"Glaube und Weltverantwortung: Brücken bauen zwischen Gott und Welt"

Nikolaus Schneider, Vorsitzender des Rates der EKD, im Haus Villigst

"überBrücken" ist das aktuelle und anregende Motto Ihrer diesjährigen Villigster Sommeruniversität. Ein wichtiges Motto, das immer schon religiöse Bezüge und Implikationen hat. Nicht nur des Papstes wegen, der sich als "Pontifex Maximus", also als oberster oder größter Brückenbauer, versteht. Da "wir" ja seit einigen Jahren alle "Papst" sind, wären wir demnach alle zu Brückenbauern geadelt. Nicht nur der Transzendenz wegen ist das ein gutes Motto, obwohl sie als Übersteigung des Irdischen hin zum Himmlischen womöglich der sehnsüchtige Kern aller Religion sein könnte. Der Gedanke des "überBrückens" ist auch im uralten Symbol der Inkarnation enthalten. Dieses Symbol besagt: Gott überbrückt den Abstand zwischen sich und der Welt, indem er selbst in Jesus Christus Mensch wird. Weil Gott ein solcher Brückenbauer ist, sollen wir Menschen es ebenfalls sein - so verstehe ich die Rede von der Nachfolge Jesu Christi.

Der Gedanke des "überBrückens" setzt nun allerdings voraus, dass zwei Gegenstände voneinander getrennt sind und miteinander verbunden werden müssen. Wo immer schon alles eins und mystisch miteinander verschmolzen ist, da muss nichts überbrückt werden. Das Überbrücken setzt somit die Figur der Differenz voraus. Differenz ist eine der Grundbedingungen des menschlichen und gesellschaftlichen Lebens. Es gehört zu unserer ständigen Herausforderung, für nötige Differenzierungen, aber auch für die Integration verschiedener Standpunkte, Positionierungen, Möglichkeiten und Fähigkeiten Sorge zu tragen. Die Welt, in der wir heute leben, ist durch eine irreduzible Vielfalt, durch eine große Menge von Differenzen gekennzeichnet. Die Soziologie spricht deshalb von Pluralismus und von Individualisierungstendenzen. Wo der Pluralismus herrscht, muss Überbrückung stattfinden. Wo Individuelles sich fortwährend individuiert, bedarf es immer neuer Verbindungen und Verknüpfungen, damit kein Chaos entsteht. Die Einheit der pluralistischen und individualistisch beschaffenen Welt muss durch Überbrückungen immer neu gesichert und hergestellt werden. Religion als ein System, das die Einheit der Welt zugleich voraussetzt und immer wieder neu sucht und stiften will, hat daher Interesse daran, Brücken zu bauen. Brücken zwischen Gott und Mensch, ebenso zwischen Mensch und Mensch. Das Doppelgebot der Gottes- und Nächstenliebe ist eine ganz deutliche Aufforderung zum Brückenbau. Ein Glaube, der Weltverantwortung wahrnehmen will, ist ein Glaube, der immer wieder neu Brücken bauen muss.

In diesem Vortrag möchte ich mich auf zwei Beispiele beschränken und zwei Bereiche skizzieren, in denen in der Gegenwart, wenn ich es recht sehe, dringend Brücken gebaut werden müssen. Ich denke dabei einerseits an den "garstigen, breiten Graben" (Gotthold Ephraim Lessing) zwischen Glauben und wissenschaftlicher Vernunft, zwischen Religion und kritischem Denken. Und ich denke andererseits an das Verhältnis von Kirche und Gesellschaft. Natürlich sind letztere keine unabhängigen Größen, vielmehr findet die Kirche sich immer schon in der Gesellschaft vor und ist ein Teil von ihr. Aber es gibt in der Gesellschaft ein "Außerhalb von Kirche", und zu diesem Bereich "Außerhalb" muss die Kirche immer wieder Beziehungen herstellen, also Brücken bauen.

Diese beiden Aufgaben, diese beiden Brückenbauprojekte müssen, so denke ich, von Theologie und Kirche heute besonders in den Blick genommen werden - um des Auftrags der Kirche und um des Wohls unserer Gesellschaft willen. Ich gehe auf beide Projekte nacheinander ein und stelle dann eine kurze, abschließende Betrachtung an den Schluss, so dass mein Vortrag insgesamt drei Teile haben wird: I. Glaube und Vernunft, II. Glaube und gesellschaftliche Verantwortung, III. Das Evangelische Studienwerk und die auf Glauben und Vernunft beruhende Weltverantwortung.

I. Glaube und Vernunft

Vor fast genau siebzig Jahren, im Frühjahr 1941, hielt der Marburger Theologe Rudolf Bultmann in Frankfurt am Main und in Alspirsbach einen programmatischen Vortrag mit dem Titel "Neues Testament und Mythologie: Das Problem der Entmythologisierung der neutestamentlichen Verkündigung". Das war bereits mitten im Zweiten Weltkrieg und kurz vor Beginn des Angriffs von Hitlerdeutschland auf die Sowjetunion. Was war der Inhalt dieses Vortrags?

Lassen Sie mich mit dem Schlüsselbegriff der "Entmythologisierung" einsteigen. Er gibt uns einen Hinweis darauf, was Bultmann wollte: nämlich den Glauben und das Verstehen, das Christentum und die wissenschaftliche Vernunft zueinander bringen. Dabei ging er davon aus, dass die in der Bibel enthaltenen Mythen, wenn man sie denn wörtlich nimmt, in der Gegenwart ein großes Verstehens- und somit auch Zugangshindernis für den Glauben sein können. Denn das Weltbild der Bibel, durch Mythen und Wunderglauben geprägt, könne nicht mit dem Weltbild der Gegenwart in Einklang gebracht werden. Bultmann sagt zu Beginn seines Vortrags:

"Das Weltbild des Neuen Testaments ist ein mythisches. Die Welt gilt als in drei Stockwerke gegliedert. In der Mitte befindet sich die Erde, über ihr der Himmel, unter ihr die Unterwelt. Der Himmel ist die Wohnung Gottes und der himmlischen Gestalten, der Engel; die Unterwelt ist die Hölle, der Ort der Qual. Aber auch die Erde ist nicht nur die Stätte des natürlich-alltäglichen Geschehens, der Vorsorge und Arbeit, die mit Ordnung und Regel Rechnet; sondern sie ist auch der Schauplatz des Wirkens übernatürlicher Mächte, Gottes und seiner Engel, des Satans und seiner Dämonen. In das natürliche Geschehen und in das Denken, wollen und Handeln des Menschen greifen die übernatürlichen Mächte ein; Wunder sind nichts Seltenes. Der Mensch ist seiner selbst nicht mächtig; Dämonen können ihn besitzen; der Satan kann ihm böse Gedanken eingeben; aber auch Gott kann sein Denken und Wollen lenken, kann ihn himmlische Gesichte schauen lassen, ihn sein befehlendes und tröstendes Wort höhen lassen, kann ihm die übernatürliche Kraft seines Geistes schenken. Die Geschichte läuft nicht ihren stetigen, gesetzmäßigen Gang, sondern erhält ihre Bewegung und Richtung durch die übernatürlichen Mächte." [1]

Kennen Sie aus der Schule noch das Drei-Stockwerke-Weltbild der Antike? Für Bultmann war es das Weltbild einer längst vergangenen Zeit und somit "erledigt". Und er war in seinem Entmythologisierungsprogramm sehr konsequent. Für ihn waren nicht nur die Wunder als übernatürliche Ereignisse "erledigt". In einem rhetorischen Stakkato erklärt er, was man alles als überholt und erledigt hinter sich lassen muss bzw. sollte:

"Erledigt sind damit die Geschichten von der Himmel- und Höllenfahrt Christi; erledigt ist die Erwartung des mit den Wolken des Himmels kommenden »Menschensohnes« und des Entrafftwerdens der Gläubigen in die Luft, ihm entgegen (1. Thess. 4, 15ff). Erledigt ist durch die Kenntnis der Kräfte und Gesetze der Natur der Geister- und Dämonenglaube […] Die Wunder des Neuen Testaments sind damit als Wunder erledigt, und wer ihre Historizität durch Rekurs auf Nervenstörungen, auf hypnotische Einflüsse, auf Suggestion und dergl. retten will, der bestätigt das nur." [2]

Bultmanns "Erledigt"-Rhetorik zielt freilich nicht darauf ab, die biblischen Mythen zu eliminieren. Nicht das ist seine Absicht, sondern er möchte sie in einer eigentümlichen Weise interpretieren. Seine These ist, dass der Sinn dieser Mythen ist, ein ganz bestimmtes Verständnis der Existenz des Menschen zu entfalten. Sie haben somit keine kosmologische oder naturwissenschaftliche, sondern eine anthropologische Bedeutung. Und diese lässt sich wie folgt charakterisieren:

Der Mensch ist, so Bultmann, in seiner Existenz zutiefst auf Gott bezogen, der sich ihm in unverfügbarer Weise erschließt. Der ihn in ein neues Leben der verantwortlichen Ko- und Pro-Existenz einweist, der ihn auf den Weg der Liebe führt. Der ihm Trost und Hoffnung schenkt, damit sein Leben gelingen möge. Nicht das Weltbild der biblischen Mythen ist daher zu bewahren, sondern das Menschenbild, das sich in ihnen artikuliert. Wenn man das verstanden hat und akzeptiert, dann ist klar, dass man von keinem Menschen der Gegenwart erwarten kann, dass er an Wunder im supranaturalistischen Sinne glaubt oder gar das mythische Weltbild der Bibel anerkennen müsste. Das wäre eine unsinnige Zumutung, schon deshalb, weil das mythische Weltbild überhaupt nichts "spezifisch Christliches" ist, sondern einfach das Weltbild einer vergangenen Zeit war, die noch nicht durch wissenschaftliches Denken geprägt wurde.

Interessant ist darüber hinaus, dass Bultmann sich in seinen Überlegungen auch auf einen in der menschlichen Alltagswelt beheimateten Pragmatismus bezieht, der ganz unabhängig von der in Theorien sich artikulierenden Wahrheit der Wissenschaften die uneingeschränkte Geltung unserer Kausalitätsannahmen bezeugt. In einer seiner Predigten führte er deshalb aus:

"Wir sind nicht nur theoretisch überzeugt, daß alles Geschehen in der Welt nach Regel und Ordnung verläuft, daß es nach festen Gesetzen geschieht, sondern wir verhalten uns auch in unserm praktischen Leben, in Arbeit und Verkehr, so, daß wir damit rechnen, daß alles, was geschieht, seine natürliche Ursache und seine natürliche Wirkung hat. Ja, wir könnten unsere Arbeit gar nicht treiben, wir könnten die Verantwortung für unser Tun gar nicht übernehmen, wenn es anders wäre, wenn wir gewärtig sein müßten, daß der Zusammenhang von Ursache und Wirkung plötzlich wunderbar zerreißen könnte." [3]

Bultmanns glasklare pragmatistische Logik ist somit: Wie du dein Alltagsleben lebst, so glaubst du auch. Was du tatsächlich in deinem Leben tust, beweist deine orientierenden Gewissheiten. Wunderbar zugespitzt kommt dies in folgendem Satz zum Ausdruck: "Man kann nicht elektrisches Licht und Radioapparat benutzen, in Krankheitsfällen moderne medizinische und klinische Mittel in Anspruch nehmen und gleichzeitig an die Geister- und Wunderwelt des Neuen Testaments glauben." [4]

Bultmann bedient sich aber nicht nur des Pragmatismusgedankens, sondern noch eines weiteren Arguments, und erst mit ihm wird die theologische Pointe seiner Überlegungen erkennbar: "Ein blindes Akzeptieren der neutestamentlichen Mythologie wäre Willkür; und solche Forderung als Glaubensforderung erheben, würde bedeuten, den Glauben zum Werk erniedrigen, wie Wilhelm Herrmann – man sollte meinen, ein für allemal – deutlich gemacht hat." [5]

Es wäre somit Werkgerechtigkeit, wenn Menschen in ihren Glauben vernunftwidrige Elemente integrieren müssten und sie ihren Verstand gleichsam opfern und aufgeben müssten, um Christen zu sein. Niemand verlangt von uns ein "sacrificium intellectus", ein solches Opfer der Vernunft. Man kann im Umkehrschluss daher auch sagen: Nach Bultmann sind Glauben und Verstehen, Christentum und wissenschaftliche Vernunft zutiefst miteinander vereinbar. Diese Einsicht beruht freilich nicht auf einem grenzenlosen Rationalismus, der sich den Glauben untertan machen möchte, sondern vielmehr ganz und gar auf der Logik des Rechtfertigungsglaubens selbst. [6]

Bultmanns Vortrag traf schon 1941 nicht auf ungeteilte Zustimmung in der Bekennenden Kirche, zu der er ja von Anfang an gehört hatte. Der Lutheraner Hans Asmussen etwa, Mitverfasser der Barmer Theologischen Erklärung, aber ein dezidierter Kritiker der Aufklärung, widersprach Bultmann heftig. Die Welt Jesu Christi stehe ganz grundsätzlich "im Gegensatz zum Säkulum mit Radio, Telephon und Flugzeug" [7]. Auf der anderen Seite stellte sich Dietrich Bonhoeffer auf Bultmanns Seite und lobte dessen "intellektuelle Redlichkeit". Aber der wahre Sturm der Entrüstung brach erst viel später, in den 50er Jahren des vergangenen Jahrhunderts, los. Bultmann wurde von konservativen kirchlichen Kreisen als Ketzer beschimpft, man wollte ihn nicht mehr lehren und prüfen lassen, manche dachten gar an eine Kirchenspaltung. Besonders negativ tat sich dabei die Gruppierung "Kein anderes Evangelium" hervor. Die Diskussionen und der Streit dauerten fast zwei Jahrzehnte an und ebbten erst Ende der 60er Jahre langsam ab.

Mir kam es darauf, Ihnen einen Weg der evangelischen Theologie im 20. Jahrhundert vorzustellen, der einen Brückenschlag zwischen Glauben und Verstehen, Christentum und wissenschaftlicher Vernunft, Religion und Aufklärung intendierte. Sicherlich gab und gibt es auch andere Wege, die in die gleiche Richtung zielen. Ob man Rudolf Bultmanns Vorgehensweise, seine spezifische Hermeneutik, sein Entmythologisierungsprogramm im Ganzen teilen kann oder muss, darüber kann diskutiert werden.

Und darüber wurde auch schon diskutiert. Im Kern ging es um die Frage, inwieweit ein wissenschaftliches Weltbild eben auch nur ein „Bild“ ist, mit allen Begrenztheiten und Vorläufigkeiten. Und das leuchtet auch sofort ein: Die Methode bestimmt die Ergebnisse. Das ist Ihnen allen geläufig. In der wissenschaftlichen Forschung ist die Diskussion über die adäquate Methodik im Grunde entscheidender als die Anwendung dieser Methodik auf bestimmte Sachverhalte. So ist z.B. newtonsche Physik etwas anderes als die Quantenphysik. Im Grunde geht es darum zu begreifen, dass die Wirklichkeit mehr ist als das, was wir wissenschaftlich erkennen und beschreiben können.
Eine zweite Kritik richtet sich darauf, dass Bultmann die Interpretation der Texte alleine auf den Menschen bezog, in seiner Terminologie: die existentiale Interpretation. Es wurde immer kritisch diskutiert, ob dies wirklich ausreichend sei. Denn die biblischen Texte zielen auf mehr! Um es mit den Worten Karl Barths zu sagen: ‚Sie sind mir nicht kritisch genug, die Historisch-Kritischen.’

Aber dass der genannte Brückenschlag auch in der Gegenwart versucht werden muss, davon bin ich fest überzeugt. Denn ein Glaube ohne Verstehen wäre ein blinder Glaube, ja ein Aberglaube. Und eine Religion jenseits der Vernunft wäre eine Illusion, ein gefährliches Wahnsystem. Der berühmte, auf Tertullian zurückgehende Satz "credo quia absurdum" (= Ich glaube es, weil es absurd ist), ist der Tod der Theologie, der SuperGau für den Glauben und eine Katastrophe für die Kirche. Ich meine dagegen: Der christliche Glaube bedarf des "Logos", wie in großartiger Weise schon der Prolog des Johannes-Evangeliums deutlich macht, desjenigen Evangeliums, das Rudolf Bultmann vor allen anderen geliebt und unglaublich scharfsinnig erforscht hat: "Im Anfang war der Logos, und der Logos war bei Gott. Und Gott war der Logos …" (Joh 1,1).

Ich denke, auch das Evangelische Studienwerk ist der Idee dieses Brückenschlags verbunden und arbeitet an seinem spezifischen Ort, nämlich im Kontext universitären Lernens und umfassender akademischer Bildung, an demselben Projekt mit.

II. Glaube und gesellschaftliche Verantwortung

Der evangelischen Kirche wird immer wieder von verschiedenen Seiten vorgeworfen, sie mische sich in das Geschäft der Politik ein. Protestbriefe gehen bei uns ein, in denen Menschen sich beschweren, die Kirche oder einzelne Amtsträger - nicht selten bin natürlich ich als Ratsvorsitzender in besonderer Weise im Blick - hätten sich in dieser oder jener aktuellen politischen Frage zu weit links oder zu weit rechts oder aber viel zu "mittig" positioniert. Die zutreffende Grundannahme, auf der diese Kritik beruht, ist sicherlich, dass die Kirche keine politische Partei ist und nicht selbst (Partei-) Politik machen will oder darf. Mit Politik hat sie allerdings insofern zu tun, als sie durchaus beansprucht, durch ihr Wirken Politik möglich zu machen - und zwar nicht irgendeine Politik, sondern ethisch orientierte und moralisch verpflichtete, also qualitativ "gute" Politik. Denn der Kirche kann die Welt, in der sie lebt, nicht egal und die Gesellschaft, in der sie existiert, nicht gleichgültig sein. Die Kirche Jesu Christi nimmt stets öffentliche Verantwortung, und das heißt hier: gesellschaftliche Verantwortung, wahr, sie ist eine "verantwortliche Kirche" [8]. Die Wahrnehmung gesellschaftlicher Verantwortung ist dabei kein selbstgewählter Auftrag der Kirche. Denn das Evangelium will auch die Welt gestalten: Frieden und Gerechtigkeit sind grundlegende biblische Leitbilder für das menschliche Zusammenleben. Daraus speist sich der Auftrag der Kirche. Nicht Politik machen, sondern Politik möglich machen: Das ist durchaus eine Aufgabe, die unsere Kirche in der Gegenwart zu erfüllen hat. An anderer Stelle habe ich die zu leistende Aufgabe noch etwas deutlicher gekennzeichnet:

"Die gegenwärtige Gesellschaft ist durch Vielfalt und Unübersichtlichkeit, durch Vereinzelung und Interessenkonflikte gekennzeichnet. Damit steigt der Bedarf an Kommunikation, Verständigung und integrierenden Kräften. Die Kirche sucht und fördert den Dialog, damit Gleichgesinnte sich finden und Fremde sich begegnen können. Sie versteht sich aber auch als Anwältin derer, die im gesellschaftlichen Diskurs nicht oder zu wenig vorkommen, weil ihre Stimme zu schwach ist." [9]

Wenn diese kurze Charakterisierung der gegenwärtigen kirchlichen Aufgaben, soweit sie unsere Gesellschaft angehen, zutreffen sollte, dann lässt sich auch an dieser Stelle durchaus wieder das Bild vom Überbrücken, vom Brückenbauen verwenden. Kirche hat Brücken zu bauen zwischen Gleichgesinnten und zwischen Fremden, Brücken zu bauen hin zu denen, die im gesellschaftlichen Diskurs nicht oder zu wenig vorkommen. Sie hat Brücken zu bauen zu den Schwachen, das ist sicherlich eine eminent wichtige kirchliche Aufgabe. Denn niemand sollte in unserer Gesellschaft verloren gehen, weil er arbeitslos, arm, krank, alt oder aus sonstigen Gründen schwach ist, oder weil er ein Fremder ist, der in unserem Land Zuflucht sucht. Alle gehören dazu, und niemand soll verloren gehen. Dafür haben Kirchen einzustehen. Und sie tun das an ganz vielen Orten und auf vielfältige Weise.

Ich beschränke mich an dieser Stelle auf drei Beispiele für das so notwendige soziale und diakonische Wirken der Kirche.

  • Erstens: Mehr als 8.000 evangelische Kindertagesstätten kümmern sich bundesweit um viele hunderttausend Kinder. Sie weisen ihnen den Weg ins Leben, helfen ihnen beim Spracherwerb, bringen ihnen biblische Geschichten näher und zeigen ihnen Wege auf, Konflikte friedlich und gewaltfrei zu überwinden. Sie sind Institutionen der kompetenten, liebevollen und zuverlässigen Bildung, Erziehung und der Betreuung.
  • Zweitens: Nicht weit von hier haben die Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel ihren Sitz. Sie sind mit ihrer engagierten, kompetenten und zuverlässigen Arbeit seit mehr als hundert Jahren ein wesentliches Markenzeichen des Protestantismus. So wie Bethel sorgen viele große und kleine Einrichtungen der Diakonie für die Integration und Inklusion Behinderter in unsere Gesellschaft und tragen unter anderem dazu bei, dass ältere Menschen bei uns die nötige Aufmerksamkeit, Zuwendung und Fürsorge erhalten, die sie sich wünschen und die sie benötigen, um in guter Lebensqualität existieren zu können.
  • Ein drittes Beispiel: In vielen Kirchengemeinden wurden in den vergangenen Jahren so genannte "Tafeln" ins Leben gerufen. Die Tafeln bemühen sich mit ehrenamtlichen Helfern um einen Ausgleich für die Bedürftigen. Das Ziel der Tafeln ist es, dass qualitativ einwandfreie Nahrungsmittel, die im Wirtschaftsprozess nicht mehr verwendet werden, an Bedürftige verteilt werden. Die Tafeln helfen so diesen Menschen, eine schwierige Zeit in ihrem Leben zu überbrücken. Allerdings muss ich Ihnen offen sagen, dass ich die wunderbare Arbeit der „Tafeln“ mit gemischten Gefühlen betrachte. Zum einen ist es verdienstvoll, das Wegwerfen von Lebensmitteln zu verhindern, um armen Menschen zu helfen. Die unsinnigen Formen der Produktion und Verteilung, des Anbietens und Verkaufens von Lebensmitteln wird damit abgemildert. Zum anderen weist die Existenz der „Tafeln“ aber auch darauf hin, dass unsere staatlichen Hilfen für die Armen in unserem Lande offensichtlich nicht ausreichend sind. Und das ist beschämend!

Immer noch gibt es zu viele Arbeitslose in unserem Land: Drei Millionen Arbeitslose sind noch immer eine beträchtliche Anzahl. Und an den einzelnen Arbeitslosen hängen jeweils ganze Familien. Auch deshalb gibt es eine beschämende Kinderarmut bei uns. Hier einerseits ganz praktisch zu helfen und andererseits klare Worte an die Politik zu richten, um denen eine Stimme zu geben, deren eigene Stimme zu schwach ist - das ist, so möchte ich meinen, ganz unzweifelhaft eine Aufgabe für die Kirche. Die drei genannten Beispiele für das soziale und diakonische Handeln unserer Kirche sollen - ohne Anspruch auf Vollständigkeit - illustrieren, dass und wie die Kirche sich bemüht, in unserer Gesellschaft Brücken zu bauen, damit arme, alte, junge, kranke und schwache Menschen, aber auch die fremden, nicht verloren gehen.

Wenn von solchen kirchlichen "Überbrückungsleistungen" die Rede ist und das Bild vom Brückenbauen verwendet wird, dann liegt es nahe, auch daran zu erinnern, dass sich die beiden großen Kirchen in Deutschland vor einigen Jahren (1997) sehr klar und umfassend zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland geäußert haben. Nicht alles, aber vieles, was damals ausgeführt wurde, gilt auch heute noch. Immer noch ist beispielsweise die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit eine zentrale Herausforderung für unsere Gesellschaft. Im Gemeinsamen Wort der Kirchen aus dem Jahr 1997 heißt es ferner, mit Bezug auf das Bild vom Brückenbauen:

"Das Leistungsvermögen der Volkswirtschaft und die Qualität der sozialen Sicherung sind wie zwei Pfeiler einer Brücke. Die Brücke braucht beide Pfeiler. Heute ist die Gefahr groß, daß die Wettbewerbsfähigkeit auf Kosten der sozialen Sicherung gestärkt werden soll. Nicht nur als Anwalt der Schwachen, auch als Anwalt der Vernunft warnen die Kirchen davor, den Pfeiler der sozialen Sicherung zu untergraben." [10]

Eine Brücke braucht stets mehrere, mindestens aber zwei Pfeiler, damit sie sicher und zuverlässig tragen kann. Wirtschaftliches Leistungsvermögen und eine qualitativ gute soziale Sicherung sind in gleicher Weise unverzichtbar, wenn eine Gesellschaft ihre Verantwortung für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit wahrnehmen will. Es ist gut, wenn die Kirchen die Politik immer wieder an diese Einsicht erinnern. Sehr grundsätzlich muss sie darauf aufmerksam machen, dass der gesellschaftliche Zusammenhang für das Zusammenleben von grundsätzlicher Bedeutung ist. Denn es gibt ja durchaus konservatives Philosophen und Publizisten, die die Existenz von so etwas wie Gesellschaft überhaupt bestritten haben. Sie gingen von dem freien Interagieren freier Individuen aus, die sich lediglich an bestimmte formale Regeln rechtlicher Art zu halten haben. Die Konsequenzen sind entsprechend: Es gibt so etwas wie eine permanente Konkurrenz aller gegen alle. Und das Wirtschaften wird zu einem permanenten kalten Krieg. Dem setzen wir die Vorstellung einer Gesellschaft entgegen, die in der Lage ist, Gegensätze zu überbrücken und Zusammenhalt herzustellen.

Eine besondere Herausforderung in der Gegenwart besteht in der Krise der internationalen Finanzmärkte. Es ist längst deutlich geworden, dass diese Finanzmärkte anders geordnet und reguliert werden müssen. Das kann nicht ein einzelner Staat nur für sich und isoliert von allen anderen tun, hier ist vielmehr die internationale Staatengemeinschaft gefordert, sich als Handlungssubjekt zu verstehen. Ich halte in diesem Zusammenhang den immer noch bei vielen vorhandenen Glauben an die unsichtbare, ordnende Hand des Marktes für den modernen Mythos, der auf seine Weise der Entmythologisierung bedarf - um eine Brücke zu den Ausführungen im ersten Teil meines Vortrags zu schlagen. Der Mythos von der unsichtbaren Hand des Marktes, der letztlich schon alles gelingen wird, wenn man sie nur schalten und walten lässt, ist heute ebenso erledigt wie die Vorstellung, der Kosmos bestehe aus drei Stockwerken, und es gebe eine wunderbare Jungfrauengeburt. Ich sehe die Aufgabe unserer Kirche auch darin, gesellschaftliche Verantwortung wahrzunehmen, indem sie solche modernen Mythen in Frage stellt und entmythologisiert, damit Vernunft sich Bahn brechen kann und verantwortliches politisches Handeln möglich wird. Auch an dieser Stelle vermute ich, dass das Evanglische Studienwerk seine eigene Aufgabe ähnlich versteht.

III. Das Evangelische Studienwerk und die auf Glauben und Vernunft beruhende Weltverantwortung

Damit komme ich zum Schluss und gebe nur noch einen kurzen Ausblick. Ich verstehe das Evangelische Studienwerk als eine Institution, die begabte evangelische Studierende begleiten und fördern möchte und dabei dem Ethos einer auf Glauben und Vernunft basierenden Weltverantwortung verpflichtet ist. Begründen kann man diese These vielleicht mit einem Blick auf das aktuelle Leitbild des Evangelischen Studienwerkes. In ihm heißt es - Sie alle werden diese Passage sicherlich bestens kennen:

"Das Evangelische Studienwerk Villigst nimmt christliche Weltverantwortung im Bereich der Begabtenförderung wahr. Dabei geht das Evangelische Studienwerk davon aus, dass Begabung mit besonderen intellektuellen und kreativen Kompetenzen dazu verpflichtet, diese sozial, zukunftsorientiert und in offenen gemeinschaftlichen Bezügen einzusetzen. Unsere komplexe und widerspruchsreiche Gesellschaft braucht engagierte Intellektuelle und Entscheidungsträger, die fachliches, fachübergreifendes und politisches Urteilsvermögen verbinden." [11]

Ebenso wie die evangelische Kirche in ihrer Gesamtheit nimmt auch das Evangelische Studienwerk Villigst in seinem speziellen Zuständigkeitsbereich eine auf dem christlichen Glauben und auf wissenschaftlich geschulter Vernunft beruhende Weltverantwortung wahr [12]. Dabei kommen drei unverzichtbare, voneinander unterscheidbare Faktoren zusammen: ein authentischer persönlicher Glaube, eine kritische Rationalität und die Wahrnehmung sozialer Verantwortung für die Gestaltung unseres demokratischen Gemeinwesens.

Als Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche in Deutschland bin ich dem Studienwerk sehr dankbar für seinen spezifischen Beitrag zur Etablierung einer auf Glauben und Vernunft sich gründenden Weltverantwortung. Ein zeitgemäßes evangelisches Verständnis des Elitebegriffs ist meines Erachtens ohne den durchgängigen Bezug auf den Verantwortungsgedanken überhaupt nicht denkbar. Evangelische Eliten sind notwendig Verantwortungseliten [13]. Vielleicht mögen Sie das gar nicht so gerne hören, weil nicht jede und jeder von Ihnen den Elitebegriff schätzen mag. Er klingt vielleicht nach Herkunft, Privilegien und Arroganz. Wenn man ihn aber mit demokratischer Partizipation, sozialer Verantwortung und kritischer Vernunft zusammenbringt, wird er ganz leicht Villigst-kompatibel. Von daher wage ich die These: Die Stipendiatinnen und Stipendiaten des Studienwerks gehören zur evangelischen Verantwortungselite. Sie tragen (hoffentlich) an ihrem Ort und auf ihre Weise dazu bei, tragfähige Brücken in die Zukunft bauen. Zur Ehre Gottes, im Interesse unserer Kirche und zum Wohl der Gesellschaft, in der wir leben und die uns allen am Herzen liegt. Für dieses ambitionierte Brückenbauprojekt können Sie mit der Unterstützung der Evangelischen Kirche in Deutschland rechnen.


Fußnoten

  1. Rudolf Bultmann: Neues Testament und Mythologie: Das Problem der Entmythologisierung der neutestamentlichen Verkündigung, Nachdruck der 1941 erschienenen Fassung, hg. von Eberhard Jüngel, 2. Aufl. München 1985, 12.
  2. Ebd., 15f.
  3. Rudolf Bultmann, Marburger Predigten, Tübingen 2. Aufl. 1968, 138.
  4. Rudolf Bultmann, Neues Testament und Mythologie, a.a.O., 16.
  5. Ebd., 15.
  6. Man muss daher in Bultmanns Theologie keinen Versuch erblicken, "Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft" (Immanuel Kant) einzuschließen. Freilich auch nicht das Gegenteil, also auch nicht eine Vernunft in den Grenzen, die die Religion ihr setzt. Eher muss man wohl von einem spannungsreichen, aber grundsätzlich partnerschaftlichen Miteinander ausgehen. Bultmann wollte "Glauben und Verstehen" (so der Titel eines vierbändigen Hauptwerkes von ihm) zueinander bringen.
  7. Vgl. hierzu Konrad Hammann: Rudolf Bultmann - Eine Biographie, Tübingen 2. Aufl. 2009, 307-319, zu Asmussens Haltung 314.
  8. Vgl. hierzu Eberhard Pausch: Verantwortliche Kirche: Theologische Aufsätze, Predigthilfen und Predigten. Mit einem Geleitwort von Wilfried Härle, Fromm Verlag 2011.
  9. Nikolaus Schneider: Was erwartet die Kirche von der Gesellschaft? Was erwartet die Gesellschaft von der Kirche?, Merzig 2009, 56.
  10. Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit. Wort des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Deutschen Bischofskonferenz zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland, Hannover/Bonn 1997, S.9.
  11. www.evstudienwerk.de/ueber-uns/leitbild.html
  12. Natürlich spielt für das Studienwerk im Hinblick auf seine spezifische Aufgabe der Begabtenförderung der Bezug zur wissenschaftlichen Vernunft eine signifikant größere Rolle als für das soziale System Kirche. Dass aber der Verzicht auf wissenschaftliche Vernunft gerade auch für die Kirche eine Katastrophe darstellen würde, habe ich im I. Teil dieses Vortrages zu zeigen versucht.
  13. Vgl. den aktuellen EKD-Text: "Evangelische Verantwortungseliten: Eine Orientierung" (EKD-Text 112), Hannover 2011.