"Kirche, die alle will", Vortrag auf dem 33. Deutschen Evangelischen Kirchentag im "Zentrum Lernhaus, Ein Deutschland"

Landesbischof Johannes Friedrich

Wie kann Kirche heute alle erreichen? Dieser Frage geht voraus, dass Kirche alle erreichen soll und will! Doch in der heutigen, pluralistischen Gesellschaft fragt sich mancher warum dem eigentlich so ist oder sein sollte.

Es ist nicht der Selbsterhaltungstrieb von Kirchen, Pfarrerinnen und Pfarrern, nicht von Diakoninnen und Diakonen, nicht von Kirchenmusikerinnen und Kirchenmusikern und auch nicht von Bischöfinnen und Bischöfen. Es geht nicht darum, unsere Institutionen, unsere Strukturen und Organisationen am Leben zu erhalten. Und es geht auch nicht primär darum die in den vergangenen Jahrhunderten durch die Kirchen entstandenen Traditionen und Kulturgüter in die kommenden Jahrhunderte hinüberzuretten.

Der Grund dafür, warum Kirche alle erreichen soll und will, ist der vor fast 2000 Jahren gegebene Impuls Jesu: „Mir ist gegeben alle Gewalt im Himmel und auf Erden. Darum gehet hin und machet zu Jüngern alle Völker: Taufet sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes und lehret sie halten alles, was ich euch befohlen habe" (Matth 28,18-20).

Der sogenannte Missionsbefehl ist eindeutig: Wir sind zu allen Menschen gesandt mit der Verkündigung des Evangeliums. Wir dürfen uns deshalb nicht nur an einen Teil der Menschen wenden, sondern wir müssen uns im Prinzip an alle wenden, an alle im Westen unseres Landes, an alle im Osten unseres Landes, an alle, die Not leiden und unterdrückt sind ebenso wie an alle, die Macht haben und reich sind, an Junge und Alte, an Bildungsferne und an Intellektuelle, usw.

Sie merken, liebe Schwestern und Brüder, das ist als Aufgabe fast ein Ding der Unmöglichkeit. Aber es ist der Auftrag, den wir als Volkskirche haben. Und wir sind Volkskirche und wir wollen Volkskirche sein, unabhängig davon, wie viel Prozent der Bevölkerung Mitglied in unserer Kirche oder auch in unseren Kirchen sind, weil wir uns an alle Menschen in unserem Volk wenden, weil wir meinen, unsere Botschaft ist wichtig für alle Menschen und weil wir in unseren Gemeinden Platz haben wollen für Menschen aus allen Bevölkerungsschichten und aus allen Milieus. Wir haben den Auftrag, für alle Menschen in unserer Gesellschaft ansprechbar zu sein und allen Menschen das Evangelium von der Liebe Gottes zu verkündigen.

Wenn wir dies als Ziel als Kirche im Blick haben, müssen wir als Volkskirche in der Öffentlichkeit präsent bleiben, dürfen wir uns nicht als Gesinnungsgemeinschaft der wahren Christinnen und Christen in den Winkel oder die Nische zurückziehen. Kirche gehört in die Öffentlichkeit. Kirche muss den Dialog pflegen - intern und in der Gesellschaft.

Keiner von uns, auch niemand, der ein Amt hat, weiß definitiv zu sagen, wo es in Zukunft in unserer Gesellschaft lang geht. Weg und Wahrheit wollen immer wieder neu im Heiligen Geist aktuell gewonnen werden. Dialog, gegenseitige Wertschätzung von Amt und Gemeinde, von Haupt- und Ehrenamtlichen, Transparenz der Entscheidungsprozesse sind unabdingbare Kennzeichen der Kirche von heute und von morgen, die das Wirken des Heiligen Geistes erleichtern und nicht erschweren sollen.

Was bedeutet das für die Strukturen unserer Kirche von morgen, wenn unsere Gesellschaft - im Osten wie im Westen - immer säkularer wird? Halten Sie mich nicht für phantasielos und auch nicht für traumtänzerisch, wenn ich sage: mit großer Wahrscheinlichkeit nicht wesentlich anders als heute. Die Pfarrerin, der Pfarrer ist in den Augen der Gemeinden ganz unverzichtbar. Kirchliches Leben ist Beziehungs-arbeit. Im Pfarrer, in der Pfarrerin finden die pastoralen Grundaufgaben Gottesdienst, Seelsorge und Unterricht ihre personale Konkretion. Was anders sein wird: Die Kirche von morgen wird noch weniger selbstverständlich sein als heute. Wir sind auf dem Markt. Darum brauchen wir Profil und müssen klar vermitteln, welchen Auftrag wir haben und dass das, worum es in der Kirche geht, den Menschen und der Gesellschaft dienlich ist.

Was ist denn dieses Profil? Für mich als lutherischen Christen ist es vor allem, dass ich mich von einem Gegenüber gehalten und bewahrt weiß, das mir mit Liebe und Vergebung begegnet und mich frei macht, den anderen mit Liebe und Vergebung zu begegnen. Die Gemeinschaft in Gottesdienst und Kirche stärkt meinen Glauben, meine Hoffnung und meine Liebe. Diese Erfahrung ist sehr beglückend und entspannend. Es ist genau das, was Menschen so dringend brauchen in einer immer komplexeren und undurchschaubaren Welt. Profil hat eine Kirche, die fröhliche, ihres Heils gewisse Christinnen und Christen schafft, nicht verbissene Rechthaber und Prinzipienreiter.

Und dies möchte ich gerne möglichst allen anderen Menschen in unserer Gesellschaft mitteilen. Ich möchte sie missionieren, so hat man das früher genannt als Mission noch nicht ein Unwort unter Christen war (unter Nicht-Christen gar nicht so sehr!).

Mission hat alle Menschen, hat die ganze Welt im Blick. Unsere bayerische Partnerkirche in Brasilien hat darum formuliert:

Die Mission ist Gottes Mission, nicht unsere. Gott ist es, der in die Welt kommt, uns zu retten. Er ist es, der uns sucht, der Mensch wird wie wir, in unserer Mitte lebt, die Ungerechtigkeit des Kreuzes erleidet und schließlich das Kreuz und den Tod überwindet und die Bußfertigen von all ihrer Sünde befreit. Gottes Mission ist es, die Welt so zu lieben, dass, wer in die Gemeinschaft mit seinem Sohn Jesus Christus kommt und an ihn glaubt, eine neue Kreatur ist, vom Tod ins Leben durchgedrungen ist und in der getrosten Hoffnung lebt, dass das Reich Gottes schon jetzt in sichtbaren Zeichen gegenwärtig ist und in Vollkommenheit kommen wird am Ende der Zeiten. Die Mission Gottes erfüllte sich in Jesus Christus und aktualisiert sich täglich in der Gemeinschaft der Heiligen, im Leben der Kirche Christi in der Welt. Die Mission ist Gottes.

Mission und Verkündigung sind mir darum besonders wichtig. So, wie wir Kirche immer nur ökumenisch verstehen können, ist Kirche auch immer missionarisch - nach außen gerichtet. Wir sind geschickt, im doppelten Sinn des Wortes: Wir sind als Christen in die Welt gesandt, und wir sind fähig, geschickt eben, die gute Botschaft von der Liebe und der Versöhnung Gottes allen Menschen weiterzusagen. Das ist unser Auftrag, der uns allen gleichermaßen aufgegeben ist: Missionarisch zu sein ist ein Wesenszug der ganzen Kirche - von allem Anfang an. Wie hätte sie sich sonst auch ausbreiten können?

Mission steht dabei unter dem Leitgedanken der Weggemeinschaft, wie es in der Geschichte der Jünger auf dem Weg nach Emmaus (Lk 24) zum Ausdruck kommt: Jesus geht mit seinen Jüngern. Er begleitet sie und hört zu, wie sie von ihrem Schmerz erzählen. Dann legt er ihnen die Schrift aus. Beim Brechen des Brotes erkennen die Jünger den Auferstandenen, der ihnen die Augen öffnet für Gottes neue Welt. Verwandelt durch diese Begegnung gehen sie hinaus in die Welt.

Diese biblische Geschichte zeigt uns: Durch die versöhnende Gegenwart Jesu werden aus verängstigten und enttäuschten Jüngern zuversichtliche Zeugen der Hoffnung, bevollmächtigt, die frohe Botschaft weiter zu erzählen. Und für uns heute heißt dies: Wir werden, wie die Jünger auf dem Weg nach Emmaus, hinein genommen in Gottes Mission, in seine Sendung in die Welt. Diese Sendung geschieht immer in einer konkreten Situation oder in einen bestimmten Kontext. Die ganze Schöpfung, das ganze Leben, der ganze Mensch in seiner jeweiligen besonderen Lebenssituation ist Ziel der Sendung Gottes. Für uns ist es wichtig, bei den Menschen in ihrer Situation zu sein und ihnen durch unser Reden und/oder durch unser Handeln zu zeigen, dass Gott sie liebt, wie immer ihre konkrete Lebenssituation aussieht.

Auch wenn wir gelegentlich die Bibel verschieden verstehen: Der Heilige Geist wirkt, wenn wir miteinander über die Schrift reden, wie wir sie auffassen und begreifen. Wir können den Geist Gottes bitten, dass er uns die rechte Erleuchtung schenkt, die keinem von uns von vorneherein gegeben ist. Wir verkündigen das Evangelium schon darin, wenn wir deutlich machen: Die Mitte der Schrift sehen wir in dem, „was Christum treibet". Das heißt, wir verkündigen die Liebe und Allmacht Gottes und seines Sohnes Jesus Christus, der für uns gekreuzigt wurde und auferstanden ist und uns darin Gottes Liebe gezeigt hat. Und diese zeigt sich nicht zuletzt im Umgang miteinander. Auch dies gehört zu unserem Missionsverständnis.
Mission ist damit der gemeinsame Einsatz der Christinnen und Christen für die Sache des Evangeliums im umfassenden Sinn. Es geht dabei auch um die Verbreitung der frohen Botschaft, die wir als Evangelisation bezeichnen. Mission ist aber mehr. Alles, womit das Evangelium glaubwürdig bezeugt wird: Predigt, Engagement für eine gerechte Globalisierung, Gebet, gegenseitige kirchliche Unterstützung, die Verbreitung der Bibel und diakonisches Handeln. Und nicht zuletzt das konkrete Leben des einzelnen Christen. Wir begreifen Mission ganzheitlich und nehmen die Kirche Jesu Christi überall auf der Welt in den Blick, wie sie in unterschiedlicher Weise die frohe Botschaft in Wort und Tat weiter gibt.
Darum kann es eigentlich kein Streitthema sein, ob die Kirche in Ortsgemeinden organisiert ist oder auch ganz anders, z.B. sich besonders um Zielgruppen kümmert. Wir brauchen Strukturen, die eine so verstandene Mission ermöglichen, erleichtern, unterstützen.

Nun gab es aber 2006 eine Schrift der EKD, die einige Forderungen stellte, die sehr umstritten waren. „Kirche der Freiheit" hieß die Schrift, die wir im Rat der EKD verabschiedet hatten. Wir wollten damit Impulse geben, um nicht unvorbereitet in die Zukunft zu gehen, die schon in wenigen Jahren eine Situation bieten könnte, in der „das hochexplosive Gemisch aus Versorgungskosten, Teuerungsrate und schrumpfenden Einnahmen zur faktischen Gestaltungsunfähigkeit führt" (Kirche der Freiheit, S. 2). Und in den Antwortversuchen dieser Schrift werden dann verschiedene Vorschläge gemacht, wie etwa: nur noch 50% der Gemeinden sollen Ortsgemeinden sein, die anderen Profil-, Personal- oder Zielgruppengemeinden. Dadurch wurde die Diskussion heftig befeuert: Sind nicht eigentlich die Ortsgemeinden die Orte, an denen Kirche sich verwirklicht, weil dort das Evangelium verkündet und die Sakramente verwaltet werden (CA VII), und alles andere, was Kirche sonst noch macht, ist eigentlich unnötig und Humbug? So die eine Seite.

Und auf der anderen Seite wird argumentiert: In der Ortsgemeinde erreicht man nur 15 -20% der Kirchenmitglieder, die eigentliche missionarische Arbeit kann eigentlich nur in der Zielgruppenarbeit geschehen, wo man viel direkter an die Menschen herankommt, also in Notfall-, Krankenhaus- und Militärseelsorge, in der Arbeit mit Alleinerziehenden und Jugendlichen, in der Friedens- und Umweltarbeit, weil man dort auf die Menschen trifft, die wie wir Christen ihre Verantwortung für diese Welt wahrnehmen, in der Arbeit mit Arbeitnehmern und Gewerkschaften, in der Begegnung mit Unternehmern und Managern, in der Arbeit mit Künstlern und Schriftstellern, im Hingehen zu den Urlaubern und in die Freizeitwelt usw.

Sie merken an dieser Aufzählung: Natürlich können wir in unserer Gesellschaft nur dann alle Menschen oder wenigstens möglichst viele Menschen mit dem Evangelium erreichen, wenn wir beides tun: In der Ortsgemeinde den Menschen eine geistliche Heimat verschaffen, die dorthin kommen und die wir dorthin einladen können - und gleichzeitig zu möglichst vielen Orten hingehen, wo die Menschen sind.

Naturgemäß stehen wir dann aber vor einem Problem: Wie können wir z. B. Unternehmer mit dem Evangelium erreichen, wenn wir gleichzeitig mit den Gewerkschaften dafür eintreten, dass Arbeitnehmer menschenwürdig bezahlt werden und darum gegen eine Leiharbeit sind, wo Mitarbeitende wesentlich schlechter bezahlt werden als die Stammarbeiter nach Tarif? Nur als Beispiel! Die Solidarität mit den Friedensbewegten und die Militärseelsorge könnte man auch als Beispiel heranziehen.

Wie können wir unsere gesamtgesellschaftliche Relevanz leben - und gleichzeitig Kirche für alle sein? Ich denke, es geht. Es geht dann, wenn wir jeden Menschen und erst recht jedes Kirchenmitglied als Geschöpf Gottes ernst nehmen, so wie Gott ihn ernst nimmt, gleich welche Ansichten er hat und welche Meinung er vertritt. Und wenn wir so Vertrauen schaffen und nicht Gruppen in unserer Gesellschaft verteufeln, in denen Christen vertreten sind und ihnen unterstellen, insgesamt nicht nach christlich-ethischen Prinzipien zu handeln. Wenn wir so Vertrauen geschaffen haben, dann können wir zugleich klar vom Wort Gottes herkommend auch Stellung beziehen für die Unterdrückten und Notleidenden. Wenn wir dies so machen, dass die anderen merken: unser Reden ist geprägt von der Liebe Gottes zu den Menschen, dann werden sich die Angesprochenen in der Regel auch ansprechen lassen und nicht gleich abblocken, wenn wir an manchem Verhalten Kritik üben.

Ich hoffe, wünsche und bete, dass uns dies gelingen möge.