfen mit unbeschreiblichem Leid und maßloser Zerstörung prägend. Schon früh sind in Deutschland staatliche Friedensordnungen errungen worden, die das Gegen-, Neben- und schließlich Miteinander von unterschiedlichen Konfessionen auf ein und demselben staatlichen Territorium ausgestalteten. Den Anfang dazu bildete der Augsburger Religionsfrieden von 1555. Diese Erfahrungen prägen bis heute das deutsche Staatskirchenrecht als ein System des freiheitlichen Ausgleichs. Das ist ein großer Schatz, den wir nicht verspielen dürfen.

Und dazu sollte man radikal mit missverständlichen Begriffen aufräumen: „Hinkende Trennung“ ist so ein Missgriff, den auch Wilhelm Sievers 1998 scharf zurückgewiesen hat. Der Begriff suggeriert etwas Krankhaftes, zumindest Unvollendetes im Verhältnis zwischen Staat und Religionsgemeinschaften. Dabei ist die Trennung zwischen Staat auf der einen Seite und Religionsgemein-schaften auf der anderen Seite klar gewährleistet: Der säkulare, religiös-neutrale Staat kann und darf nicht über religiöse Fragen befinden. Und die Religionsgemeinschaften können und dürfen nicht an Stelle des Staates dessen hoheitliche Aufgaben entscheiden. Auch hier gilt im übertragenen Sinne: „Fürchtet Gott, ehrt den König!“

Die wechselseitige Unabhängigkeit von Staat und Kirche ist in dem ausdrücklichen Verbot der Staatskirche fest verankert. Sie geht von der Unterschiedlichkeit des geistlichen Auftrags der Kirche und der weltlichen Aufgaben des Staates aus. Das System des freiheitlichen Ausgleichs von Staat und Kirche lebt davon, dass die Trennung von Staat und Kirche gleichermaßen Distanz und Kooperation gebietet. Das Grundgesetz gibt den Kirchen, Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften ganz bewusst und willentlich den Raum, ihren Auftrag in Freiheit und Unabhängigkeit auch öffentlich wahrzunehmen.

Hier besteht ein zentraler Unterschied zu Verfassungsordnungen anderer Staaten zum Beispiel zur französischen Laicité. Gerade die öffentliche Religionsfreiheit trägt dazu bei, dass Menschen ihr Leben am besten nach ihren religiösen Überzeugungen ausrichten können. Ein Blick auf andere Staaten zeigt uns, wie rasch und wie schutzlos Menschen wegen ihrer Religion in Bedrängnis, Not und Verfolgung geraten können. Die öffentliche Dimension freien religiösen Lebens und Wirkens führt dazu, dass unterschiedliche Religionsgemeinschaften voneinander wissen, neben- und miteinander wirken und sich wechselseitig respektieren können. Und die öffentliche Dimension prägt den Diskurs über die Werte und Grundorientierungen einer Gesellschaft. Unsere Gesellschaft lebt davon, dass sich in den unterschiedlichsten Lebensbereichen, wie der Politik, der Wirtschaft, der Wissenschaft, der Kultur und eben auch der Religion die Vielfalt gesellschaftlicher Kräfte in Freiheit entfalten.

Gerade in jüngster Zeit sind in der Öffentlichkeit immer wieder Forderungen laut geworden, das vom Grundgesetz gewollte und garantierte Verhältnis von Staat und Kirche in unserem Lande zu revidieren. Dabei wird der Begriff der Neutralität wie selbstverständlich ohne seinen vom Grundgesetz intendierten fördernden Impuls in Bezug auf Religionen und Weltanschauungen verstanden, der den Vätern und Müttern des Grundgesetzes ausdrücklich am Herzen lag. Wer so denkt, denkt nicht nur dem Buchstaben, sondern dem Geist unserer Verfassung zuwider! Dieses Argument sollte in der öffentlichen Diskussion nicht zu kurz kommen.

Darüber hinaus aber müssen wir immer wieder deutlich machen, wie sehr sich das verfassungsrechtliche Konzept einer fördernden Neutralität im Verhältnis von Staat und Religion bewährt hat. Für das Wirken der christlicher Kirchen, jüdischen Gemeinden, muslimischen Verbände und anderer religiöser Gruppierungen in der Bundesrepublik Deutschland besteht eine staatliche Ordnung, die auch mit Blick auf neue Religionskonflikte zukunftsfähig ist. Die verfassungsrechtlichen Gewährleistungen für die Wahrnehmung der individuellen wie der korporativen Religionsfreiheit sind so offen ausgestaltet, dass sie Muslimen und Christen ebenso wie Anhängern anderer Religionsgemeinschaften ermöglicht, ihr Leben bestmöglich nach ihren religiösen Vorstellungen auszurichten. Für alle gilt dann freilich auch, dass sie konsequent die Rechtsordnung einzuhalten haben, also nicht die Rechte anderer verletzen dürfen und z.B. die Gleichberechtigung von Frauen und Männern anerkennen müssen.

III.

Sehr geehrte Festversammlung: Das waren nur vier Beispiele. Es gibt so viele wunderbare Traditionsgeschichten, die wir Christen für die Gestaltung einer im Dienste des Menschen stehenden rechtlichen Ordnung fruchtbar machen können. Sie spielen für die rechtliche Ordnung unserer Gesellschaft eine wesentliche Rolle. Denn der christliche Glaube und die christlichen Kirchen üben eine „überragende Prägekraft“ für die Grundlagen des Staates, die Wertüberzeugungen und Einstellungen aus, auf denen der gesellschaftliche Zusammenhalt beruht - so betont es ausdrücklich das Bundesverfassungsgericht.
 
Wir Christen müssen diese Traditionsgeschichten nur erzählen, „zu Haus“ wie unterwegs. Und wir müssen dabei vor Augen haben, dass sie lebendig bleiben, dass die Weitergabe von Generation zu Generation nicht zu erstarrten Formen führt, sondern dass der Christenmensch dabei im Recht bleibt, im Recht, dass Gott selbst für ihn ausersehen, weil er ihn durch Christus angenommen hat.