Rede zur Verleihung des Karl-Barth-Preises der UEK

Prof. Dr. Georg Hunsinger

Karl Barth und die Menschenrechte

Die Vereinigten Staaten sind im Zeitraum der letzten zehn Jahre in geradezu ununterbrochener Folge von beunruhigenden Ereignissen heimgesucht worden. Hierzu gehören eine möglicherweise gestohlene Präsidentschaftswahl, die Gräuel des 11. September 2001 von nicht abschätzbarer Tragweite und die vielen immer noch offenen Fragen dieser Zusammenhänge. Erst kam die Invasion in Afghanistan, dem "Friedhof großer Reiche" (schon damals ein zweifelhaftes Unterfangen, wenn auch anfänglich von großer Zustimmung getragen), gefolgt von dem unter Vortäuschung unbewiesener Tatsachen begonnenen Irakkrieg und dem Scherbenhaufen der Besatzung, alles mit ungeheuren Kosten an Geld und Menschenleben. Abu Ghraib, Guantanamo Bay und die Zulassung von Folter sind hier zu erwähnen wie auch eine weitere, von Verdacht überschattete Präsidentschaftswahl. Im gleichen Zeitraum erlebten wir einen schwindelerregenden Sturz der Vereinigten Staaten aus der Position eines der größten internationalen Gläubiger zur größten Schuldnernation der Erde. Und schließlich mussten wir auch noch erleben, wie durch die Obama-Regierung falsche Hoffnungen geweckt wurden: So wurde nicht nur die versprochene Zerschlagung des infrastrukturellen Aufbaus, der die Folter in den Vereinigten Staaten möglich gemacht hat, nicht durchgeführt (obwohl immerhin zurückgefahren), sondern durch grobe Inaktivität wurde auch noch die in der amerikanischen Politik verbreitete Unkultur der Schamlosigkeit gefördert. Unter Obama wurde niemand in gehobener Stellung zur Rechenschaft gezogen für die ungeheuren, ungehindert ins Meer fließenden Ölmengen an der Golfküste, für die Kriminalität der Wall Street Finanzkrise und auch nicht für die Anwendung von Folter. Erst kürzlich wurde ein dritter Krieg, der sich schnell zu einem Morast entwickelt, angeblich aus "humanitären Gründen" in Libyen angefangen, einem Land, das ähnlich wie Irak reich an Ölvorkommen ist, während der seit langem gejagte Osama bin Laden, unbewaffnet und widerstandslos, einer außergerichtlichen Tötung zum Opfer fiel, statt dass er gefangen genommen und vor Gericht gestellt worden wäre, wie es internationalem Recht entsprochen hätte und wie es den Kriegsverbrechern 1945 in Nürnberg zugestanden wurde (die bekanntlich nicht standrechtlich erschossen und dann ins Meer geworfen wurden). All dies ergibt kein gutes Bild, und dabei ist dies nur eine unvollständige Aufzählung.

Nach der Tötung bin Ladens, die überall in den Vereinigten Staaten zu chauvinistischen Feiern befriedigter Rachgier Anlass gab, brach die abstoßende amerikanische Debatte darüber, ob Folter sich rechtfertigen ließe, wieder auf. So wurde es nötig, die schon lange bekannten und oft wiederholten Argumente erneut anzusprechen, dass Folter unmoralisch, illegal und kontraproduktiv ist – in dieser Reihenfolge. Folter ist unmoralisch, weil sie ein hilfloses Opfer, ganz gleich ob schuldig oder unschuldig, bis zur irreversiblen psychischen Zerstörung, wenn nicht sogar Tod, der Brutalität preisgibt. Sie ist illegal, da international durch niedergeschriebenes Gesetz als Verbrechen untersagt. Und sie ist kontraproduktiv, da spätestens seit Aristoteles bekannt ist, dass Folter keine verlässlichen Ergebnisse zeitigt (was man sich im übrigen selbst denken kann, auch wenn man nicht Aristoteles ist). So ziemlich alle Fachleute sind sich einig – außer denen, die selbst eine gerichtliche Verfolgung wegen Kriegsverbrechen zu befürchten haben – dass Folter kein probates Instrument ist, um Informationen zu sammeln. Der Rückgriff auf Folter hat möglicherweise – so meinen jedenfalls einige Kenner der Lage – die Suche nach Osama bin Laden um mehrere Jahre verlängert.

Folter ist aber nicht nur ein Punkt unter anderen. Wie der Jurist Professor Jeremy Waldron ausführt, gehört das Folterverbot zu den "Archetypen", die man ohne Ausnahme dort findet, wo Recht und Gesetz herrschen bzw. von Rechtsstaatlichkeit die Rede sein kann, als "Abbild des Ganzen", so dass das Folterverbot die Grenze markiert zwischen Zivilisation und Barbarei, zwischen rechtsstaatlicher Regierung und Diktatur.[1] Folter stellt eine tiefgreifende Bedrohung des Rechtsstaates und der Rechtsstaatlichkeit dar. Gleichzeitig geht es hier aber auch um grundsätzliche moralische und geistige Fragen.

2005, ein Jahr nach dem Bekanntwerden der Fotos aus Abu Ghraib, fing ich an, ein Programm gegen die Bush-Folter zu organisieren. In der Erinnerung an Martin Luther Kings Satz, dass es eine Zeit geben kann, in der Schweigen Verrat ist, hielt ich es für nicht länger erträglich, dass Kirchen in Amerika nicht mehr unternahmen, dass sie ihre Stimme nicht lauter hören ließen. Im Januar 2006 gründete ich dann, im Rahmen einer im Princeton Theological Seminary tagenden Konferenz, die National Religious Campaign Against Torture (NRCAT). Als ich auf dieser Konferenz gefragt wurde, wie meine Bemühungen gegen die Folter sich mit meinen Arbeiten zu Karl Barth in Beziehung setzen ließen, sagte ich: "Was würde es helfen, ein ganzes Leben mit dem Lesen von Karl Barth zu verbringen, ohne die Bereitschaft zum Handeln, wenn es an der Zeit ist?"

Heute ist NRCAT die religiös am meisten diversifizierte, progressive politische Bewegung in der amerikanischen Geschichte. Katholiken und Evangelische, Muslime und Juden, Angehörige des uramerikanischen Protestantismus und vieler anderer religiöser Gruppierungen gehören dazu. In kurzer Zeit – sechs Jahre vor dem heutigen Datum existierte die Bewegung noch gar nicht – erfuhr die Bewegung ein ganz außerordentliches Wachstum, bedeutende Menschenrechtsorganisationen zeigten ihre Anerkennung, und sie konnte sich zunehmend bei gewählten Volksvertretern Gehör verschaffen. Was als die Arbeit von drei unbezahlten ehrenamtlich Tätigen begann, von denen ich einer war und von denen jeder mit dieser Aufgabe etwa einen zweiten vollen Arbeitsauftrag schulterte, ist jetzt eine Organisation mit einem bezahlten Executive Director und einem kleinen voll bezahlten Mitarbeiterstab in Washington, D.C., geworden. Im Land verteilt hat NRCAT mehr als 30 religiöse Mitgliedsvereine und zählt 57.000 Unterstützer.[2]

Bei der Gründung anvisierte Langzeit-Ziele von NRCAT sind:

  • Änderungen im Bereich der Politik zu erreichen, zum – ausnahmslosen – Verbot jeglicher durch die Vereinigten Staaten gebilligten Folter und grausamer, inhumaner und herabwürdigender Behandlung von Inhaftierten.
  • Einen moralischen Konsens im amerikanischen Volk zu fördern, dass Folter unter keinen Umständen akzeptabel ist.
  • Nationale und regionale religiöse Organisationen, Gemeinden und Einzelne zu befähigen, sich aktiv für die Beendigung aller von den Vereinigten Staaten gebilligter Folter einzusetzen, und die Öffentlichkeit über Folter und die Behandlung von Inhaftierten zu informieren und aufzufordern, von den Vereinigten Staaten gebilligte Folter zu beenden, einschließlich von anderen im Auftrag durchgeführter Folter.

Die unmittelbarsten Bemühungen heute richten sich auf:

  • Die Schaffung einer unparteiischen Kommission zur Untersuchung der Formen von Folterpraxis und der Taktik der U.S.-Regierung nach dem 11. September 2011.
  • Die Verantwortlichen öffentlich zur Rechenschaft zu ziehen.
  • Einzelhaft in U.S.-Gefängnissen abzuschaffen.
  • Druck auf die U.S.-Regierung auszuüben zur Annahme des UN-Zusatzprotokolls zur Konvention gegen Folter (Optional Protocol to the Convention Against Torture, OPCAT), wodurch ein Inspektionssystem für Haftanstalten auf der ganzen Welt in Kraft gesetzt werden könnte.

Welche Gründe lassen sich auf der Basis von reformatorischer Theologie für diese Bemühungen finden? Hier bieten sich in erster Linie zwei Antworten an, die sich aber nicht gegenseitig ausschließen. Die eine, basierend auf der Schöpfungslehre, beruft sich auf den Glauben, dass alle Menschen zum Bilde Gottes geschaffen sind. Diese Argumentation wird oft, im Anschluss an Johannes Calvin, von Angehörigen der reformierten Tradition vertreten. Die zweite Antwort hat eher die Lehre von der Erlösung in Christus im Blick, mit der Rechtfertigung im Glauben als ihrer zentralen Aussage. Hier treffen sich, wie sich zeigt, Martin Luther und Karl Barth. Wir wollen jede dieser Antworten betrachten.

Die reformierte Berufung auf die Gottebenbildlichkeit

Da Calvin die Erlösung auf die Erwählten begrenzt sah, wäre es ihm nicht möglich gewesen, so etwas wie universale Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit unmittelbar in der Lehre von der Erlösung zu begründen. Beachtenswert ist dabei aber seine Berufung auf die Schöpfungslehre, nach der alle Menschen zum Bilde Gottes geschaffen sind. So konnte Calvin in seiner Institutio schreiben:

"Nur einen Weg gibt es, auf dem wir zu einem Ziel kommen können, das auf andere Weise nicht nur schwer zu erreichen, sondern ganz und gar gegen die menschliche Natur ist, nämlich dass wir die lieben sollen, die uns hassen, ihnen Böses mit Gutem vergelten und sie segnen sollen, wenn sie uns fluchen. Das können wir nur erreichen, wenn wir uns erinnern, nicht über ihre Bosheit nachzudenken, sondern auf das Ebenbild Gottes in ihnen zu schauen, durch welches ihre Fehler zugedeckt und getilgt sind, so dass seine Schönheit und Würde uns gewinnt, sie zu lieben und anzunehmen."[3]

Hier geht es also darum, dass das Ebenbild Gottes nicht nur in allen Menschen sichtbar ist, sondern ganz besonders in denen, die unsere Feinde sind. Das Tun des Schöpfers, der das göttliche Bild verliehen hat, sollte, so betont Calvin, als der vorrangige Faktor dienen dafür, wie wir unsere Feinde behandeln, trotz des Missbrauchs, den sie unter Umständen mit dem Bild, das sie tragen, treiben.

Ein neueres Beispiel der Berufung auf die Ebenbildlichkeit Gottes findet sich bei Nicholas P. Wolterstorff, einem reformierten Religionsphilosophen, der in Yale unterrichtete. Für Wolterstorff liegt die Bedeutung der imago Dei darin, "dass jeder Mensch eine bestimmte Würde besitzt auf Grund dessen, dass er die imago trägt..."[4] "Meine Beurteilung der Rechte", fährt er fort, "ist eine auf die Würde gegründete Beurteilung" (169). "Rechte sind, was die Achtung vor dem Wert fordert" (170). Alle Menschen haben eine "Wert-verleihende Beziehung zu Gott", eben weil sie Gottes Bild tragen, und das schließt "auch die am stärksten beeinträchtigten Menschen" ein (171).[5] Wolterstorff endet seine Überlegungen mit einem Hinweis, wie das in der Schöpfung begründete Motiv der imago Dei mit Elementen der christlichen Lehre von der Erlösung in Verbindung zu bringen sein könnte: "Gott liebt erlösend", schreibt er, "alle, die die imago Dei tragen – liebt sie in gleicher Weise und ohne Aufhören. Der Wert, den wir darum haben, weil wir in dieser Weise von Gott Ausgezeichnete sind, ist es, auf dem die natürlichen Menschenrechte beruhen" (171). Die Menschenrechte sind hier also so zu verstehen, dass die Grundlage, auf der sie beruhen, der Wert ist, der allen Menschen, die Gottes Bild tragen und von Gott erlösend geliebt werden, gegeben ist.

Luther und das evangelische "so wie"

Die andere Antwort, bei der die universalen Menschenrechte ihren Grund unmittelbar in der Lehre von der Erlösung in Christus haben, ist in ihren ersten Umrissen bei Martin Luther zu erkennen. Obwohl Luther sich natürlich nicht, ebenso wenig wie Calvin, in irgendeiner direkten Weise mit der modernen Idee der Menschenrechte auseinandergesetzt hat, hat er mit seinem Denken doch eine bestimmte Richtung vorgegeben, die Jahrhunderte später für so jemanden wie Barth von Bedeutung sein sollte. Luther gründete seine evangelische Ethik weniger auf die imago Dei als auf die Aussagen von der errettenden Gnade. Er konnte diesen Indikativen mit Überschwang Ausdruck geben:

"Wohlan, mein Gott hat mir unwürdigem, verdammtem Menschen, ohne alle Verdienste, rein umsonst und aus eitel Barmherzigkeit, durch und in Christus den vollen Reichtum aller Frommheit und Seligkeit gegeben, so dass ich hinfort nichts mehr bedarf als zu glauben, dass es so sei."[6]

Das Geschenk der Erlösung, das dem verlorenen Sünder gemacht wird, ist ein komplexer Vorgang. Es geschieht allein in Christus, allein aus Gnade, allein durch Glauben. Erworben durch Christi errettenden Gehorsam an seinem Ort und zu seiner Zeit (solus Christus) wurde die vollkommene Erlösung in all ihrer Fülle (tota salutis) gegeben – für gar nichts und aus reiner Gnade (sola gratia) – den unwürdigen und verlorenen Menschen hier und jetzt (totus peccatores), unter der einzigen Bedingung, dass sie sie im Glauben (sola fide) annehmen. Von dort, vom Ursprung der Erlösung her gesehen, ist die göttliche Barmherzigkeit die innere Motivation, die unverbrüchliche Liebe ist der in die Tat umgesetzte Inhalt und die souveräne Freiheit die wesenhafte Form dieses Geschenks.

Was nun die Ethik betrifft, so geht er hier darum, wie sich der menschliche Imperativ von dem göttlichen Indikativ herleitet. Der Indikativ gibt das Modell (das Analogans) vor, dem wir uns mit unserem Leben angleichen sollen (als dem Analogat). Christus gleich zu werden (mit allem gebotenen Respekt hinsichtlich seiner unwiederholbaren Einzigartigkeit) trat als die richtunggebende Norm hervor. Als Antwort auf seine sich selbst hingebende Liebe soll unser Leben geprägt sein von Dankbarkeit, Güte und Freiheit. Luther fährt fort:

"Ei, so will ich solchem Vater, der mich mit seinen überschwänglichen Gütern so überschüttet hat, wiederum frei, fröhlich und umsonst tun, was ihm wohlgefällt, und meinem Nächsten gegenüber auch ein Christ werden, so wie Christus es mir geworden ist, und nichts mehr tun als das, wovon ich sehe, dass es ihm not, nützlich und selig ist, weil ich doch durch meinen Glauben in allen Dingen in Christus genug habe. Sieh, so fließt aus dem Glauben die Liebe und die Lust zu Gott und aus der Liebe ein freies, williges, fröhliches Leben, dem Nächsten umsonst zu dienen. Denn so wie unser Nächster Not leidet und unseres Überflusses bedarf, so haben ja auch wir Not gelitten und seiner Gnade bedurft." [7]

Das evangelische "so wie" findet sich hier zweimal: So wie unser Nächster Not leidet... so haben ja auch wir Not gelitten. Und: So will ich meinem Nächsten gegenüber auch ein Christ werden, so wie Christus es mir geworden ist.

Die Analogie der Not, der Bedürftigkeit, bringt eine Analogie der Güte, der Zuwendung hervor. Wir haben hier eine Bewegung vom Größeren zum Geringeren. Weil Gott uns so überschwänglich erlöst hat von der großen Not der Sünde, des Todes und des Teufels (wie Luther sagen würde), wie sollten wir nicht unsere helfende Hand ausstrecken zu unseren Nächsten, deren Not in diesem Leben wir sehen? Da Gott uns so reich gesegnet hat, sollten wir da nicht mit Freuden unsererseits das tun, was Gott gefällt? Das heißt, anderen zu tun, so wie Gott in Christus uns getan hat und immer noch tut. Wir tun also, was ihnen "not, nützlich und selig" ist. Entsprechend der Gnade, die wir empfangen haben, dienen wir unsern Nächsten "frei, fröhlich und umsonst". Wir können Gott nicht lieben und uns seiner freuen, ohne uns in Freundlichkeit unserem Nächsten zuzuwenden.

Unsere Mitmenschen sollten, trotz ihrer Schuld und Schande, mit nachsichtiger Liebe angesehen werden, denn so hat Christus uns angesehen. Da wir alle verbunden sind in der Solidarität der Sünde, können wir ihnen nicht die Freundlichkeit in dem Maß, wie Christus sie uns erwiesen hat, vorenthalten.

Nach Luther: Wie Barth das evangelische "so wie" auf die menschliche Gesellschaft überträgt

In seiner Ausarbeitung einer Ethik der Rechtfertigung schränkte Luther das, was ich als das evangelische "so wie" bezeichnet habe – "und lebt in der Liebe, gleichwie Christus uns hat geliebt und sich selbst für uns gegeben" (Eph 5,2) – auf den privaten Bereich ein. Die Ermahnung, anderen in ihrer moralischen Schwäche und ihren Fehlern mit Liebe und Nachsicht zu begegnen, wie Christus dies uns gegenüber getan hat, bezog sich nur auf private und zwischenmenschliche Beziehungen oder auch auf den geistlichen Bereich des Glaubens und der christlichen Gemeinde. Sie galt aber nicht unmittelbar für die weltliche Regierung oder politische Angelegenheiten.

Da galten andere Maßstäbe – nicht so hochherzig, begrenzter und strenger. Aus dem Evangelium sich ableitende gesellschaftliche Ideale wie Vergebung, Gleichheit und Verzicht auf Vergeltung hatten in der öffentliche Sphäre keine Geltung, wo der Versuch, sich nach ihnen auszurichten, nur schiefgehen konnte. Luthers berühmter Gegensatz von Gesetz und Evangelium (mit seinen offensichtlichen Augustinischen Wurzeln) findet sich in der Dichotomie der zwei Reiche, weltlich und geistlich, wieder.

Durch Barths Neubestimmung des weltlichen Reichs als gleichfalls unter der Herrschaft Christi stehend wurde es möglich, das evangelische "so wie" auch auf die Gesellschaft zu übertragen. Barth vollzieht diesen Schritt zwar nicht in seinem Aufsatz von 1938[8], er findet sich aber an anderer Stelle. Barth folgt exakt der Logik von Luthers Ethik, weitet sie dabei aber auf den Bereich der gesellschaftlichen und politischen Verantwortung aus. Durch Analogieschluss kommt er von der Rechtfertigung zur Gerechtigkeit. So macht er aus der Rechtfertigungslehre die reformatorische Version dessen, was lateinamerikanische Theologen später "Gottes Option für die Armen" nennen sollten.

Wie Luther so sagt auch Barth, dass die Gerechtigkeit Gottes für den verlorenen Sünder sowohl Erbarmen als auch Gericht bedeutet. Insofern als der Sünder verdammt und dem Tod überantwortet wird, bedeutet Gottes Gerechtigkeit den Schrecken des Gerichts. Aber insofern als der Sünder durch Gnade gerechtfertigt und mit dem Segen des Glaubens beschenkt wird, bedeutet Gottes Gerechtigkeit den Vorrang der Barmherzigkeit.

Gerechtigkeit ist also das, was definiert, wer Gott ist, sowohl an sich als auch für uns. Barth schreibt:

"Darin wird Gott sich selbst gerecht, darin tut er, was ihm gebührt, was seiner würdig ist, darin verteidigt und verherrlicht er sein göttliches Wesen: dass er unsere Gerechtigkeit ist, dass er denen Recht schafft durch sich selber, die aus sich und in sich keine Gerechtigkeit haben, deren eigene Gerechtigkeit vielmehr durch ihn aufgedeckt wird als Ungerechtigkeit und die er nun doch nicht sich selber überlässt, sondern denen er sich in seiner göttlichen Gerechtigkeit zu eigen gibt und so zu dem Grunde macht, auf dem sie – gegen ihr Verdienst und gegen ihre Würde, allein durch sein Verdienst und seine Würde... – stehen und leben können."[9]

Gottes Gerechtigkeit umfasst nach Barth sowohl vergeltende als auch aufrichtende Aspekte. Sie tötet, um lebendig zu machen, und macht lebendig durch Töten. Eben der Sünder, der in Christus vernichtet wurde, wurde mit ihm zum Leben gebracht aus dem Grab. In seinem Tod wurde Christus den Verurteilten gleich gemacht, in seiner Auferstehung triumphierte er als ihre Hoffnung. Seine Vereinigung mit ihnen ist zugleich stellvertretend und real. In einer einzigartigen, mit nichts vergleichbaren, apokalyptischen Transaktion wurde gerechte Vergeltung geübt, womit zugleich der Sünder zu neuem Leben eingesetzt wurde. Während Gott um kein I-Tüpfelchen von seiner Gerechtigkeit gewichen ist, hat sich doch seine Barmherzigkeit durchgesetzt.

Aus dieser Bestätigung von Gottes Gerechtigkeit im Dienste seiner Barmherzigkeit – der göttliche Indikativ – ergibt sich, so glaubt Barth, ein sozialer Imperativ. Aus Gottes Tat der Barmherzigkeit folgt "schnurgerade eine sehr bestimmte politische Problematik und Aufgabe" (II/1, 434). Gott hat sich für die verlorenen Sünder eingesetzt, trotz ihres verdienten Endes. Man kann sagen, dass der Sünder, dem vergeben ist, für menschliche Not und Elend überhaupt steht, wie es in denen zutage tritt, die schwach und wehrlos sind, in allen, die hilflos und bedrängt sind (vgl. Röm 5,6). Gottes Barmherzigkeit gegenüber den Sündern hat Folgen für alle anderen, auch geringeren, Nöte. Barth bemerkt, dass Gottes Zuwendung gerade zu dem geplagten und unterdrückten Volk Israel – "und innerhalb Israels im Besonderen: die Armen, die Witwen und Waisen, die Schwachen und Rechtlosen" (II/1, 434) – vorausweist auf Gottes Eingreifen am Kreuz.

Der Gott der Bibel ist ein Gott des gerechten Erbarmens, der sich das Leid der Menschen zu Herzen nimmt, sich selbst hineinbegeben und es von innen heraus überwunden hat (II/1, 315). Indem er vom Größeren auf das Geringere schließt, stellt Barth fest:

"Darum hat denn auch die von Gott geforderte... Gerechtigkeit... notwendig den Charakter der Herstellung des Rechtes zugunsten der bedrohten Unschuldigen, der unterdrückten Armen, Witwen, Waisen und Fremdlinge, darum steht Gott... jederzeit unbedingt und leidenschaftlich auf dieser und nur auf dieser Seite: immer gegen die Hohen, immer für die Niedrigen, immer gegen die, die ihr Recht schon haben, immer für die, denen es geraubt und entzogen ist." (II/1, 434)

Gottes Hinwendung zu den Bedrängten und Unterdrückten kann aber nicht ernst genommen werden, "ohne in der angedeuteten Richtung zur Verantwortung gezogen zu werden" (II/1, 434). Durch Gottes barmherziges Tun wird definitiv eine politische Haltung gefordert. Der Gläubige, "durch Christi Blut gerecht" (Röm 5,9), ist "allen denen gegenüber verantwortlich gemacht..., die vor seinen Augen arm und elend sind". Der glaubende Mensch ist aufgerufen, Erbarmen zu zeigen, so wie er oder sie Erbarmen erfahren hat, und darum "für das Recht derer einzutreten, die Unrecht leiden" (II/1, 435). Warum? "Weil ihm in ihnen sichtbar gemacht ist, was er selber vor Gott ist" – ein Mensch, der der Barmherzigkeit, die das Unrecht zurechtbringt, bedarf (II/1 435). Der glaubende Mensch ist mit dem Armen und Bedrückten durch die Solidarität der Bedürftigkeit verbunden.

Der gerechtfertigte Sünder

"...weiß, dass das Recht, dass jeder wirkliche Anspruch, den ein Mensch dem Anderen und den Anderen gegenüber hat, unter dem besonderen Schutz des gnädigen Gottes steht. Er kann diesem Anspruch, so gewiss er selbst von Gottes Gnade lebt, nicht ausweichen. Er kann sich der Frage nach dem menschlichen Recht nicht entziehen. Er kann nur den Rechtsstaat wollen und bejahen. Mit jeder anderen politischen Haltung würde er die göttliche Rechtfertigung von sich stoßen." (II/1, 435)

Gottes Rechtfertigung bedeutet Barmherzigkeit gegenüber denen in Not und Bedrängnis. Sie bedeutet, dass Gott nicht nur unsere Sünde erledigt hat, sondern von unserer Sünde seinen Blick auf unser Leiden richtet, von unserer Schuld auf unsere Unfreiheit und von unserem Stolz auf unsere Torheit (II/1, 415f). Sie bedeutet, dass unser Nein zu Gottes Ja durch die Gnade gestrichen worden ist, so dass uns am Ende Befreiung und Wiederherstellung bleiben. Rechtfertigung bedeutet die Aufhebung des Unrechts, das Obsiegen der Barmherzigkeit, die Wiedereinsetzung des Sünders und ist der Imperativ der Gerechtigkeit für die Bedrängten und Unterdrückten: "Wer im Glauben davon lebt, dass das wahr ist, der steht als solcher in der politischen Verantwortung." (II/1, 435)

Schluss: Christen und Folter

Christliche Gemeinschaften und Kirchen in aller Welt haben sich eindeutig gegen Folter und für die Menschenrechte erklärt. So heißt es zum Beispiel in einer Verlautbarung einer 1974 vom Ökumenischen Rat der Kirchen einberufenen Konsultation zu "Human Rights and Christian Responsibility", dass

im Evangelium besonders hervorgehoben werden der Wert aller Menschen im Angesicht Gottes, das sühnende und erlösende Werk Christi, das der Menschheit wahre Würde verleiht, die Liebe als Anstoß zum Handeln und Nächstenliebe als praktischer Ausdruck eines tätigen Glaubens an Christus. Wir sind einer des anderen Glied, und wenn eines leiden, so sind alle verletzt.

Drei Jahre später gab der ÖRK ein offizielles "Statement on Torture" heraus, in dem es u.a. heißt:

"Wir sind berufen, Zeugnis abzulegen von dem Licht, das durch unseren Herrn Jesus Christus in die Welt gekommen ist. Zugleich wissen wir aber: "Das ist aber das Gericht, dass das Licht in die Welt gekommen ist, und die Menschen liebten die Finsternis mehr als das Licht, denn ihre Werke waren böse. Wer Böses tut, der hasst das Licht und kommt nicht zu dem Licht, damit seine Werke nicht aufgedeckt werden." (Joh 3,19f)

In der Erklärung heißt es weiter:

"Heute stehen wir unter Gottes Gericht, denn die Dunkelheit, Arglist und Unmenschlichkeit der Folterkammern sind eine Tatsache, die in unserer Generation weiter verbreitet und grauenvoller ist als zu irgendeiner anderen Zeit in der Geschichte. Keine menschliche Praxis ist so abscheulich, und keine weltweit so verurteilt. Und doch werden physische und mentale Folter und andere Formen grausamer und unmenschlicher Behandlung in vielen Ländern systematisch angewandt, und es gibt praktisch kein Land, das behaupten könnte, frei davon zu sein."[10]

Auch der Vatikan hat entsprechende Erklärungen abgegeben. Im Juni 1982 erklärte Papst Johannes Paul II. in einer besonders beredten Verlautbarung vor dem Internationalen Komitee des Roten Kreuzes in Genf:

"Der Gedanke an Jesus, wie ihm die Kleider heruntergerissen wurden, er geschlagen und verhöhnt wurde bis zum letzten Todeskampf am Kreuz, sollten Christen immer dazu bewegen, gegen ähnliche Behandlung ihrer Mitmenschen zu protestieren. Die, die Christus nachfolgen, werden von sich aus Folter ablehnen, die durch nichts zu rechtfertigen ist, die dem Opfer Erniedrigung und Leiden bringt und den Folterer erniedrigt."

Der Papst fasst zusammen:

"Der Jünger Christi lehnt jeglichen Rückgriff auf solche Methoden ab, die durch nichts zu rechtfertigen sind und in denen die Würde des Menschen erniedrigt wird, in dem, der foltert, ebenso wie in seinem Opfer."

Darüber hinaus verurteilt auch der Katechismus der Katholischen Kirche die Folter, mit den Worten, dass der, welcher "physische oder moralische Gewalt anwendet, um Bekenntnisse zu erzwingen, Schuldige zu bestrafen, Gegner einzuschüchtern oder dem Hass Genüge zu tun" im Widerspruch steht zu "der Achtung gegenüber dem Menschen und der Menschenwürde". Entsprechende offizielle katholische Aussagen lassen sich in einer Vielzahl und an vielen Orten finden.

Wie betrüblich ist es darum, dass Erzbischof Desmond Tutu sich im Dezemebr 2007 veranlasst sah zu fragen:

"Wer hätte sich je vorstellen können, dass man von den Vereinigten Staaten und von Großbritannien dieselben Argumente für Inhaftierung ohne Prozess hören könnte, wie sie von der Apartheid-Regierung benutzt worden waren?"[11]
Durch die Haft von Terrorismusverdächtigen ohne Gerichtsprozess bedienten sich die Vereinigten Staaten und Großbritannien staatlicher Methoden, die denen der südafrikanischen Apartheid-Regierung glichen, meinte Bischof Tutu.

Noch erschreckender, wenn das überhaupt möglich ist, waren aber die Ergebnisse einer statistischen Erhebung des Pew Research Center von 2009. Befragt worden waren weiße Kirchenmitglieder: weiße Katholiken (ohne lateinamerikanischen Hintergrund), weiße Evangelikale und weiße traditionelle Protestanten. Von denen, die sich als regelmäßige Kirchgänger bezeichneten, meinte eine Mehrheit von 54 Prozent, dass Folter "gerechtfertigt" sein könne. Im Gegensatz dazu fand sich für den Standpunkt, dass Folter kaum oder überhaupt nicht zu rechtfertigen sei, eine Mehrheit unter denen, die keine regelmäßigen Kirchgänger sind. Je häufiger Amerikaner zur Kirche gehen, um so wahrscheinlicher ist es, dass sie Folterung von mutmaßlichen Terroristen unterstützen.[12]

1948, unmittelbar nach den Krisenjahren in Europa, wurde der französische Existentialist Albert Camus zu einer Rede in ein Dominikanerkloster eingeladen. Die Brüder wollten von ihm hören, wie ein "Ungläubiger" angesichts der gerade zu Ende gegangenen Epoche die Christen sah.

Was die Welt heute braucht, sagte Camus zu ihnen, sind "Christen, die Christen bleiben". Dann fuhr er fort:

"Lange während dieser schrecklichen Jahre habe ich darauf gewartet, dass sich in Rom eine mächtige Stimme erheben würde. Ich, ein Ungläubiger? Genau das. Denn ich wusste, dass der Geist verloren wäre, wenn er nicht einen Schrei der Ablehnung ausstieße...
Inzwischen hat man mir erklärt, dass die Ablehnung tatsächlich ausgesprochen wurde. Dass dies aber im Stil von Enzykliken erfolgt ist, und der ist nicht sonderlich klar. Die Ablehnung wurde ausgesprochen, aber sie wurde nicht verstanden. Wer könnte da nicht sehen, wo in diesem Fall das Versagen liegt?"

Und dann folgte Camus‘ unvergessener Appell:

"Was die Welt von den Christen erwartet, ist, dass die Christen sich zu Wort melden, laut und deutlich, und sie sollten ihre Ablehnung so in Worte fassen, dass kein Zweifel, nicht der geringste Zweifel im Herzen auch des einfachsten Menschen entstehen kann. Sie sollten sich von der Abstraktion lösen und sich dem blutbefleckten Gesicht der heutigen Geschichte stellen."

Was Camus vor mehr als 60 Jahren sagte, hat heute nichts von seiner Dringlichkeit verloren. Die Krise unseres nationalen Abstiegs in die Niederungen der Folter ist für die Kirchen vor allem und an erster Stelle eine Glaubenskrise. Wenn Camus recht hatte mit dem, was die Welt von Christen erwartet, wie viel mehr ist dann heute von ihnen zu erwarten, und nicht nur von der Welt?

Aber wir wollen Karl Barth das letzte Wort geben:

"Das menschliche Leben – das eigene und das fremde – gehört Gott; es ist seine Leihgabe, seine Wohltat: so gewiss sich Gott in Jesus Christus, in der Inkarnation seines Wortes eindeutig und völlig zu ihm bekannt hat. Darum gebührt ihm Ehrfurcht, und weil Ehrfurcht, darum Schutz gegen alle und jede unehrfürchtige Negation und Auslöschung." (III/4, 453)

"Wo die Christen die Menschen nicht lieben mögen, wie sollten sie ihnen da sagen können, dass Gott sie liebt, dass sie von Gott Geliebte sind?... Ihre entscheidende Voraussetzung kann dann im Verhältnis zu jedem Menschen nur die sein, dass Jesus Christus auch für seine Sünde und zu seinem Heil gestorben ist. Sie müssen dann jeden Menschen von da aus sehen, von da aus auf ihn zugehen: nie gegen ihn also, und auch nicht nur theoretisch, sondern praktisch für ihn sein... Die ganze Glaubwürdigkeit des christlichen Zeugendienstes als eines menschlichen Werkes hängt... [am] Werk tätiger Menschenliebe."

Übersetzung: Marianne Mühlenberg


Fußnoten:

  1. Jeremy Waldron, "Torture and Positive Law", Columbia Law Review 105 (2005), 1718 – 30, 1734 – 39 (Zitat S.1722).
  2. Besuchen Sie unsere Website: http://www.nrcat.org
  3. Institutio III 7.6; nach der Übersetzung des Autors.
  4. Nicholas P. Wolterstorff, "Modern Protestant Developments in Human Rights", in: Christianity and Human Rights: An Introduction, hg. John Witte, Jr., und Frank S. Alexander, Cambridge 2010, 164. Im Folgenden Seitenangaben im Text.
  5. Für ein Beispiel, dass die Würde beeinträchtigter Personen auf der Basis von Barths Beziehungsverständnis der imago Dei sehr wohl gewahrt werden kann, siehe Joan E. O’Donovan, "Man in the Image of God: The Disagreement between Barth and Brunner Reconsidered", Scottish Journal of Theology 39 (1986), 433-459.
  6. Zitat entnommen aus Andres Nygren, Agape and Eros (Philadelphia 1953), 727, Anm.2. Zitat aus "Von der Freiheit eines Christenmenschen", WA 7, 35. Ich verdanke diesen Hinweis Robert McAfee Brown, The Spirit of Protestantism (NY: Oxford 1961), 65f.
  7. Ebd.
  8. Karl Barth, Rechtfertigung und Recht.
  9. Karl Barth, Kirchliche Dogmatik II/1, 435. Im Folgenden Seitenangaben im Text.
  10. ÖRK/WCC "Statement on Torture", The Ecumenical Review 29 (1977), 406ff.
  11. "Terror detentions ‚like apartheid-era‘", Reuters (11. Dezember 2007).
  12. Pew Forum on Religion and Public Life, "The Religious Dimensions of the Torture Debate", 30. April 2009. http://pewresearch.org/pubs/1210/torture-opinion-religious-differences