Rat geben – nicht bevormunden. Einige Überlegungen zur Wahrnehmung öffentlicher Verantwortung durch die Kirchen

Hermann Barth

Vortrag in der Hermann-Ehlers-Akademie in Kiel


In Wahrnehmung ihrer öffentlichen Verantwortung mischen sich die Kirchen in politische, wirtschaftliche und kulturelle Angelegenheiten ein. Seit dem Ende der Naziherrschaft geschieht das in verstärktem Maße. Ich gebrauche bewußt den strittigen Begriff der Einmischung: Die einen wünschen sich von den Kirchen, daß sie sich kräftig in die öffentlichen Angelegenheiten einmischen und sich dabei von niemandem den Mund verbieten lassen; andere hingegen ärgern sich über solche Einmischung und geben den Kirchen den dringenden Rat: Schuster, bleib bei deinem Leisten! Was berechtigt oder nötigt gar die Kirchen zur Einmischung in die öffentlichen Angelegenheiten? Welchem Ziel dient sie? Wo liegen ihre Grenzen? Welche Erfahrungen haben Kirche und Gesellschaft damit in den vergangenen Jahrzehnten gemacht?

Es wäre reizvoll, diesen Fragen anhand aktueller Beispiele nachzugehen. Daran ist derzeit kein Mangel. Ich nenne nur drei Stichworte:

Schon beim „Karikaturenstreit“ ging es nicht allein um einen Konflikt zwischen dem Islam und den Gepflogenheiten freiheitlicher Gesellschaften. Zumindest im Hintergrund wurde die Erinnerung an Auseinandersetzungen wach, die in der ersten wie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts über „Gotteslästerung“ und die Herabsetzung religiöser Gefühle von Christen geführt wurden. Die Debatte über die Comedyserie „Popetown“ hat diese Dimension des Konflikts offenkundig gemacht.

Vor drei Wochen hat Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen zusammen mit einer evangelischen Bischöfin und einem katholischen Kardinal vor der Bundespressekonferenz den Plan eines „Bündnisses für Erziehung“ vorgestellt. Das löste eine heftige Kontroverse über die öffentliche Rolle der Kirchen aus. Die kritischen Reaktionen sahen in dem Vorgang einen Beleg für eine unserer gesellschaftlichen Situation unangemessene „privilegierte Partnerschaft“ zwischen dem Staat und den beiden großen christlichen Kirchen.

In den bioethischen Debatte haben die Kirchen mehrfach in pointierter Weise Position bezogen. Eine prominente Rolle spielten und spielen dabei die Fragen des Schutzes menschlicher Embryonen, und zwar in vivo wie in vitro. In jüngster Zeit mehren sich jedoch auch die Konflikte um Fragen der Sterbehilfe. Ich erinnere an die Vorstöße des ehemaligen Hamburger Justizsenators Roger Kusch zugunsten einer begrenzten Zulassung der Tötung auf Verlangen sowie an die Eröffnung eines Büros der Schweizer Sterbehilfeorganisation „Dignitas“ in Hannover und deren Praxis einer organisierten Suizidbeihilfe.

Diese wenigen Hinweise belegen noch einmal, wie groß die Verlockung ist, das Thema des heutigen Abends an aktuellen Beispielen durchzubuchstabieren. Sie lassen aber auch erkennen, daß auf diesem Wege viel Zeit für die detaillierte Erörterung einzelner Sach- und Fachfragen aufgewendet werden müßte und die grundsätzlichen Aspekte vernachlässigt würden. Ich habe mich methodisch darum so entschieden, das Thema vorrangig in einer systematischen und historischen Perspektive zu behandeln, in die Darstellung jedoch an geeigneten Punkten aktuelle Verweise einzustreuen. Mein Vortrag wird in drei Teile gegliedert sein:

I. Was sind die Grundlagen für die Wahrnehmung öffentlicher Verantwortung durch die Kirchen?
II. Wie haben die Kirchen in den vergangenen 60 Jahren ihre öffentliche Verantwortung wahrgenommen?
III. Was haben die Kirchen in diesem Zeitraum für die Wahrnehmung ihrer öffentlichen Verantwortung dazugelernt?

I. Was sind die Grundlagen für die Wahrnehmung öffentlicher Verantwortung durch die Kirchen?

Die Wahrnehmung öffentlicher Verantwortung bringt auf ihre Weise zum Ausdruck, daß die Kirchen nach dem Willen Gottes nicht in einer Nische leben und die Welt sich selbst überlassen, sondern daß Gott seiner Schöpfung treu bleibt und seine Sendung - schon die Sendung Jesu Christi, aber genauso die Sendung der Kirche - auf das Heil der Welt gerichtet ist. In der Bibel kommt das in vielen Passagen zum Ausdruck. Im Alten Testament ist etwa an das Auftreten der Propheten zu denken; ich nenne als Beispiele nur den Rat Jeremias an die nach Babylon Weggeführten: "Suchet der Stadt Bestes" (Jeremia 29,7) und die Vorstellung vom prophetischen Wächteramt (Hesekiel 3,16-21; 33,7-9; auch Jeremia 6,17). In den frühen christlichen Gemeinden standen, bedingt zum einen durch die Naherwartung der Wiederkunft Jesu Christi, zum anderen durch die politisch-gesellschaftliche Stellung der christlichen Gemeinden, andere Themen und Aufgaben im Vordergrund. Je mehr in der weiteren Entwicklung aber das, was wir heute öffentliche Verantwortung nennen, von der frühen christlichen Kirche wahrgenommen und ausgeübt wurde, desto deutlicher wurde es, daß und wie sie dabei auch an Aussagen des Neuen Testaments anknüpfen konnte; als Beispiel mag Jesu Wort genügen: "So gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist!" (Matthäus 21,21)

Ihren bündigen und bekenntnishaften Ausdruck hat das Verständnis der öffentlichen Verantwortung der evangelischen Kirche insbesondere in der Barmer Theologischen Erklärung von 1934 gefunden. Das gilt schon für die 2. These: "Wie Jesus Christus Gottes Zuspruch der Vergebung aller unserer Sünden ist, so und mit gleichem Ernst ist er auch Gottes kräftiger Anspruch auf unser ganzes Leben". Wer Gottes kräftigen Anspruch auf das ganze Leben der Menschen bekennt, muß sich auch um die Fragen des öffentlichen Wohls kümmern. Vor allem aber ist es die 5. These der Barmer Theologischen Erklärung, in der in knappen Lehrsätzen entfaltet wird, was unter öffentlicher Verantwortung der Kirche zu verstehen ist: "Die Schrift sagt uns, daß der Staat nach göttlicher Anordnung die Aufgabe hat, in der noch nicht erlösten Welt, in der auch die Kirche steht, nach dem Maß menschlicher Einsicht und menschlichen Vermögens unter Androhung und Ausübung von Gewalt für Recht und Frieden zu sorgen. Die Kirche erkennt in Dank und Ehrfurcht gegen Gott die Wohltat dieser seiner Anordnung an. Sie erinnert an Gottes Reich, an Gottes Gebot und Gerechtigkeit und damit an die Verantwortung der Regierenden und Regierten. Sie vertraut und gehorcht der Kraft des Wortes, durch das Gott alle Dinge trägt."

Die herausragende Bedeutung, die nach dem Zweiten Weltkrieg der Gedanke der öffentlichen Verantwortung vor allem in der evangelischen Kirche hatte, ist mit Recht immer wieder als "Frucht des Kirchenkampfes" interpretiert worden. Nach der Versagensgeschichte in der Zeit des Nationalsozialismus hatte die evangelische Kirche - so war ihr Selbstverständnis - etwas gutzumachen. Dieses Motiv hat allerdings auch dazu beigetragen, daß der Gedanke der öffentlichen Verantwortung der Kirche, insbesondere die Vorstellung eines kirchlichen Wächteramtes, insgesamt zu stark in den Vordergrund trat und, wenn der öffentliche Anspruch der Kirche pauschal als "Einmischung um Gottes willen" interpretiert wird(1), gelegentlich auch überdehnt wurde.


II. Wie haben die Kirchen in den vergangenen 60 Jahren ihre öffentliche Verantwortung wahrgenommen?

Dieser Teil will zunächst nur beschreiben, in welchen Formen und in welchen institutionellen Zusammenhängen die Kirchen in den vergangenen 60 Jahren ihre öffentliche Verantwortung wahrgenommen haben. Die kritische Bilanz ist dann Gegenstand des III. Teils.

1. Die grundlegende Gattung, derer sich die Kirchen in der Wahrnehmung ihrer öffentlichen Verantwortung bedient haben, ist die öffentliche Rede, also vornehmlich die Veröffentlichung von Erklärungen und Verlautbarungen. Dabei ist zwischen kürzeren und längeren Texten zu unterscheiden.

a) Bei den kürzeren Texten handelt es sich in der Regel um Verlautbarungen der kirchlichen Leitungsgremien oder ihrer Vorsitzenden. So haben für die EKD in den vergangenen Jahrzehnten die Synode mit ihren Beschlüssen und Kundgebungen, der Rat mit seinen Erklärungen und Äußerungen und der Vorsitzende des Rates vielfach zu öffentlichen Angelegenheiten Stellung genommen(2). Wer diese Texte durchmustert, bekommt ein anschauliches Bild von der thematischen Breite, aber auch von der Zeitgebundenheit solcher öffentlichen Verlautbarungen. Sie entstehen nicht selten aus aktuellem Anlaß und darum ohne langfristige Vorbereitung. Ihre Wirkung läßt sich, auch aus größerem zeitlichen Abstand, nur schwer abschätzen. Sie bringen die kirchliche Stimme im öffentlichen Diskurs zur Geltung. In einzelnen Fällen ist unübersehbar, daß sie Auslöser und Vorbild politischer Entscheidungen geworden sind. Das gilt etwa für den Umgang mit den im Zweiten Weltkrieg verhängten Urteilen wegen Desertion, Gehorsamsverweigerung oder Wehrkraftzersetzung(3).

b) Die längeren Texte entstehen in Fachgremien, die die kirchlichen Leitungsorgane beraten. Die EKD verfügt seit Jahrzehnten über ein differenziertes Instrumentarium solcher Fachgremien. Vor allem sind dies die Ständigen Kommissionen, einige von ihnen wie die seit 1949 bestehende Kammer für Öffentliche Verantwortung mit dem traditionellen Namen "Kammer". Aus aktuellem Anlaß werden ad-hoc-Arbeitsgruppen eingerichtet. Diese Fachgremien umfassen 10-25 Mitglieder und sind interdisziplinär zusammengesetzt. Ihre Ausarbeitungen werden, auch wenn sie konkret anderes bezeichnet sind, unter dem Begriff "Denkschriften"(4) zusammengefaßt. Auf drei Vorzüge der in solchen Fachgremien vorbereiteten Ausarbeitungen soll eigens hingewiesen werden:

- Die kirchliche Stimme wird nur ernstgenommen, wenn sie sich durch Sachkunde ausweist. Die geistliche und moralische Autorität einer Synode oder eines Bischofs mag helfen, den Äußerungen Öffentlichkeit und Gehör zu verschaffen. Aber dieser Vertrauensvorschuß ist schnell verbraucht, wenn die Sachaussagen in fachlicher Betrachtung nicht diskussionswürdig sind. Der größte Schatz der Kirchen, wenn es um Vorbereitung von Stellungnahmen zu Fragen öffentlicher Verantwortung geht, sind darum ihre Glieder mit Sachkunde auf dem einschlägigen Gebiet, Experten ihres Fachs, "Laien" innerhalb ihrer Kirche im Verhältnis zu den Geistlichen. Weil solche kirchlichen Stellungnahmen in aller Regel unter Beteiligung von Fachleuten erarbeitet werden, gibt es im übrigen keine Rechtfertigung dafür, die kirchliche Stimme leichthin abzutun - nach der Melodie: Was verstehen denn die Pfaffen und Bischöfe davon? Die kirchlichen Diskussionsbeiträge sind - nach bestem Wissen und Gewissen - fachlich geprüft und in der Sache verantwortet.

- Die Fachgremien sind mit Bedacht so zusammengesetzt, daß in ihnen unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen, verschiedene bis gegensätzliche Positionen, Experten und Laien vertreten sind. Sie stellen also eine Plattform und zugleich eine Nötigung zur Konsensbildung dar. Die Probleme liegen auf der Hand, vor allem die Flucht in den belanglosen oder gar den faulen Kompromiß. Aber diese Konstellation ist auch eine wichtige Chance, und so wird sie häufig von Mitgliedern, die sonst den Dialog über die bestehenden Fronten hinweg entbehren und vermissen, auch erlebt. Auf vielen Feldern ist die Gesellschaft zu ihrem Gedeihen, ja zu ihrem Überleben auf Konsens angewiesen. Der Konsens muß sich bewähren bei der Herstellung politischer Handlungsfähigkeit und vor allem bei der Gewährleistung des Rechtsfriedens. Es ist ein vorzüglicher Dienst an der Gesellschaft, diesen Konsens im vorpolitischen Raum vorzubereiten und zu stiften.

- Die kirchlichen Äußerungen wollen ihren Leserinnen und Lesern das ethische Urteil nicht vorschreiben und vorwegnehmen, vielmehr eine Hilfe zur eigenverantwortlichen Klärung geben. Der kirchliche Beitrag im Zeitgespräch öffentlicher Verantwortung unterliegt den allgemeinen Verständigungsregelungen, zielt auf Überzeugung und nicht Bevormundung, auf Einsicht und nicht blinde Gefolgschaft. Damit trägt jedenfalls die evangelische Kirche einem Methodenwechsel Rechnung, der sich in der theologischen Ethik der Gegenwart vollzogen hat: weg von einer Ethik, die sich auf eine durch die Autorität Gottes gegebene, unseren Gehorsam fordernde normative Setzung richtet, hin zu einer argumentierenden Ethik, die auf die vernünftige Einsicht und darum auf die freie Überzeugungs- und Gewissensbildung zielt. Es ist eine spannende Frage, ob das in gleicher Weise auch für die römisch-katholische Kirche gilt. Die erste Enzyklika des neuen Papstes, die am Anfang des Jahres unter dem Titel DEUS CARITAS EST veröffentlicht wurde(5), bietet in dieser Hinsicht aufschlußreiche Anhaltspunkte. In ihren Aussagen zum Verhältnis von Glaube und Politik und entsprechend von Kirche und Gesellschaft wird einerseits die Selbstverantwortlichkeit der Vernunft herausgestellt: Die katholische Soziallehre will "nicht Einsichten und Verhaltensweisen, die dem Glauben zugehören, denen aufdrängen, die diesen Glauben nicht teilen ... Sie will der Gewissensbildung in der Politik dienen und helfen, dass die Hellsichtigkeit für die wahren Ansprüche der Gerechtigkeit wächst und zugleich auch die Bereitschaft, von ihnen her zu handeln ... Die Kirche kann nicht und darf nicht den politischen Kampf an sich reißen, um die möglichst gerechte Gesellschaft zu verwirklichen. Sie kann und darf nicht sich an die Stelle des Staates setzen. Aber sie kann und darf im Ringen um Gerechtigkeit auch nicht abseits bleiben. Sie muss auf dem Weg der Argumentation in das Ringen der Vernunft eintreten, und sie muss die seelischen Kräfte wecken, ohne die Gerechtigkeit ... sich nicht durchsetzen und nicht gedeihen kann." Das sind wunderbare Formulierungen, denen man auch aus evangelischer Sicht nur von Herzen beipflichten kann. Andererseits spricht die Enzyklika im selben Zusammenhang sehr betont davon, daß der Kirche die Aufgabe zukomme, "zur Reinigung der Vernunft" beizutragen. Was genau ist damit gemeint? Bleibt es dabei, daß in den Fragen öffentlicher Verantwortung auch die Kirche nur "von der Vernunft und vom Naturrecht her" argumentieren kann und "auf dem Weg der Argumentation in das Ringen der Vernunft eintreten" muß? Oder steckt im Gedanken der "Reinigung der Vernunft" letztlich doch der Anspruch, über Kräfte und Quellen zu verfügen, die der menschlichen Vernunft überlegen sind? Diese Fragen müssen hier offenbleiben(6).

c) Erklärungen und Verlautbarungen, mit denen die Kirchen ihre öffentliche Verantwortung wahrnehmen, beschränken sich im übrigen nicht auf die schriftliche Form. Auch die persönliche Begegnung und das vertrauliche Gespräch mit Entscheidungsträgern in Politik, Wissenschaft und Wirtschaft gehören in diesen Zusammenhang. Nicht selten sind sie einflußreicher und hilfreicher als alles, was coram publico gesagt wird.

2. Eine besondere Form der Wahrnehmung öffentlicher Verantwortung stellt es dar, daß die Kirchen in Angelegenheiten, die sie selbst unmittelbar oder mittelbar betreffen oder in denen es um politische Grundfragen geht, Gelegenheit bekommen, in parlamentarischen Anhörungsverfahren ihre Sicht darzulegen. Das geschieht auf der Ebene der Länder ebenso wie auf der Bundesebene. So ist die EKD in den letzten Jahrzehnten vielfach an Anhörungen beteiligt worden, die von den federführenden Ausschüssen des Deutschen Bundestages durchgeführt wurden. Die Stellungnahmen, die in diesem Kontext entstanden sind, wirken in manchen Fällen weit über den unmittelbaren Anlaß hinaus und bleiben ein Referenzpunkt für die kirchliche Position. Dies gilt beispielsweise für die Stellungnahme, die aus Anlaß der Anhörung im Rechtsausschuß am 25. März 1998 zum "Übereinkommen zum Schutz der Menschenrechte und der Menschenwürde im Hinblick auf die Anwendung von Biologie und Medizin des Europarates", der sogenannten "Bioethik-Konvention" abgegeben wurde(7). Ein vergleichbarer Fall ist die Stellungnahme zum Diskussionsentwurf eines Gesetzes zum Schutz von Embryonen, die in Vorbereitung eines Embryonenschutzgesetzes vom Bundesministerium der Justiz erbeten und diesem im Dezember 1986 zugeleitet worden war(8).

3. Die Mitwirkungsmöglichkeit im Parlamentarischen Anhörungsverfahren hat eine Parallele in der den Kirchen eröffneten Möglichkeit, fachkundige Vertreter für Kommissionen zu benennen, die entweder vom Deutschen Bundestag oder von der Bundesregierung oder von anderen Körperschaften, wie etwa der Bundesärztekammer, eingerichtet werden. Diese Form der Wahrnehmung öffentlicher Verantwortung durch die Kirchen hat an Bedeutung zugenommen. Jüngste Beispiele auf der bundespolitischen Ebene betreffen die Zusammensetzung der vom Deutschen Bundestag in den Wahlperioden 1998-2002 und 2002-2006 installierten Enquete-Kommissionen zu Fragen, die von den Entwicklungen in der modernen Medizin aufgeworfen werden, und des von der Bundesregierung 2001 berufenen und 2005 wiederberufenen Nationalen Ethikrates.

4. Die Bereiche der Wahrnehmung öffentlicher Verantwortung durch die Kirchen, von denen bisher die Rede war, sind darin miteinander verbunden, daß in ihnen die Institution Kirche handelt. Das ist evident, wo kirchliche Leitungsgremien oder Amtsträger das Wort ergreifen. Es gilt aber auch dort, wo die Kirche einzelne fachkundige Personen entsendet oder benennt. Denn mit ihrer Entsendung oder Benennung ist die berechtigte Erwartung verbunden, daß sie nicht - oder jedenfalls nicht ausschließlich - ihre persönliche Auffassung, sondern die kirchliche Position wiedergeben.

Mit einer anderen Dimension der Wahrnehmung öffentlicher Verantwortung durch die Kirchen bekommen wir es hingegen dort zu tun, wo Christen nicht auf der Grundlage eines Mandats ihrer Kirche, sondern im eigenen Namen reden und handeln. Als Glieder einer Kirche repräsentieren sie diese auch. Aber es ist eine Repräsentanz im weiteren, nicht rechtlich geregelten Sinn. Über das sachliche Gewicht der einen und der anderen Stimme ist damit noch in keiner Weise entschieden. Ja, die Stimme des einzelnen Christen kann nicht selten profilierter und gehaltvoller sein als die auf der Grundlage eines kirchlichen Mandats gemachte und an den dort erreichten Konsens gebundene Äußerung.

Gerade aus evangelischer Perspektive hat diese Gestalt öffentlicher Verantwortung der Kirche ihr eigenes Recht und ihr eigenes Gewicht. Evangelische Christen, die in Politik, Wissenschaft und Wirtschaft, kurz: in ihrem weltlichen Beruf auf der Grundlage ihres christlichen Glaubens tätig sind und Verantwortung wahrnehmen, sind ein Vorposten ihrer Kirche. In der Denkschrift "Evangelische Kirche und freiheitliche Demokratie", die 1985 veröffentlicht wurde, heißt es: "Im Gehorsam gegen Gottes Gebot sollen Christen aus der Freiheit des christlichen Glaubens heraus dazu beitragen, daß der Staat als Demokratie seinem Auftrag gerecht werden kann ... Nach evangelischem Verständnis gehört die politische Existenz des Christen zu seinem weltlichen Beruf ... Im Beruf kommen nach evangelischem Verständnis seit Luther eine weltliche Aufgabe und die Verantwortung vor Gott zusammen. Der weltliche Beruf kann dem Christen nicht gleichgültig sein, weil er etwa mit seinem Glauben nichts zu tun hätte. Auch im weltlichen Beruf sind wir von Gott beansprucht. Denn er ist ein Ort, an dem die Nächstenliebe geübt werden soll, die danach fragt, was dem Nächsten und der Gemeinschaft dient und nützt" (S. 22).

In dieser Hinsicht gibt es im übrigen eine markante Differenz zum römisch-katholischen Verständnis der Kirche. Die von der Kongregation für die Glaubenslehre 2002 herausgegebene "Lehrmäßige Note zu einigen Fragen über den Einsatz und das Verhalten der Katholiken im politischen Leben"(9) zeigt deutlich, daß dort allein den Inhabern des kirchlichen Amtes die Definitionshoheit über das, was römisch-katholisch ist, zukommt und dementsprechend der einzelne katholische Christ in politischer Verantwortung vorrangig als verlängerter Arm der amtskirchlichen Position angesehen wird.

5. Die zuletzt beschriebene konfessionelle Differenz braucht allerdings das Bemühen in keiner Weise zu beeinträchtigen, in der Wahrnehmung öffentlicher Verantwortung der Kirchen die inhaltliche Gemeinsamkeit zu suchen und zu stärken. Für die Entwicklung der letzten Jahrzehnte ist es charakteristisch, daß sich die Kirchen in Deutschland, insbesondere(10) die beiden großen Kirchen, die EKD und die römisch-katholische Kirche, in wachsendem Maße darum bemüht haben, in wichtigen öffentlichen Angelegenheiten und angesichts grundlegender ethischer Herausforderungen mit einer Stimme zu sprechen. Das hat inzwischen zu zahlreichen gemeinsamen Erklärungen und Veröffentlichungen geführt. Als Beispiele seien die gemeinsame Erklärung "Gott ist ein Freund des Lebens. Herausforderungen und Aufgaben zum Schutz des Lebens" aus dem Jahr 1989 und das unter den Titel "Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit" gestellte gemeinsame Wort zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland aus dem Jahr 1997 genannt. Es gibt auf beiden Seiten auch kritische Stimmen, die auf ein eindeutigeres evangelisches oder - umgekehrt - römisch-katholisches Profil drängen. Aber die berechtigte Forderung, ein klares Profil zu zeigen, ist bei dieser Kritik nicht immer in der wünschenswerten Balance mit dem Bemühen, auf dem Boden des gemeinsamen christlichen Glaubens und der gemeinsamen Bibel auch die davon ausgehenden ethischen Orientierungen gemeinsam auszusprechen.


III. Was haben die Kirchen in den vergangenen 60 Jahren für die Wahrnehmung ihrer öffentlichen Verantwortung dazugelernt?

Zu den Lernergebnissen der vergangenen Jahrzehnte gehören Einsichten auf zwei unterschiedlichen Feldern: In dem einen Feld (1.) geht es um Verbesserungen und Ergänzungen bei den Wegen, auf denen öffentliche Verantwortung der Kirchen wahrgenommen wird. In dem anderen Feld (2.) geht es um die Klärung grundlegender Anfragen zum Ziel, zum Stellenwert und zur Reichweite öffentlicher Verantwortung.

1. Die gesellschaftliche Situation, in der heute die Wahrnehmung öffentlicher Verantwortung durch die Kirchen geschieht, ist von der früherer Jahrzehnte in vielen Hinsichten deutlich unterschieden. Eine der einschneidendsten Veränderungen resultiert aus dem enormen Bedeutungszuwachs der Medien. Die Kommunikationsbedingungen der heutigen Mediengesellschaft aber sind der Rezeption kirchlicher Stellungnahmen nicht gerade förderlich. Diese Äußerungen sind anonym, sie verbinden sich nicht mit einem bestimmten Gesicht. In ihrem Bemühen um sachliche Solidität bleiben sie häufig sehr brav und bieder. Mediale Aufmerksamkeit läuft häufig über den Konflikt: Was Streit hervorruft, das tritt aus der Fülle der Neuigkeiten und Nachrichten hervor. Nicht daß die kirchlichen Äußerungen profillos wären und des Konfliktstoffs entbehrten! Der Konfliktstoff müßte nur ausgepackt, der unter der Decke schlummernde Konflikt nur inszeniert werden. Aber damit tun sich die Kirchen im allgemeinen schwer. Manchmal tun ihnen Kritiker den Gefallen und sorgen dafür, daß auch ohne aktives Zutun der Kirchen der öffentliche Konflikt da ist. Es gibt aus der jüngeren Vergangenheit ein hochinteressantes Beispiel: Die Diskussionsgrundlage für den kirchlichen Konsultationsprozeß zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland wurde im August 1994 vorzeitig und in einer tendenziösen Auswahl in die Öffentlichkeit lanciert. Danach war das Papier interessant, und zwar weit über die kirchlichen Mauern hinaus. Der Text in sich hätte keine derartige Aufmerksamkeit gefunden. Erst der - von medialer Seite - inszenierte Konflikt, der den Kirchen zunächst ungeheuer peinlich war, hat die Nachfrage stimuliert. Aber Konfliktinszenierungen sind auch kein probates Mittel. Und außerdem: Wie viele Konflikte vertragen die Kirchen?

Noch ein anderer Gesichtspunkt - er ist bereits angeklungen - beeinflußt die Wahrnehmung öffentlicher Verantwortung durch die Kirchen: Die Mediengesellschaft drängt auf Personalisierung, sie will Positionen vorrangig nicht mit einer Institution, sondern mit einem bestimmten Gesicht verbinden. Die römisch-katholische Kirche ist von ihrer Struktur her wie für die Mediengesellschaft geschaffen; in der Person eines Bischofs, vor allem aber in der Person des Papstes läßt sich die Kirche mediengerecht darstellen. Die evangelische Kirche aber tut sich schwer mit der Personalisierung. Von ihrem Kirchen- und Amtsverständnis her hat jeder ihrer Repräsentanten oder Repräsentantinnen nur einen Auftrag auf Zeit. Die Leitung der Kirche geschieht durch die Verkündigung des Wortes Gottes. Darum besteht eine deutliche Scheu, einzelne Führungsfiguren besonders herauszustellen. Aber die evangelische Kirche hat in der Mediengesellschaft gar keine Alternative zu einer bewußten Bejahung und vernünftigen Inanspruchnahme des Mittels der Personalisierung. Unter dem Gesichtspunkt der Kirchenordnung ist es - und bleibt es - selbstverständlich ein Unterschied, ob eine bestimmte Aussage von der Synode oder vom Rat der EKD insgesamt autorisiert oder ob sie allein vom Vorsitzenden des Rates verantwortet wird. Aber die innerkirchlichen Differenzierungen - die weiterhin unerläßlich sind - werden von den Medien kaum transportiert und von der durch die Medien informierten Öffentlichkeit so gut wie gar nicht wahrgenommen. Schon die Interviewäußerung eines Oberkirchenrats im Kirchenamt der EKD führt unter Umständen zu der Meldung: "EKD erklärt ...". Die Personalisierung ist ein in den modernen Medien derart gewichtiges strukturierendes Prinzip, daß die evangelische Kirche gut beraten ist, wenn sie schon bei der Auswahl ihres Führungspersonals die Fähigkeit mit im Auge hat, ob und in welchem Maße den in Betracht kommenden Personen zuzutrauen ist, ihre Kirche auch medial wirkungsvoll zu vertreten.

Die Medien und ihr Interesse an Personalisierung haben überdies auch eine neue Gattung für die Wahrnehmung öffentlicher Verantwortung der Kirche hervorgebracht: das Interview. Gremien kann man nicht interviewen. Das Interview zielt von seiner inneren Struktur her immer auf den individuellen Ton und die persönliche Färbung. Zwischen dem Printinterview, das in der Regel nachträglich bearbeitet wird und darum noch eine große Nähe zu einem schriftlich ausgearbeiteten Text hat, und einem Interview in den elektronischen Medien bestehen dabei erhebliche Unterschiede. Wer heute in den Kirchen öffentliche Verantwortung wahrzunehmen hat, ist gut beraten, an Medientrainings teilzunehmen.

Ein früheres Mitglied des Rates hat die Wahrnehmung öffentlicher Verantwortung durch die EKD einmal so benotet: "In der Produktion öffentlicher Äußerungen sind wir ganz gut, aber in der Distribution schlecht." Bei der Berücksichtigung der durch die Mediengesellschaft geschaffenen Rahmenbedingungen geht es um die Distribution. Im letzten Jahrzehnt ist in zwei Fällen aber auch eine methodische Innovation ausprobiert worden, die die Produktion betrifft. Denkschriften und denkschriftenähnliche Texte entstehen gewöhnlich, vor den Augen der Öffentlichkeit verborgen, in Fachgremien und werden nach in der Regel jahrelanger Vorbereitung dann von einem Tag auf den anderen der Öffentlichkeit präsentiert. Die Möglichkeiten der Partizipation für die Mitglieder der Kirche, für einen weiteren Kreis von Fachleuten, für Verbände und für die Öffentlichkeit sind im ganzen äußerst gering. Hier setzt das Verfahren eines gestuften Konsultationsprozesses an. Eine von einer Kommission vorbereitete Ausarbeitung fungiert als Impulspapier. Dieses wird in einem ausführlichen Konsultationsprozeß zur Diskussion gestellt. Erst am Ende des Konsultationsprozesses und unter Berücksichtigung der dabei gemachten Erfahrungen und dazu eingegangenen Voten entsteht ein abschließender Text. Der Rat der EKD und die katholische Deutsche Bischofskonferenz haben zwischen 1994 und 1997 einen solchen Konsultationsprozeß zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland durchgeführt und mit dem Wort  "Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit" abgeschlossen. Zusammen mit dem Präsidium der Vereinigung Evangelischer Freikirchen hat der Rat der EKD dann zwischen 1999 und 2002 einen Konsultationsprozeß zum Verhältnis von Protestantismus und Kultur initiiert, der seinen Abschluß in der Denkschrift "Räume der Begegnung" gefunden hat. Gerade der Blick auf diese beiden Konsultationsprozesse bestätigt die Diagnose: Für eine hohe Sachkompetenz kirchlicher Texte zu sorgen ist zwar unerläßlich, aber dies allein gewährleistet noch keineswegs, daß die kirchliche Stimme in der Öffentlichkeit Beachtung findet und über ein kurzes Strohfeuer hinaus Wirkungen entfaltet.

Schließlich läßt sich überhaupt nicht bestreiten, daß der öffentliche Einfluß der Kirchen in den vergangenen 60 Jahren zurückgegangen ist. Das hat schon damit zu tun, daß der Anteil der Kirchenmitglieder an der Gesamtbevölkerung, zumal mit der deutschen Vereinigung, auf zwei Drittel geschrumpft ist. Nachhaltig wirkt sich aber vor allem aus, daß in Politik und Wirtschaft, Verwaltung und Gerichtswesen, Wissenschaft und Medien die Zahl derer erheblich zugenommen hat, die entweder keiner Kirche angehören oder keine starke kirchliche Bindung haben; es macht einen Unterschied, ob die Kirchen es auf diesen Ebenen mit Menschen zu tun haben, die sich mit und in der Kirche auskennen und positiv etwas von ihr erwarten, oder mit Menschen, die der Kirche ohne vertieftes Verständnis, mit Indifferenz oder gar mit Feindseligkeit begegnen.
2. Zu den grundlegenden Fragen, die sich im Blick auf die Wahrnehmung öffentlicher Verantwortung der Kirche, speziell bei öffentlichen Stellungnahmen zu politischen und ethischen Themen, stellen, hat der Rat der EKD 1970 eine von der Kammer für soziale Ordnung vorbereitete Denkschrift, die sogenannte "Denkschriften-Denkschrift", herausgegeben(11). Sie ist weiterhin lesenswert und hilfreich, trägt aber auch deutlich die Spuren ihrer Entstehungszeit an sich und bedarf im Lichte der in der Zwischenzeit gemachten Erfahrungen der Präzisierung und Weiterführung. Der im November 2003 gewählte Rat der EKD hat seine Kammer für Öffentliche Verantwortung beauftragt, an einer solchen Präzisierung und Weiterführung zu arbeiten und ihm so rasch wie möglich einen Entwurf vorzulegen.

Das gemeinsame Wort des Rates der EKD und der Deutschen Bischofskonferenz zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland von 1997 enthält in der Einleitung ("Hinführung") eine Passage, die wichtige Einsichten zur Wahrnehmung öffentlicher Verantwortung durch die Kirchen prägnant zusammenfaßt. Der Text bezieht sich konkret auf eine Äußerung zur Wirtschafts- und Sozialpolitik. Das in dieser Beziehung Gesagte läßt sich aber unschwer auf andere politische und ethische Themen anwenden:

"Die Kirchen wollen nicht selbst Politik machen, sie wollen Politik möglich machen.

Das Wort der Kirchen ist kein alternatives Sachverständigengutachten und kein weiterer Jahreswirtschaftsbericht. Die Kirchen sind nicht
politische Partei. Sie streben keine politische Macht an, um ein bestimmtes Programm zu verwirklichen. Ihren Auftrag und ihre Kompetenz sehen sie auf dem Gebiet der Wirtschafts- und Sozialpolitik vor allem darin, für eine Wertorientierung einzutreten, die dem Wohlergehen aller dient. Sie betrachten es als ihre besondere Verpflichtung, dem Anliegen jener Gehör zu verschaffen, die im wirtschaftlichen und politischen Kalkül leicht vergessen werden, weil sie sich selbst nicht wirksam artikulieren können: der Armen, Benachteiligten und Machtlosen, auch der kommenden Generationen und der stummen Kreatur. Sie wollen auf diese Weise die Voraussetzungen für eine Politik schaffen, die sich an den Maßstäben der Solidarität und Gerechtigkeit orientiert.

... Handlungsfähigkeit und Handlungsbereitschaft der Politik werden in der Demokratie entscheidend durch Einstellungen und Verhaltensweisen aller Bürgerinnen und Bürger bestimmt. Der kirchliche Beitrag ... ist um so erfolgreicher, je mehr es ihm gelingt, Einstellungen und Verhaltensweisen zu verändern und dadurch die politischen Handlungsspielräume zu erweitern, und umgekehrt um so erfolgloser, je weniger er in dieser Hinsicht auslöst und bewirkt. In einer Demokratie sind die Handlungsspielräume der Politik abhängig von den Einstellungen und Verhaltensweisen der Wählerinnen und Wähler. Aus der Verantwortung aber, die vorhandenen und die neu geschaffenen Handlungsspielräume mutig zu nutzen, kann die Politik nicht entlassen werden"(12).

Folgende Gesichtspunkte verdienen in diesem Zusammenhang besondere Beachtung:

a) Die Kirchen sollen in der Wahrnehmung ihrer öffentlichen Verantwortung nicht weitere "Sachverständigengutachten" oder Expertisen liefern. Ihr Beitrag soll als ein spezifisch kirchlicher erkennbar werden. Das wird sich auch daran zeigen müssen, daß sie sich nicht zu allem und jedem äußern. Sie sind nicht politische Partei und sind darum nicht auf sämtlichen politischen Handlungsfeldern gefordert. Ihr Reden und Handeln hat vielmehr eine doppelte Schwerpunktsetzung: "für eine Wertorientierung einzutreten, die dem Wohlergehen aller dient", und "dem Anliegen jener Gehör zu verschaffen, die ... leicht vergessen werden, weil sie sich selbst nicht wirksam artikulieren können: der Armen, Benachteiligten und Machtlosen, auch der kommenden Generationen und der stummen Kreatur". Die Folge einer solchen Konzentration und Selbstbeschränkung wird es sein, daß die Zahl der öffentlichen Stellungnahmen kleiner wird. Die Kirche verfehlt ihre Aufgabe, wenn sie sich auf die Ebene der Kommentierung der Tagespolitik begibt. Das öffentliche kirchliche Wort muß rarer werden, das verleiht ihm auch mehr Gewicht.

b) Wenn sich die Kirchen darauf konzentrieren, "Einstellungen und Verhaltensweisen zu verändern und dadurch die politischen Handlungsspielräume zu erweitern", mit anderen Worten: nicht selbst Politik zu machen, sondern Politik möglich zu machen, dann werden sie auch verstärkt darauf zu achten haben, bewußt und ausdrücklich Raum zu lassen für unterschiedliche Ergebnisse der konkreten ethischen Urteilsbildung und des konkreten politischen Vorgehens. Es gibt viele politische und ethische Fragen, bei denen Christen mit guten Gründen unterschiedlicher Auffassung sein können. Eine Reihe von öffentlichen Stellungnahmen der EKD wird im Untertitel expressis verbis als "Beitrag zur ethischen Urteilsbildung" bezeichnet(13). In dieser Formulierung kommt zum Ausdruck, daß die EKD mit ihren öffentlichen Äußerungen, wie bereits angedeutet, das ethische Urteil der Leserinnen und Leser nicht vorschreiben und vorwegnehmen, vielmehr eine Hilfe zur eigenverantwortlichen Klärung geben will. Der Beitrag der evangelischen Kirche zur ethischen Orientierung folgt dem Grundsatz: Rat geben - nicht bevormunden. Wenn dies als Grundsatz klar ist und auch immer wieder konkret kenntlich gemacht wird, dann spricht nichts dagegen, daß Leitungsgremien und Repräsentanten der evangelischen Kirche auch zu denjenigen Fragen öffentlich das Wort ergreifen, in denen in der Kirche unterschiedliche Positionen de facto vertreten werden und mit guten Gründen vertreten werden können. Sie nehmen auf diese Weise ihre Leitungsverantwortung wahr, zu der es auch gehört, in umstrittenen ethischen Fragen Orientierungspunkte zu benennen und damit eine Hilfe zur persönlichen ethischen Urteilsbildung zu geben.

Ein gelungenes Beispiel dafür ist die von der Kammer für Öffentliche Verantwortung vorbereitete und 2002 veröffentlichte "Argumentationshilfe für aktuelle medizin- und bioethische Fragen"(14). Im Vorwort hat der seinerzeitige Vorsitzende des Rates, Präses Manfred Kock, dargelegt, aus welchen Gründen und mit welcher Absicht der Rat - obgleich er sich nur die eine der beiden in der Kammer vertretenen Argumentationslinien zu eigen machen konnte - einer Veröffentlichung des Textes zugestimmt hat: "Der Rat trägt seine Position in der bioethischen Debatte nicht mit dem Anspruch vor, abschließend darüber bestimmen zu können, was derzeit und künftig als evangelisch zu gelten habe. Er sieht sich durchaus verpflichtet, mit seinen öffentlichen Äußerungen den evangelischen Christen und der Öffentlichkeit insgesamt eine Hilfe zur ethischen Urteilsbildung zu geben und mit seiner Einrede die für Forschung und ihre politischen Bedingungen Verantwortlichen vor vorschnellen Schritten zu bewahren. Vollzogen werden kann die ethische Urteilsbildung aber nur in jener persönlichen Verantwortung vor Gott, in welche Christen ihr gesamtes Leben und Handeln gestellt sehen. Darum hat die protestantische Tradition immer nur in wenigen Fragen Eindeutigkeit oder Einstimmigkeit verlangt, nämlich in den Grundfragen des Glaubens, mit denen die Kirche steht oder fällt. Unter diesen Voraussetzungen ist es nicht nur legitim, sondern geradezu notwendig, dass die konkreten Standpunkte innerhalb unserer Kirche klar ausgesprochen werden. Das schafft die Möglichkeit, den eigenen Standpunkt einer kritischen Prüfung zu unterziehen. Denn wir sollen uns im Dissens nicht einrichten. Wir brauchen vielmehr dringend die Bereitschaft, aufeinander zu hören, und jedenfalls die ernsthafte Absicht, uns bei besserer Belehrung auch zu korrigieren" (S. 4).

c) Eine Kirche, die öffentliche Verantwortung wahrnimmt, ist politischer Akteur. Sie ist es in einem anderen Sinne als eine politische Partei oder als die Medien, aber sie ist es. Um so mehr kommt es darauf an, daß die Kirche sowohl von ihrem Selbstverständnis her als auch im Lichte der Erwartungen ihrer Mitglieder und der Öffentlichkeit bei der Erfüllung ihres Öffentlichkeitsauftrags die richtigen Prioritäten setzt. Der grundlegende Öffentlichkeitsauftrag der Kirche ist es, "die Botschaft von der freien Gnade Gottes auszurichten" (These 6 der Barmer Theologischen Erklärung), mit anderen Worten: Menschen dafür gewinnen, Jünger und Jüngerinnen Jesu Christi zu werden, und sie zu lehren, das zu halten, was Jesus Christus geboten hat (Matthäus 28,19f). Die Öffentlichkeit und die Mitglieder der Kirche erwarten von ihr geradezu, daß sie in "Glaubenssachen" kompetent und auskunftsfähig ist, daß sie etwas zu sagen hat zu Himmel und Hölle, zu Heilung und Heil, zu Schuld und Vergebung, zu Beichte und Neuanfang, zu Gebet und Stille. Wenn die Kirche diese Erwartungen nicht befriedigt, dann bekommen andere Anbieter um so größere Chancen - bis hin zu den Talkshows im Fernsehen, von denen manche zum öffentlichen Beichtstuhl werden. Dabei sei noch einmal deutlich gemacht: Zwischen Religion und Politik, zwischen Glaube und öffentlicher Verantwortung besteht nicht das Verhältnis eines "entweder - oder". Der christliche Glaube drängt auf Weltgestaltung. Darum kann sich die Kirche nicht fernhalten von den aktuellen Streitfragen der Gesellschaft. Aber die Proportionen müssen stimmen. Es muß erkennbar bleiben, was für die Kirche das Zentrum ist und was die Kreise um das Zentrum, was das Fundament ist, auf dem alles andere aufbaut, und was einzelne Teile des Gebäudes, die so, aber auch anders ausgeführt werden können.

Der gegenwärtige Vorsitzende des Rates der EKD, Bischof Wolfgang Huber, hat in seinem 1998 erschienenen Buch "Kirche in der Zeitenwende. Gesellschaftlicher Wandel und Erneuerung der Kirche"(15) die vordringliche Aufgabe der Kirchen so gekennzeichnet:

"Die Kirchen sind herausgefordert, den Menschen persönliche Gewißheit zu vermitteln und sich an der Suche nach einem neuen gesellschaftlichen Leitbild zu beteiligen. Sie können sich dabei jedoch nicht auf die Frage nach moralischen Maßstäben beschränken, sondern müssen ihre spezifische religiöse Kompetenz zur Geltung bringen. Dabei können sie dem Tatbestand nicht ausweichen, daß der christliche Glaube seine Selbstverständlichkeit verloren hat. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, das, was nicht mehr selbstverständlich ist, neu verständlich zu machen. Darin liegt zugleich eine große Chance. Denn die vermeintliche Selbstverständlichkeit des Glaubens hat dessen Wahrheit nicht nur erschlossen, sondern auch verdeckt. Es ist die erste Aufgabe der Kirche, das Glaubensthema wieder ins Zentrum zu rücken. Sie hat den Menschen die Botschaft von der unverdienten Gnade Gottes auf neue Weise verständlich zu machen, um ihnen so den Zugang zu Gott zu erschließen. Wenn sie dem Heiligen Raum gibt, rückt sie auch die Welterfahrung in einen neuen Horizont. Für die evangelische Kirche ergibt sich aus einer Konzentration auf das Glaubensthema vor allem eine Korrektur der Selbstsäkularisierung, in der dieses Thema oft hinter moralischen Appellen verschwand."

Damit ist bündig beschrieben, in welchem Horizont die Kirchen jetzt und künftig ihre öffentliche Verantwortung wahrzunehmen haben.
 

Fußnoten:
 
1 In einer treffenden Formulierung bemerkt T. Rendtorff, daß nach 1945 im kirchlichen Diskurs über öffentliche Äußerungen der EKD "die Erfahrungen der Zeit von 1933 bis 1945" im Hintergrund mitsprechen "wie ein permanent mitlaufender Subtext, der jederzeit wieder aufgerufen werden kann, wo über die öffentliche Rolle der Kirche gestritten wird" (Die Autorität der Freiheit. Theologische Beobachtungen zur öffentlichen Rolle der Evangelischen Kirche in Deutschland, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 101, 2004, S. 379-396, dort S. 381)

2 Sie sind in den Bänden der Reihe "Kundgebungen. Worte, Erklärungen und Dokumente der Evangelischen Kirche in Deutschland" gut zugänglich. Zwischen 1959 und 2004 sind insgesamt fünf Bände in dieser Reihe erschienen, die den gesamten Zeitraum zwischen 1945 und 2002 abdecken. Hinzu kommen zwei Bände mit den entsprechenden, aus den Jahren 1969-1991 stammenden Texten aus dem Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR.

3 Vgl. dazu die "Kundgebung" der Synode der EKD "zu den Deserteuren des Zweiten Weltkrieges" vom 6. November 1996 (Kundgebungen Bd. 5, 2004, S. 225f).

4 Vgl. zur Terminologie meinen Artikel "Denkschriften" in: Evangelisches Soziallexikon. Neue Ausgabe. Hg. von M. Honecker u.a., 2001, Sp. 260-265. Neben den Einzelveröffentlichungen erscheinen seit 1978 Sammelbände unter dem Titel "Die Denkschriften der Evangelischen Kirche in Deutschland", mittlerweile 11 an der Zahl. Seit dem vergangenen Jahr sind "Die Denkschriften der Evangelischen Kirche in Deutschland 1962-2002" - ergänzt um Einführungen zu den einzelnen Texten - auf einer CD-Rom verfügbar.

5 Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 171, hg. v. Sekretariat der Deutschen Bischoskonferenz (Zitate: Ziffern 28-29 = S. 36-41).

6 Vgl. noch U. Ruh, Der Glaube und die Politik, in: Herder-Korrespondenz 60, 2006, S. 163-165; W. Huber, Reinigung der Liebe - Reinigung der Vernunft, in: Gott ist die Liebe. Die Enzyklika "Deus caritas est". Ökumenisch kommentiert von Bischof Wolfgang Huber u.a., Freiburg i.B./Basel/Wien 2006, S.97-111.

7 Die Stellungnahme ist abgedruckt in: Kirchliches Jahrbuch für die Evangelische Kirche in Deutschland 1998, 125. Jahrgang, 2002, S. 4-10.

8 Der Text der Stellungnahme ist abgedruckt in: Kirchliches Jahrbuch für die Evangelische Kirche in Deutschland 1986, 113. Jahrgang, 1989, S. 338-343.

9 Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 158, hg. v. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz.

10 Die besonders enge Kooperation zwischen dem Rat der EKD und der katholischen Deutschen Bischofskonferenz findet ihren Ausdruck nicht nur darin, daß sich aus aktuellem Anlaß der Vorsitzende des Rates und der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz nicht selten in einer gemeinsamen Stellungnahme äußern, sondern auch darin, daß, beginnend im Jahr 1990 und inzwischen 18 Hefte umfassend, eine gesonderte Reihe "Gemeinsame Texte" (herausgegeben vom Kirchenamt der EKD und vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz) eingerichtet wurde.

11 Sie trägt den Titel: "Aufgaben und Grenzen kirchlicher Äußerungen zu gesellschaftlichen Fragen" und ist abgedruckt in Band 1/1 des Sammelwerks "Die Denkschriften der Evangelischen Kirche in Deutschland", 1978, dort S. 43-76. Beachtung verdient in diesem Zusammenhang auch die im selben Band (dort S. 9-39) enthaltene "Einführung" von Ludwig Raiser mit dem Titel: "Die Denkschriften der Evangelischen Kirche in Deutschland als Wahrnehmung des Öffentlichkeitsauftrages der Kirche".

12 Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit, Gemeinsame Texte 9, 1997, S. 7f.

13 Vgl. z.B. Einverständnis mit der Schöpfung. Ein Beitrag zur ethischen Urteilsbildung im Blick auf die Gentechnik, 2., um einen Anhang erweiterte Auflage 1997.

14 Sie trägt den Titel: "Im Geist der Liebe mit dem Leben umgehen" und ist als Heft 71 der EKD-Texte publiziert worden.

15 Erschienen im Verlag Bertelsmann Stiftung Gütersloh (Zitat: S. 11 f).