"Der Sozialstaat - seine Ursprünge in der Reformation und seine christliche Prägung heute"

Margot Käßmann

Jahresempfang des Diakonischen Werkes Bayern und der Regionalbischöfin für den Kirchenkreis Bayreuth in Kulmbach

Wir leben in einem Sozialstaat. Manchmal wird das leider schlechtgeredet. So gerät in Vergessenheit: Dass sich das politische Gemeinwesen bzw. der Staat nicht nur um Rechtssicherheit, äußere Gefahrenabwehr und möglicherweise noch um Gesundheitsfürsorge, sondern um die sozialen Belange seiner Bürger kümmert, ist überhaupt keine Selbstverständlichkeit. Weltweit gesehen gibt es bisher nur in vergleichsweise wenigen Ländern einen entwickelten Sozialstaat - und es sind dies in den letzten 20 Jahren sogar immer weniger geworden, denn viele Menschen z.B. in Großbritannien haben heute Zweifel, ob ihr Land noch diesen Namen verdient. Die USA würden ihn für sich ohnehin nicht reklamieren. In diesen Ländern ist mittlerweile der Begriff des Sozialstaates (engl. „Welfare-State“) sogar zu einem Unwort geworden, das in der politischen Diskussion besser nicht benutzt wird, wenn die Rednerin oder der Redner nicht gleich ins Abseits gedrängt werden will. Nicht nur Länder mit einer völlig anderen kulturellen oder religiösen Grundformatierung, wie die asiatischen oder islamischen, „funktionieren“ mithin anders, als wir es in Mittel- und Nordeuropa gewohnt sind, auch innerhalb der christlichen, ja innerhalb der protestantischen, Welt gibt es große Differenzen in der sozialen Sicherung der Bürgerinnen und Bürger. Meine These lautet: Diese Differenzen hängen auch mit konfessionellen Tiefenströmungen zusammen. Es ist vor allem das späte Erbe Martin Luthers und der anderen Reformatoren, das sich im modernen Sozialstaat artikuliert. Diesen Gedanken möchte ich im Themenjahr „Reformation und Politik“ aus Anlass Ihres Jahresempfangs der Bayrischen Diakonie sowie des Kirchenkreises Bayreuth gern im Folgenden entfalten.

Zum Glück hat der Sozialstaat in Deutschland und in Mittel- und Nordeuropa nicht abgedankt. Im Gegenteil: Die Wirtschafts- und Finanzkrise 2008/2009 hat uns allen den großen Wert sozialstaatlicher Sicherungen in unserem eigenen Land – nach vielen kritischen Debatten - wieder deutlich vor Augen geführt. Die Tatsache, dass es trotz gewaltiger wirtschaftlicher Einbrüche (5% Verlust des BSP in einem Jahr!) kaum zu Entlassungen kam, ist auf die gewachsenen sozialstaatlichen Selbstverständlichkeiten in Deutschland zurückzuführen. Anteil daran hatte z.B. auch das Kurzarbeitergeld (etwas, das es in dieser oder einer anderen Form nur in Sozialstaaten gibt) und eine ganze Reihe anderer sozialstaatlicher Möglichkeiten, aber auch die große Verantwortung, die Gewerkschaften, Arbeitgeberverbände und vor allem einzelne Unternehmen an den Tag legten.

Der Sozialstaat hat uns alle vor einer gewaltigen Krise bewahrt – und das bleibt vorbildlich! Dieses Beispiel belegt im Übrigen auch, wie entscheidend wichtig soziale Sicherung für wirtschaftliches Wachstum ist: Sie schafft ein Grundgefühl des Vertrauens der Menschen in die Zukunft, was es ihnen erlaubt, auch Risiken eingehen zu können. Und nicht zuletzt vermittelt der Sozialstaat Anerkennung: Als Staatsbürgerin gehöre ich zu einer großen Gemeinschaft, in der Menschen füreinander einstehen – und auf diese Hilfe habe ich auch einen Anspruch, weil ich dazugehöre.

Die große Herausforderung heute ist: Gelten die Errungenschaften des sozialen Staates auch für diejenigen, die als Mitgranten und Flüchtlinge zu uns kommen? Das ist ein großes aktuelles Thema. Christinnen und Christen werden sagen: Menschen, die zu uns kommen sind nicht „Einwanderer in die Sozialsysteme“, sondern haben ihre eigene Würde und ein je eigenes Recht auf Unterstützung.

Aber zunächst noch einmal zur Geschichte: Deutschland teilt heute Charakteristika seines Sozialstaates mit vielen Ländern in Mitteleuropa, insbesondere mit denen im Norden Europas. Zusammen mit den etwas später einsetzenden skandinavischen Ländern war es Deutschland, das Ende des 19. Jahrhunderts im Zuge der Bismarckschen Sozialreformen erste Anfänge in Richtung eines Sozialstaates entwickelte. Immer wieder ist aufgefallen, dass sich diese Schritte in Gegenden vollzogen, die konfessionell stark lutherisch geprägt gewesen sind (auch wenn das preußische  Herrscherhaus nun nicht in dieses Bild passt).

Anders konfessionell gekennzeichnete Weltgegenden wie z.B. der Bereich der USA, der stärker reformiert puritanisch geprägt ist oder dann eben auch die südeuropäischen römisch-katholisch geprägten Länder, haben diesen Weg hin zu einer breiten staatlichen Verantwortung in sozialen Dingen nicht beschritten. Eine Ausnahme stellt Großbritannien dar. Dort wurde nach dem 2. Weltkrieg – motiviert nicht zuletzt durch den Archbishop of Canterbury William Temple - entschlossen der Weg in Richtung Sozialstaat beschritten – wenn auch unterschieden von den kontinentalen Modellen. In Europa war der Sozialstaat schon früh so plausibel, dass noch Max Weber erwartete, dass auch die USA als moderner Staat diesen Weg vor dem 1. Weltkrieg ebenfalls gehen würden. Aber das ist nicht geschehen.

Es war offensichtlich die Zuweisung sozialer Verantwortung an die Obrigkeit, die schon früh in der lutherischen Reformation erfolgte, die sich dann tatsächlich fast 400 Jahre später in der Etablierung der ersten Sozialstaaten umgesetzt hat. Am Anfang steht bei Martin Luther etwas, was er dezidiert mit der gesamten Geschichte der christlichen Kirche vor ihm teilt: Nämlich die Betonung der Liebe, genauer der Nächstenliebe, als des Urgrundes der Zuwendung der im Glauben befreiten Christen zu ihren Mitmenschen. Wunderbar hat dies Martin Luther in seinem großartigen Text von der Freiheit eines Christenmenschen 1520 in seiner berühmten Doppelthese zum Ausdruck gebracht: „Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemandem Untertan. Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann Untertan.“ Warum aber ist ein Christenmensch ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann Untertan? Weil er in der Liebe an die anderen Menschen gewiesen ist? Im Glauben steht er über allem, souverän wie ein König, und ist ganz nah bei Gott, aber in der Liebe ist er stets für die anderen da. Daher lebt der Christenmensch – so Luther in seiner 26. These von 1517 - „nicht allein in seinem Leibe, sondern auch unter anderen Menschen auf Erden. Darum kann er ihnen gegenüber nicht ohne Werke sein; er muss mit ihnen ja zu reden und zu schaffen haben, wie wohl ihm keins derselben Werke zu Rechtschaffenheit und Seligkeit notwendig ist. Darum soll seine Absicht in allen Werken frei und nur darauf gerichtet sein, dass er damit den anderen Leuten diene und nützlich sei, nichts anderes sich vorstelle, als was den anderen notwendig ist.“

Weil ein Christenmensch im Glauben für sich selbst für immer genug hat und geistlich in der Fülle leben kann, ist er frei, den anderen zu lieben und für ihn da sein zu können. Noch einmal Luther in der 27. These: „Und obwohl er nun ganz frei ist, soll er sich wiederum willig zu einem Diener machen, seinem Nächsten zu helfen, mit ihm verfahren und handeln, wie Gott an ihm durch Christus gehandelt hat, und das alles umsonst, ohne etwas anderes darin zu suchen als göttliches Wohlgefallen und also denken: Wohlan, mein Gott hat mir unwürdigen, verdammten Menschen ohne all Verdienst, rein umsonst  und aus eitel Barmherzigkeit geben durch und in Christo vollen Reichthum aller Rechtschaffenheit und Seligkeit gegeben, dass ich hinfort bedarf den Glauben, es sei also. Also will ich solchen Vater, der mich mit seinen überschwänglichen Gütern so überschüttet hat, wiederum frei, fröhlich und umsonst tun, was ihm wohlgefällt und gegenüber meinem Nächsten auch ein Christ werden, wie Christus mir geworden ist und nichts mehr tun, denn nur, was ich sehe, dass ihm nötig, nützlich und heilsam sei, weil ich doch durch meinen Glauben an Christus alle Dinge zu genüge habe. Siehe so fließt aus dem Glauben die Liebe und Lust zu Gott und aus der Liebe ein freies, williges und fröhliches Leben umsonst dem Nächsten zu dienen.“

Die Liebe erfüllt das Gesetz Gottes, aber sie tut es nicht aus Angst vor Strafe, Fegefeuer und Hölle. Das war ja, wogegen Luther antrat: Vor Gott ist mein Leben nicht durch meine Taten zu rechtfertigen. Und insofern muss ich auch nicht aus Angst vor Gott oder Strafe Gutes tun. Ich tue es aus freien Stücken in Verantwortung für die Nächsten, die meine Hilfe brauchen. Das ist die Denkbewegung Luthers: von der grandiosen Freiheit im Glauben zu seiner Umsetzung im Da-Sein für den anderen. Freiheit geht nicht nur nicht ohne Verantwortung, wie wir immer wieder betonen, sondern auch nicht ohne Liebe.

Im reformatorischen Sinne gibt keine Freiheit nur für mich allein – das ist der Libertinismus unserer Tage. Reformatorisch gesehen gibt es Freiheit stets nur mit den anderen zusammen, ganz gleich, wer sie sind. Aber wie gesagt. Luther hat so im 16. Jahrhundert die Vorstellung von Nächstenliebe reaktualisiert, die es im Christentum immer gegeben hat. Im Unterschied zu den griechischen und römischen Idealen, nach denen Liebe ein Streben des Niederen zum Höheren sei, soll sich im Christentum die Liebe gerade darin erweisen, dass sich genau umgekehrt – wie es Max Scheler ausgedrückt hat - das Edle mit dem Unedlen solidarisch zeigt, die Gesunde mit dem Kranken, der Reiche mit dem Armen, die Schöne mit dem Hässlichen, der Gute und Heilige mit der Schlechten und Gemeinen, der Messias mit den Zöllnern und Sünderinnen. Und dies ohne die antike Angst, dadurch etwas zu verlieren und selbst „unedel“ zu werden, „sondern, so Scheler, „in der eigentümlichen frommen Überzeugung, im Aktvollzug dieses Beugens, in diesem sich herabgleiten lassen, in diesem sich verlieren, das Höchste zu gewinnen, Gott gleich zu werden.“1 Nicht um Selbsterhaltung und Egoismus geht es, sondern um den Beitrag dazu, dass alle sich entfalten und entwickeln können.

Während der antiken Liebeshaltung ein Moment der Lebensangst zugrunde lag, geschieht hier die Liebe und die Hilfe für die anderen aus dem Vertrauen auf Gott heraus. Es ist folglich positive Zuwendung, Entfaltung des eigenen geschenkten Selbst. Deswegen – so die Vorstellung – geht es hierbei auch nicht um Abarbeitung eines Helfersyndroms, das sich Selbstbestätigung aus der Not anderer holt, sondern um eine Art sachlicher Unterstützung, die tatsächlich genau darauf achtet, was der andere braucht und ihm im Sinne der viel zitierten Hilfe zur Selbsthilfe das verschafft, was er selbst benötigt, um wieder für sich selbst verantwortlich leben zu können. Entscheidend ist nun, dass Luther – wie die anderen Reformatoren auch – diese Grundbewegung des Christlichen nicht nur auf den einzelnen Menschen bezogen hat, sondern immer auch auf das Gemeinwesen. Insofern kann hier auch von „politischer Liebe“ die Rede sein.

Obwohl Luther keine neue soziale Ordnung zum Ziel gehabt hat, hat er sich deswegen dennoch an der Erstellung von ersten reformatorischen Armenversorgungen in Wittenberg und 1523 in Leisnig beteiligt. Dabei geht es ihm um die Einrichtung einer Art von Sozialkasse. Einzahlungen in diese Kasse der Stadt sollen aus den Erlösen der Schließung von Klöstern erfolgen, denn ihr Weiterbetrieb machte für Luther überhaupt keinen Sinn mehr. Hier allerdings muss ich einfügen: Für einige Frauen machte das durchaus Sinn. Caritas Pirckheimer etwa widersetzte sich vehement, als ihr Kloster geschlossen werden sollte. Als Äbtissin des Klarissenklosters in Nürnberg war sie hochgebildet und trat ein für den Freiraum, den das Kloster Frauen bot. Auch Elisabeth von Calenberg schützte, als sie die Reformation in Südniedersachsen einführte, die Frauenklöster als Orte von Bildung und sozialem Engagement.

Doch zurück zu den reformatorischen Gemeinden: Weitere Einzahlungen in die Sozialkasse oder das Kastenwesen sollten aus freiwilligen Gaben und Testamenten resultieren. Verwaltet wurde diese Gemeindekasse von zehn Vorstehern, die allesamt aus der städtischen und nicht aus der kirchlichen Verwaltung kamen, zwei Adelige, zwei regierender Räte, drei Bürger, drei Bauern. Die Ausgaben der Gemeindekasse sollten dann für verschiedene Aufgaben und so eben auch für die Armenversorgung genutzt werden.

Luther hat diese Leisniger Kastenordnung drucken und als Empfehlung für andere Städte verbreiten lassen. Sie wurde dementsprechend in anderen Städten übernommen. Bevor Zahlungen aus dieser Kasse griffen, galt jedoch ein klares Prinzip: Zunächst sollten alle natürlich arbeiten und erst dann, wo das nicht mehr ginge, sollte ergänzend unterstützt werden.
Nun wird der nüchterne historische Rückblick an dieser Stelle konstatieren müssen, dass sich diese Maßnahmen damals nicht gerade revolutionär von dem unterschieden, was es vorher gab. Einige Historiker meinen sogar, dass die Armenversorgung vor der Reformation, die im Wesentlichen durch Brüderschaften gesichert wurde, die ihre Mittel nicht selten durch große Benefiz-Festgelage aufbrachten (die Luther missfielen), durchaus großzügiger war und mit weniger Repression verfuhr. Dieses hatte seinen Grund darin, dass aus der Sicht der vorreformatorischen Kirche es ein gutes Werk war, den Armen etwas zu geben2 . Es ging dabei allerdings mehr um den Geber und seine Selbstrechtfertigung vor Gott als um den Empfänger. Allein schon aus dieser Haltung heraus konnte kein echtes Interesse an einer effektiven  Armutsbekämpfung resultierten. Die Existenz der Armen war wichtig, weil sie für die Reichen beteten, wenn diese sie versorgten. Die Reformation versachlicht also in dieser Hinsicht die Beziehungen und zieht das Werkgerechtigkeitsmotiv aus den Fragen der Armutsbekämpfung heraus. Gleichzeitig trennt Luther die Zuständigkeiten von geistlichen und weltlichen Instanzen in der Sozialpolitik, was sich in der Konsequenz allerdings erste viele 100 Jahre später wirklich durchsetzte.

Wie nicht nur das Beispiel der Armenkasse zeigt, ist es die soziale Inpflichtnahme der Obrigkeit durch den Wittenberger Reformator, die den Beginn des modernen sozialstaatlichen Denkens markiert, auch, wenn sich dieses Denken erst 400 Jahre später institutionell wirklich konkretisiert hat. Es ist dieser Grundgedanke der lutherischen Reformation: die Einschärfung der sozialen und sonstigen Verantwortung der Obrigkeit. Insbesondere wird das von Luther in seiner Schrift „An den christlichen Adel deutscher Nation“ ausgeführt, die in dieser Hinsicht durchschlagend war.

Hinzu kommen weitere Grundentscheidungen der Reformation, die mit dem lutherischen Arbeitsethos und natürlich seiner Berufungs- / Berufsvorstellung zu tun haben. Alle, die arbeiten, haben einen Beruf, d.h. eine Berufung durch Gott, ihrem Nächsten zu dienen. Die den Besen schwingende Magd hat in diesem Konzept keinesfalls einen geringer einzuschätzenden Beruf als der regierende Fürst.

Deutlich herausgehoben hat dies Werner Elert in seiner großen Morphologie des Luthertums von 1931. Er hebt hervor, dass Luther immer wieder die Fürsorge der Obrigkeit für die Menschen angemahnt hat: „Nicht nur Erhaltung der Machtstellung des Staates, nicht nur gesicherte Rechtspflege, sondern „gemeine wohlfahrt“ wird gefordert.“3  Man könne sogar, so meint Elert, das Urteil verstehen, dass Luthers Staatsauffassung sozialistisch gewesen sei.4 Aber Voraussetzung für die Verwirklichung dieser Ideen sei ein Staat gewesen, den es damals noch gar nicht gab.

Elert resümiert dann: „Wer immer den Staat mit Luther als göttliche Stiftung ansieht, womit für die Staatsform noch nichts gesagt ist, wird jedenfalls denen nicht beipflichten, die ihn zur bloßen Funktion der Wirtschaft herabsetzen wollen und sich davon die Lösung der sozialen Fragen versprechen. Der Staat ist für alle seine Glieder in ideeller und materieller Hinsicht verantwortlich, um der Glieder wie um seiner selbst willen.“5  Bis heute bemerkenswerte Sätze!

Es ist gerade die politische Zurückhaltung der lutherischen Kirchen, die dazu führt, den Staat sozialpolitisch in die Pflicht zu nehmen. Und es scheint genau diese  Entwicklungsrichtung zu
sein, die in Deutschland und Skandinavien später zum Sozialstaat beigetragen hat. Die andere Seite dieser Medaille ist dann allerdings auch, dass viele dieser Gesellschaften staatlich durchgeformt sind und „Subkulturen“ oftmals wenig Anerkennung finden. In Deutschland ist dem allerdings durch die breite Akzeptanz des Subsidiaritätsprinzips ein Riegel vorgeschoben (was, wie wir heute wissen, keine katholische Erfindung ist!).

Blicken wir noch einmal zurück auf die weitere Entwicklung des Sozialstaates in Deutschland, so sind dessen Ursprünge im 19. Jahrhundert auch wiederum nicht losgelöst von den Initiativen der christlichen Kirchen in der Entwicklung sozialer Verantwortung in der Zivilgesellschaft zu sehen. Mit dem Aufkommen von Not und Elend, insbesondere der Arbeiterklasse, erkennen viele der wohlhabenden Menschen ihre christliche Pflicht, das ihnen anvertraute Eigentum für die Armutsbekämpfung und im Sinne der Nächstenliebe einzusetzen. Dies geschieht in vielfältigen Aktivitäten der Diakonie und auch der Caritas. Nicht zu vergessen sind aber hier auch Initiativen wie die von Friedrich-Wilhelm Raiffeisen zur Gründung der ersten Genossenschaften im Westerwald, die zunächst als altruistische Genossenschaften der Reichen zugunsten der Armen gedacht waren. Die wohlhabenden und reichen Menschen waren gehalten, in diese Genossenschaften Einzahlungen zu leisten, um damit die ersten „Mikrokredite“ der Geschichte an notleidende Arbeiter und Bauern finanzieren zu können. Die Anfänge des modernen Genossenschaftswesens weisen damit eine deutliche Verbindung zu den reformatorischen Grundentscheidungen auf. Da denke ich beispielsweise an die Höhe des noch zu tolerierenden Zinssatzes, der bei Luther wie bei Raiffeisen auf maximal 5 Prozent festgesetzt wird.

Es gibt folglich eine tief liegende Wirkungsgeschichte ursprünglicher lutherischer Orientierungen, die bis in die modernsten Sozialstaaten hinein Auswirkungen gehabt hat. So sehr Luther die Kirche faktisch der Regierungsgewalt der Fürsten unterstellt hat, so sehr hat er diese Fürsten gleichwohl immer wieder vor ihre soziale und bildungspolitische Verantwortung gestellt. Luther nahm die jeweils gegebene Obrigkeit in ihre soziale Pflicht und es ist eben dieser - sehr häufig durchaus restaurative konservative - Zug, der sich faktisch in der Gestaltung moderner Sozialstaaten progressiv vorwärtsweisend umgesetzt hat.

Staatslenker wie Otto von Bismarck konnten dieses Denken gut aufgreifen und auch das „Soziale Königtum“ eines Lorenz von Stein, das im 19. Jahrhundert im Blick auf sozialstaatliche Entwicklungen von großem Einfluss gewesen ist, spiegelt diese Ideen wieder.

Aber wie steht es nun mit unserem heutigen Sozialstaat? Wird er noch den ursprünglichen Anforderungen gerecht? Würde Luther heute der Obrigkeit ebenso ins Gewissen reden wie damals den Fürsten? Sicherlich haben wir es heute nicht mit elementarer Not und Elend in Deutschland zu tun und dafür können wir nur dankbar sein. Der Sozialstaat heute hat ganz andere Probleme zu bewältigen, als dies zur Zeit Luthers – aber auch noch vor 50 bis 60 Jahren - der Fall gewesen ist. Die Problematik besteht heute nicht darin, dass Menschen auf der Straße verhungern würden, sondern dass es nicht möglich ist, ihnen angemessene Teilhabe an den gesellschaftlichen Möglichkeiten zu verschaffen. Insofern sind die Ansprüche an den Sozialstaat gegenüber der Zeit von Luther beträchtlich gestiegen. Heute geht es darum, dass sich Menschen mit ihren Möglichkeiten entfalten können. Ein gerechter Staat muss bereit sein, gerechte Chancen für alle zu gewährleisten.

Dafür braucht es soziale Unterstützung, dafür braucht es auch die vielfältigen Formen der Sozialversicherung, von der Arbeitslosenversicherung bis hin zur Krankenversicherung, aber es braucht auch eine Bildungs- und Arbeitsmarktpolitik, die die Chancen für Menschen beständig erweitert. Es braucht eine klare Unterstützung Alleinerziehender und ihrer Kinder. In dieser Hinsicht hat der Sozialstaat heute eine freiheitsverbürgende Funktion, ja, er ist auch die Basis für vielfältige Emanzipationsvorgänge in der Gesellschaft und sichert Menschen im Blick auf elementare Zukunftsängste ab. Mittels des Sozialstaats verschafft sich die Gesellschaft einen kollektiven Halt in den Unsicherheiten der Zukunft. In dieser Hinsicht dient der Sozialstaat auch längst nicht nur der Armutsbekämpfung der Menschen, die am Rande der Gesellschaft stehen, sondern er hat elementare sichernde Funktion für die gesamte Gesellschaft, auch für deren Mitte.

Klar ist allerdings auch, dass mit diesen vielfältigen Aufgaben der Staat als solcher leicht vollkommen überfordert sein kann. Zudem wäre es auch viel zu viel erwartet, wenn manche meinen, der Staat könnte sich individuell um jeden einzelnen Menschen liebevoll kümmern. Dies ist nicht möglich, es ist wahrscheinlich auch gut so, dass es nicht möglich ist, weil dies zu einer völligen Überwölbung der Gesellschaft mit staatlich-patriarchalischen Verfahrensweisen führen würde.

Der heutige Sozialstaat braucht deswegen mehr denn je Unterstützung aus der Zivilgesellschaft heraus. Nach unserem Verständnis darf er allerdings nicht nur die Kräfte der Zivilgesellschaft aufsaugen, sondern er soll sie sogar aktiv unterstützen, damit sie unabhängig von ihm selbstorganisierte, sichernde und befähigende Organisationen sein können. Eine ganz neue Herausforderung ist, wie dieser Sozialstaat mit Blick auf Zuwandernde funktionieren kann. Da werden Christinnen und Christen immer wieder die Liebe anmahnen müssen. Menschen, die aus Not in unser Land kommen, sind nicht „Zuwanderer in die Sozialsysteme“, sondern Individuen mit eigener Würde, die ein Recht auf Solidarität haben. Nahrung, Obdach, Zugang zu Bildung und Gesundheitseinrichtungen sind ein Menschenrecht. Für alle. Dafür hat die Diakonie einzustehen. Und wenn ich die Thesen Ihrer Sozialcharta lese, tun Sie genau das. Der „Maßstab einer lebenswerten Gesellschaft“, so heißt es dort beispielsweise, zeigt sich auch in der Gastfreundlichkeit gegenüber denen, „die nichts mitbringen“. Und: „Gastfreundlichkeit unterscheidet nicht zwischen Willkommenen und Unwillkommenen“. Das ist ein klares Wort in einer Zeit, in der Deutschland und Europa sich abschotten gegenüber den Menschen, die hier Zuflucht suchen aus den Bürgerkriegen, dem Unrecht und der Umweltzerstörung Ihrer Heimat.

Schließlich: Die Evangelischen leiten ihre Haltung aus der Bibel ab. In diesem Jahr haben wir in der Vorbereitung auf das Reformationsjubiläum das Schwerpunktthema „Reformation und Politik“. Immer wieder wird gesagt, die Kirchen sollten sich dem „Eigentlichen“ zuwenden. Gemeint ist damit Verkündigung und Seelsorge. Aber ich kann die Texte der Bibel niemals im Abseits der Realität lesen. Gerade die „kleine Bibel der Diakonie“, die Sie herausgegeben haben, zeigt so eindringlich, wie von den Zehn Geboten bis zum Barmherzigen Samariter unser Grundtext des Glaubens uns mitten in die Welt weist. Nämlich hin zu denen am Rande! Evangelische Kirche kann daher niemals unpolitisch sein, sonst würde sie verleugnen, woher sie kommt….

Wir sehen den Sozialstaat als eine Art „Kreislauf der Barmherzigkeit“ oder auch der Solidarität. Im Grunde unserer Existenz und durch den Verlauf unseres Lebens von der Wiege bis zur Bahre sind wir mit denen, die wir „Behinderte“ oder „pflegebedürftig“ nennen, also verbunden und ihnen im Prinzip gleich. Nur durch die Sprache und unseren Umgang mit ihnen, machen wir sie zu „Anderen“. Damit möchte ich sagen: Das Anderssein von Menschen mit Behinderungen ist ein gesellschaftliches Konstrukt, und das heißt, dass es veränderbar und grundsätzlich gestaltbar ist! Wer entscheidet, wann jemand den Stempel bekommt: „behindert“? Wann wird jemand auf ein Defizit festgelegt?

Barmherzigkeit ist dabei keine herablassende Geste, sie ist eine Begegnung! Es ist etwas anderes, ob ich mich herunterbeuge und einen Euro in die Mütze des Bettelnden lege oder ob ich ihm in die Augen schaue und eine Obdachlosenzeitung kaufe. Diakonische Projekte haben sich immer dadurch ausgezeichnet, dass der Empfangende nicht der Beschämte ist, sondern wir uns in einem Kreislauf des Segens sehen. In unserem Leben sind wir alle irgendwann darauf angewiesen, auch wenn wir jetzt vielleicht vor Kraft strotzen. Wer das weiß, gibt anders, ist freigebig, froh und dankbar, für andere eintreten zu können. Dem Leben – jedem Leben – wird Würde zugesprochen.

Und wer an der Würde des Lebens arbeitet, arbeitet am Evangelium. Es geht daher auch um Barmherzigkeit mit denen, die für andere eintreten. Gerade in sozialen Berufen greift oft tiefe Erschöpfung um sich. Hier gilt es, politisch für angemessene Bezahlung einzutreten und öffentliche Anerkennung für diese Berufe zu reklamieren. Wir können nicht wegschauen, wenn Pflegekräfte völlig überlastet sind und im Minutentakt Pflegeleistungen erbringen müssen. Menschen sind keine Maschinen. Eine solidarische Gesellschaft muss Wert darauf legen, dass in Würde gepflegt und betreut wird und diese enorme Leistung anständig, ja würdig bezahlt ist.

Luthers grandiose paradoxe Synthese von Freiheit und Liebe gilt uneingeschränkt auch heute. Sie gilt für jedes Individuum, das in Gemeinschaft mit anderen lebt. Und sie gilt vielleicht noch mehr politisch: Eine freie Gesellschaft, in der sich möglichst viele Menschen gemäß ihren Fähigkeiten entfalten können sollen, bedarf einer breiten sozialen Sicherung vor den uns alle betreffenden Lebensrisiken. In dieser Hinsicht ist der moderne Sozialstaat sozusagen „Love made visible“: Liebe in Strukturen.

Fußnoten:

  1. Max Scheler: Das Ressentiment im Aufbau der Moralen, Frankfurt a.M. 2004, 2. Aufl. S. 38/39.
  2. Werner Elert: Morphologie des Luthertums. 2. Band, München 1958 (Nachdruck von 1931), S. 410
  3. Ebda. S. 412
  4. Ebd.
  5. Ebd. S. 428.