„Reformatorisches Profil und interreligiöser Dialog“ - Vortrag in der Französischen Friedrichstadtkirche zu Berlin als Teil des Kongresses über Herausforderungen und Chancen der Auslandsarbeit der EKD

Hermann Barth

Wer als evangelischer Theologe den Namen "Barth" trägt, befindet sich in guter Gesellschaft. Das zeigt sich nicht zuletzt daran, dass mir - auch vierzig Jahre nach seinem Tod - noch regelmäßig die Frage gestellt wird: "Sind Sie vielleicht sogar mit ihm verwandt?" Karl Barth und seine Söhne Christoph und Markus in Ehren. Aber noch kein einziges Mal bin ich gefragt worden, ob ich familiär etwas mit Hans-Martin Barth zu tun habe. Ich verkenne nicht den Unterschied im theologiegeschichtlichen Rang. Mir liegt jedoch daran, angesichts des Themas, mit dem wir es an diesem Nachmittag zu tun haben, den besonderen Beitrag zu würdigen, den wir Hans-Martin Barth bei der Entwicklung einer - so seine eigene Formulierung - "interreligiös sensiblen christlichen Dogmatik"1 zu verdanken haben. Seiner 2001 erschienenen "Dogmatik"  hat er den Untertitel gegeben: "Evangelischer Glaube im Kontext der Weltreligionen". Im Vorwort erläutert er sein Vorhaben folgendermaßen:

"Theologen früherer Generationen mögen ihre Erzeugnisse mit dem Bewusstsein zum Druck gebracht haben, 'die christliche Wahrheit' zu präsentieren ... Dass christlicher Glaube immer in Frage gestellter ... Glaube ist, kam dabei meist nur unzureichend zum Ausdruck ... Heute und in nächster Zukunft ist es die Konkurrenz nichtchristlicher Religionen, in der sich der christliche Glaube bewähren muss - und kann ... Die multikulturelle und multireligiöse Situation fordert zur Reflexion des eigenen Standorts und zum Versuch einer Verhältnisbestimmung heraus. Die Öffnung zur innerchristlichen Ökumene allein reicht nicht mehr aus ... Zur Kompetenz gerade von Pfarrern und Pfarrerinnen wird es künftig gehören, dass sie die wichtigsten Aussagen nichtchristlicher Religionen kennen und aus ihrer eigenen Sicht dazu Stellung zu nehmen vermögen"2 .

Dementsprechend versteht Hans-Martin Barth seine "Dogmatik" ausdrücklich als "Anregung zum interreligiösen Dialog"3 . Dieselbe Botschaft steckt der Sache nach ja schon in der Programmplanung des heutigen Nachmittags: Wer sich Rechenschaft über das Zeugnis geben will, das uns heute abverlangt ist, der kann von der multireligiösen Situation, in der wir leben - hier in Deutschland ebenso wie weltweit -, nicht absehen.

"Reformatorisches Profil und interreligiöser Dialog" – diese Überschrift haben die Kollegen der Hauptabteilung "Ökumene und Auslandsarbeit" mir für meinen Vortrag vorgegeben. Eine Gliederung in drei Teile ergibt sich wie von selbst. Fast. Ich beginne in Teil I mit der Frage: Warum braucht die Welt den interreligiösen Dialog? Was macht ihn gerade heute so dringlich? Ein möglicher Partner in diesem Dialog sind wir, die Christen, genauer: die Protestanten, die Christen vom reformatorischen Ast am Baum der Christenheit. Teil II meines Vortrags wendet sich der Frage zu: Wie gehen speziell die reformatorischen Kirchen mit dem interreligiösen Dialog um? Gibt es dabei in theologischer und dann auch in praktischer Hinsicht so etwas wie ein reformatorisches Profil? Teil III schließlich verbindet die Thematik der beiden ersten Teile und geht der Frage nach: Welche Fähigkeiten brauchen wir im interreligiösen Dialog? Wie führen wir ihn? Worauf kommt es uns dabei an?

Um Erwartungen vorzubeugen, die jedenfalls ich nicht einlösen kann, füge ich noch eine letzte Vorbemerkung hinzu: Der Vortrag ist zwar Teil eines Kongresses über Herausforderungen und Chancen der Auslandsarbeit der evangelischen Kirche, aber weder verfüge ich über eigene dienstliche Erfahrungen in diesem Feld, noch kompensiere ich die berufliche Bodenständigkeit durch ein privates Weltenbummlerdasein. Mein Vortrag ist, um es im Bild auszudrücken, mehr ein Schwarz-Weiß-Film als ein Farbfilm. Aber die meisten, die hier versammelt sind, können diese Lücke aus eigener Anschauung füllen, und im übrigen ist es unter den Verhältnissen der Globalisierung überall, selbst in Hannover, möglich, eine Ahnung von religiöser Vielfalt und interreligiöser Begegnung zu bekommen.

I.  Warum braucht die Welt gerade heutzutage den interreligiösen Dialog?

1. In den 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts hatten die Friedensfragen in Kirche, Gesellschaft und Politik Hochkonjunktur, ja, mehr als das: höchste Dringlichkeit. Das hatte seinen sachlichen Grund darin, dass unter dem Regime des "Gleichgewichts des Schreckens" der Friede schlicht eine Überlebensbedingung für die Menschheit geworden war. In jener Zeit entwickelten sich in den Kirchen zwei kräftige Bewegungen, um die anstehenden Aufgaben in einer gemeinsamen Anstrengung anzupacken: Auf der Ebene des ÖRK - was war das noch für ein ÖRK! - entstand ab 1983 der konziliare Prozess gegenseitiger Verpflichtung für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung, und der Düsseldorfer Kirchentag von 1985 wurde für Carl Friedrich von Weizsäcker zur Bühne für den Aufruf zu einem Konzil des Friedens. Beide Bewegungen zeichneten sich dadurch aus, dass die Interdependenz der Friedensfragen mit den Themen Gerechtigkeit, Freiheit und Bewahrung der Schöpfung zum Allgemeingut wurde. Carl Friedrich von Weizsäcker hat dies 1986 in seinem kleinen Buch "Die Zeit drängt" in eingängige Formulierungen gefasst:

"Kein Friede ohne Gerechtigkeit, keine Gerechtigkeit ohne Frieden.
Keine Gerechtigkeit ohne Freiheit, keine Freiheit ohne Gerechtigkeit.
Kein Friede unter den Menschen ohne Frieden mit der Natur.
Kein Friede mit der Natur ohne Frieden unter den Menschen."4

Zwanzig Jahre später ist unübersehbar geworden, welche Fortsetzung diese Sequenz braucht:

Kein Friede zwischen den Kulturen ohne Friede zwischen den Religionen.
Kein Friede zwischen den Religionen ohne Frieden zwischen den Kulturen.

1993 veröffentlichte der US-amerikanische Politologe Samuel Huntington einen großen Zeitschriftenartikel, 1996 dann ein selbständiges Buch über tiefgreifende Veränderungen in den globalen Konfliktstrukturen. Beide Texte enthielten in ihrem Titel den Ausdruck vom clash of civilizations und entfalteten die These, dass sich in Zukunft Konflikte und Kriege nicht mehr so sehr entlang ideologischer Linien und politischer Machtbereiche als vielmehr entlang kultureller und somit auch religiöser Linien entwickeln würden. Das fokussiert den Blick notwendigerweise gerade auch auf den kulturellen Antagonismus zwischen der vom Christentum geprägten westlichen und der islamischen Welt. Der Befund, der dabei festgestellt wird, ist - wer könnte überrascht sein? - streckenweise beängstigend5. Die Kritik unterstellte Huntington selbst allerdings zu Unrecht, er habe die ideologische Begleitmusik zur US-amerikanischen Politik im Vorderen Orient liefern wollen. Das Gegenteil ist richtig: Er macht darauf aufmerksam, welche kulturellen und religiösen Brückenschläge nötig sind, um im 21. Jahrhundert Konfliktvorbeugung und Kriegsverhinderung zu betreiben.

Aber es ist nicht nur die These Samuel Huntingtons vom drohenden clash of civilizations, die dazu beigetragen hat, diese Bewusstseinserweiterung herbeizuführen. Nicht weniger einflussreich ist die Wiederentdeckung der Religion in den scheinbar durchsäkularisierten Gesellschaften des westlichen Europa, damit auch ihre Rückkehr auf die Bühne des öffentlichen Diskurses. Die Kräfte der Religionen waren keineswegs, wie es noch gegen Ende des 20. Jahrhunderts eine verbreitete Meinung war, einer zunächst schleichenden und sich dann beschleunigenden Auszehrung ausgesetzt. Im Gegenteil: Bis hin zu den nach eigenem Bekunden "religiös unmusikalischen" Vertretern der Philosophie und anderer Wissenschaften breitete sich die Einsicht aus, dass es leichtfertig wäre, auf die Sprache und die Vorstellungswelt der Religionen zu verzichten. Denn die Gesellschaften und die Menschheit insgesamt haben nicht so sehr viele Ressourcen, aus denen Menschen Motivation, Vision und Zuversicht für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit schöpfen können. So steht die Religion nicht länger für eine verblassende Vergangenheit, sie hat Zukunft, ja mehr, sie schafft Zukunft.

Oder genauer: Es gibt Religion, die Zukunft hat und schafft. Die Rehabilitation der Religion stellt keinen Blankoscheck dar. Die Geschichte des Christentums illustriert selbst in beklemmender Weise, dass es neben Gestalten von Religion, die eine Spur des Segens ziehen, auch solche gibt, die eine Spur der Zerstörung hinterlassen. Gegenüber dem Phänomen der Religion ist die Kraft kritischer Unterscheidung nötig. Das geht aber nicht so, dass unappetitliche religiöse Gruppierungen einfach aus der Welt der Religion herausdefiniert werden. Innerhalb der Welt der Religion selbst müssen Unterscheidungen getroffen werden. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist gerade dabei, diese Lektion zu lernen. Von 1949 an hatte es die Rechtsordnung in Deutschland für fünfzig Jahre im wesentlichen mit zivilisierten Erscheinungsformen von Religion zu tun. Da konnte es sich das Gericht leisten, alle religiösen Äußerungsformen durch die Religionsfreiheit legitimiert zu sehen. Diese Zeiten sind vorbei. Die Auseinandersetzung um Scientology war ein erstes Wetterleuchten. Im Falle des Islam geht es um Dinge wie die Ausrufung des Dschihad, die Abwägung zwischen der Verletzung religiöser Gefühle und der Meinungsfreiheit, das Tragen des Kopftuchs oder die körperliche Züchtigung der Ehefrau.

2. Es versteht sich also nicht von selbst, dass der Friede zwischen den Kulturen nicht zu haben ist ohne den Frieden zwischen den Religionen. Vielmehr ist damit die Aufgabe bezeichnet, die gewalttätigen, zerstörerischen Kräfte der Religion auszuscheiden oder zu verwandeln und ihre versöhnenden, friedenstiftenden Kräfte zu entbinden. Diese Aufgabe betrifft weltweit, aber auch in unserem Land insbesondere das Zusammenleben von Christen und Muslimen. Damit stellt sich die Frage, auf welchen Ebenen Christen und Muslime zum Brückenschlag zwischen ihren Kulturen beitragen können. In diesem Vortrag geht es zwar vorrangig um die Ebene des Dialogs, aber ich sehe es als hilfreich an, ihr die Begegnung und das Gebet, also einerseits eine offenere und andererseits eine ungleich intensivere Weise des Miteinanders an die Seite zu stellen.

a) Die Begegnung zwischen Christen und Muslimen kennt viele Formen: das alltägliche Zusammenleben, Fest und Feier, das gemeinsame Handeln in Verantwortung für das gesellschaftliche Miteinander, förmliche Gespräche zwischen Repräsentanten beider Seiten. Von Theo Sundermeier6  ist das, was bei solchen Begegnungen geschieht, immer wieder als "Konvivenz" beschrieben worden.

Eine besondere Rolle bei der Ermöglichung von Konvivenz spielen Gastfreundschaft und die gemeinsame Begehung von Festen. Schon früh hat der Kirche gelernt, uneingeschränkt Gastfreundschaft zu üben, so dass diese zum Kennzeichen des Urchristentums wurde und wesentlich zur Anziehungskraft der neuen Religion beigetragen hat. Gastfreundschaft ist immer eine Sache auf Wechselseitigkeit. Apostelgeschichte 10 erzählt davon, wie Gottes Geist Petrus aufforderte, sich von "Heiden" einladen zu lassen und mit ihnen Tischgemeinschaft zu halten, obwohl das den Reinheitsvorschriften der Jerusalemer Urgemeinde widersprach. Sich einladen lassen schafft Begegnung auf Augenhöhe. Dies gilt zumal für Feste. Hier ist der Fremde als Gast willkommen, hier können sich Gastgeber und Gast an Regeln orientieren, die dem Fremdem einen respektierten Platz in der Gemeinschaft zuweisen und ihm zugleich die Freiheit lassen, sich so weit auf die Atmosphäre der anderen Religion einzulassen, wie er es verantworten kann. Hier kann Begegnung so stattfinden, dass beide, Christen und Muslime, ganz beim anderen sind, doch zugleich sie selbst bleiben.

Auch bei einer kollektiven Form wie dem Fest ereignet sich die Begegnung von Christen und Muslimen vorrangig zwischen einzelnen, die sich mit ihren individuellen Lebensweisen und Glaubensüberzeugungen einbringen. Jede solche Begegnung lebt davon, dass die Partner mit ihren persönlichen Meinungen geachtet und ernst genommen werden.

Im allgemeinen können wir nur dort wirklich in den Raum und das Selbstverständnis einer anderen Religion und Kultur eindringen, wo wir jemanden haben, der uns gleichsam an die Hand nimmt und in die fremde Gesellschaft einführt, bis ein Vertrauensverhältnis entsteht. Theo Sundermeier nennt diese Personen gern "Grenzgänger" und "Grenzgängerinnen" und erinnert daran, dass es in manchen Kulturen die feste Institution des "Fremdenführers" gab, der im Auftrag des Häuptlings oder des Fürsten sich der Fremden annahm, sie begleitete und dafür sorgte, dass das Gastrecht nicht angetastet wurde.

b) Gemeinschaft im Gebet zu suchen und zu finden ist für Angehörige unterschiedlicher Religionen und Kulturen nicht die naheliegendste, sondern die schwierigste Übung, mithin das Ende, nicht der Anfang eines gemeinsamen Weges. Als eine mögliche Form, die Verbundenheit auch im Beten zum Ausdruck zu bringen, kommt stets die respektvolle Teilnahme am Gebet der jeweils anderen Religion in Betracht7 . Das lässt alle Freiheit, innerlich einzustimmen in Aussagen, die man aus dem eigenen Glauben mitvollziehen kann, oder umgekehrt sich zurückzuziehen auf die Rolle des achtungsvollen Zuhörers.

Wenn auf christlicher Seite darüber hinaus diskutiert und geprüft wird, ob es theologisch verantwortbar ist, zusammen mit Angehörigen einer anderen Religion zu beten, ist es ratsam, sich von folgendem Kriterium leiten zu lassen: Können die Angehörigen aller beteiligten Religionen bei einem gemeinsamen Gebet so beten, wie sie es je für sich in ihren eigenen gottesdienstlichen Vollzügen und in Treue zu ihrer Frömmigkeitstradition tun würden, oder würde dies für andere Beteiligte zu einer schwerwiegenden Störung oder gar Gewissensbelastung werden, so dass einem ausdrücklichen Wunsch folgend oder in stillschweigender Rücksichtnahme auf bestimmte Aussagen und Rituale verzichtet wird? Ein Vorgehen, bei dem das je eigene Profil abgeschliffen oder ganz unkenntlich gemacht wird, bezahlt für die Ermöglichung der Gemeinsamkeit einen zu hohen Preis: Es kommt gar nicht zu einer wirklichen Begegnung. Die Beteiligten agieren und reden ja anders, als sie es sonst beim Beten tun. Sie verstellen sich. Die erzielte Gemeinsamkeit ist unter diesen Voraussetzungen keine echte, sondern nur eine scheinbare, vorgetäuschte Gemeinsamkeit.

Ist es möglich, eine Form der Gemeinschaft im Gebet zu finden, die die Zusammengehörigkeit der Religionen ausdrückt, ohne den Schritt zu einem gemeinsam gesprochenen Wortlaut zu gehen? Von dieser Fragestellung ließ sich das Friedensgebet leiten, zu dem Papst Johannes Paul II. zuerst im Jahr 1986 die Religionen und kirchlichen Gemeinschaften nach Assisi einlud. Die von Assisi ausgehenden Formeln hießen: nebeneinander, aber nicht miteinander beten bzw. zusammenkommen, um zu beten, aber nicht kommen, um zusammen zu beten. Eine ähnliche Unterscheidung, nämlich zwischen inter- und multireligiösem Gebet, hat, ausgehend von einem Beitrag des Kollegiums der Dozenten und Dozentinnen der Augustana-Hochschule in Neuendettelsau, 1992 eine Ausarbeitung aus der bayerischen Landeskirche unter dem Titel "Multireligiöses Beten" vorgenommen. Beide terminologischen Unterscheidungen waren außerordentlich einflussreich und haben zahlreiche Nachahmer gefunden. Je länger desto mehr hat sich allerdings gezeigt, dass der begrifflichen Differenzierung keine klare sachliche Differenzierung entspricht: Die Situation spricht mit, das Nebeneinanderbeten sendet ein eigenes Signal aus, das multireligiöse Beten sieht letztlich genauso aus wie das interreligiöse Beten. Die römisch-katholische Kirche hat daraus - schon unter dem Pontifikat Johannes Paul II. - erste Konsequenzen für das Friedensgebet von Assisi gezogen, und unter dem Pontifikat Benedikt XVI. sind weitere Klarstellungen wahrscheinlich. Es ist durchaus denkbar, dass im Zuge dieser Entwicklung auf katholischer wie evangelischer Seite der Gedanke eines "multireligiösen Betens" vollends aufgegeben wird.

c)  Der Dialog ist ein unersetzliches, praktisch bewährtes und zudem flexibles Instrument für die Begegnung der Kulturen und Religionen. Er kann auch dazu dienen, die gegeneinanderstehenden Wahrheitsansprüche der beteiligten Religionen miteinander ins Gespräch zu bringen. Aber das ist ein höchst anspruchsvolles Unterfangen und wird darum vermutlich die Ausnahme sein. Der Dialog gehört, theologisch gesprochen, mehr in das weltliche Regiment Gottes als in das geistliche, also in die Schöpfungs- und Erhaltungsordnung. Er eignet sich in besonderer Weise dazu,  die Gemeinsamkeiten auszuloten und zu vertiefen und gleichzeitig die Unterschiede zu erkennen und zu achten, die kritische Auseinandersetzung in einer zivilisierten Form zu führen und eine Toleranz einzuüben, die über das bequeme Hinnehmen hinausgeht. Insofern kann man sagen: Zu einem Dialog in diesem Sinne gibt es keine Alternative.

Kürzlich ist freilich ein Buch8  erschienen, das die Erwartungen an den Dialog als Brückenschlag zwischen den Kulturen nicht nur nicht teilt, sondern als politisch ohnmächtig und theologisch naiv beurteilt:

Der Glaube - so heißt es dort - "ist der blinde Fleck unseres Denkens. Das hat ... eine für die Utopie eines 'Dialogs der Religionen' vernichtende Konsequenz ... Wer fromm ist, hat kein Interesse am Marktplatz der Ideen. Er hat die Wahrheit – und deshalb kein Interesse an einer anderen Wahrheit. Was nämlich eine Religion, die sich ernst nimmt, von einer bloßen Meinung unterscheidet, ist der Anspruch auf privilegierten Zugang zur Wahrheit. Und deshalb gibt es keine liberale Antwort auf die heute so dringliche Frage. Wie soll man mit Leuten diskutieren, die von der Überlegenheit ihrer Kultur überzeugt sind? ... Höchstwerte sind ... keine Alternativen, sondern Todfeinde ...

Eine Religion, die es, wie heute der Islam. auch politisch ernst meint, ist nicht tolerant. Deshalb kann sie von der Religion der Toleranz, also dem Liberalismus, nicht toleriert werden. Man sollte sich hier nicht von der humanistischen Seminarerfahrung der Religionswissenschaftler und der politischen Korrektheit der Politiker irreführen lassen, die uns heute unisono einreden wollen, der Islam sei eine Religion des Friedens. Eine Religion predigt Toleranz, solange und wo sie nicht an der Macht ist. Und umgekehrt ist Macht immer ein Maß dafür, wie weit man sich nicht anpassen muss."

Das waren ein paar Kostproben aus der jüngsten, unter dem Titel "Das Wissen der Religion" erschienenen Veröffentlichung des Kommunikationswissenschaftlers Norbert Bolz. Er sieht sich wie Max Weber und Jürgen Habermas als religiös unmusikalisch und hat sympathisch altmodische Ansichten von den Aufgaben der Kirche und dem Inhalt ihrer Verkündigung. Aber das verleiht seinen Invektiven gegen den Dialog der Religionen und seinen pauschalen Urteilen über den Islam noch lange keine Überzeugungskraft. Der Islam setzt sich – das weiß doch auch Bolz - nicht nur aus Fundamentalisten zusammen. Was spricht dagegen, den Dialog mit den Gesprächsbereiten zu beginnen? Und selbst fundamentalistische Kreise sind kein homogener Block, so dass man sie pauschal abschreiben und für den Terrorismus verlorengeben dürfte. Aus manchen Fundamentalisten von gestern ist schon die pragmatische Führungsschicht von heute geworden; deshalb ist es gut investierte Zeit, das Menschenmögliche zu versuchen, um die Chancen zu verbessern, dass Fundamentalisten nicht alle Fundamentalisten bleiben.

Auch wenn der Autor zu diesen Einsichten selbst nicht findet, so ringt er sich doch immerhin ein halbes Dementi in Form einer Ehrenerklärung für die Idee eines Dialogs der Religionen ab: "In all ihrer politischen Ohnmacht und theologischen Naivität bleibt die Idee eines Dialogs der Religionen doch ehrenhaft als der Versuch, heil hindurchzusteuern zwischen der Skylla hasserfüllter Gotteskrieger und der Charybdis wutschnaubender Aufklärer"9 . Das ist zwar nichts Halbes und nichts Ganzes, aber besser als nichts.

II. Was ist im Umgang mit dem interreligiösen Dialog das reformatorische Profil?

1. Profilbildung und Bemühung um die Schärfung des eigenen Profils stehen an der Spitze der Agenda: bei den politischen Parteien nicht minder als im Verhältnis zwischen den Kirchen. Dies ist jedoch alles andere als eine Modeerscheinung oder eine subjektive Vorliebe. Vielmehr nötigt die pluralistische Situation in immer mehr Lebensbereichen dazu, sich besser kenntlich zu machen. Dass dies erstens möglich ist und zweitens gelingt, ist freilich nicht garantiert – aus unterschiedlichen Gründen. Auch bei der Frage nach dem reformatorischen Profil im Umgang mit dem interreligiösen Dialog bekommen wir es mit dieser Schwierigkeit zu tun – allein schon deshalb, weil die theologische Debatte über das Verhältnis des christlichen Glaubens zu nichtchristlichen Religionen fast ein Jahrhundert lang kaum stattfand, jedenfalls nicht zu den bevorzugten Forschungs- und Publikationsvorhaben gehörte. Auch in den Kammern und Kommissionen des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland wurde dieses Thema erst zu Anfang des 21. Jahrhunderts angepackt. 2003 erschien dann der Beitrag der Kammer für Theologie mit dem Titel: "Christlicher Glaube und nichtchristliche Religionen - Theologische Leitlinien"10 . Er hat durchaus ein scharfes Profil, aber deswegen löst er auch zahlreiche Rückfragen aus, und man tut dem vor fünf Jahren erzielten Ergebnis nicht Unrecht, wenn man feststellt: Dieser Text kann nur ein Anfang sein.

Ich gebe seine wichtigsten Aussagen kurz wieder:

Wahrheit ist ein Ereignis, in dem das geschieht, worauf man sich schlechterdings verlassen kann. Nach christlichem Verständnis ereignet sich die Wahrheit in der Offenbarung Gottes in Jesus Christus. Die Wahrheit rettet und heilt. Für sie treten Christen ein, wenn sie Menschen anderer Religionen begegnen. Würden die Kirche und die Christen darauf verzichten, dann hätten sie im Grunde aufgehört, Kirche und Christen zu sein.

Die Wahrheit als Ereignis aber wird niemals ein menschlicher Besitz. Man "hat" sie nur, weil und insofern man von ihr ergriffen wird. Sie lässt sich nicht erzwingen und nicht fordern, sondern nur in Freiheit realisieren. In dieser Hinsicht sind Christen in der gleichen Lage wie die Menschen mit anderen religiösen Grunderfahrungen. Sie sind selbst auf das Ereignis der Wahrheit angewiesen, das sie bezeugen.

Auf diese Weise sind die Kirche und die Christen davon entlastet, den Religionen einen "Absolutheitsanspruch" entgegenzusetzen. Sie werden das in der Begegnung mit anderen Religionen so klar wie möglich machen müssen. Ihre Lehre, ihre Lebensformen und Lebensordnungen sind nicht die wahre Religion. Sie sind der Versuch, der Erfahrung der Wahrheit Gottes menschlich zu entsprechen. Die Kirche und die Christen können und wollen dementsprechend mit ihrer Religion das "Ankommen" dieser Wahrheit bei religiös anders glaubenden Menschen nicht erzwingen. Sie wollen mit ihrer Religion keine Mauer zwischen sich und den Menschen anderer Religionen aufrichten. Sie weisen, indem sie von der Wahrheit reden, darauf hin, dass sie sich nur in der Freiheit Gottes ereignen kann. Ja, sie begegnen anderen Religionen in der Erwartung, dass sich dort ebenfalls in irgendeiner Weise Erfahrungen mit dieser Wahrheit finden.

Diese Erwartung impliziert wiederum auch die kritische Frage an die Vertreter anderer Religionen, ob ihre besonderen religiösen Erfahrungen sie tatsächlich zur Offenheit für das Ereignis der Wahrheit, die mit Recht Gottes Wahrheit zu heißen verdient, befähigen. Es gehört geradezu zur Achtung vor Menschen anderer Religion, ihren Überzeugungen zu widersprechen, wenn man Grund hat, sie nicht zu teilen.

Es liegt nicht in der Hand der Christenheit, den Gegensatz der Religionen mit dem so verstandenen Bezeugen der Wahrheit aus der Welt zu schaffen. Nach evangelischem Verständnis wird vielmehr, wenn es zum interreligiösen Dialog kommt, um die Wahrheit, um die Überzeugungskraft der eigenen und der anderen religiösen Glaubenseinsicht in Freiheit zu streiten sein. Dass derartige Dialoge durch irgendeine Methodik zur religiösen Entdifferenzierung führen, ist weder zu erwarten noch sinnvollerweise anzustreben. Es geht dabei jedoch um den Abbau falscher Vorstellungen von der anderen Religion, um den Versuch des Verstehens ihres besonderen Profils und vielleicht um die Entdeckung von Dimensionen der Gemeinsamkeit.

Man merkt gerade bei dem Versuch, den Text knapp zusammenzufassen, wie wahr es ist, dass das nur ein Anfang sein kann – vielleicht liegt es auch an meiner Zusammenfassung, aber nicht nur!

2. Das scharfe Profil des Textes hängt zweifelsohne mit der Entscheidung zusammen, christologisch, ja christozentrisch zu argumentieren. In der reformatorischen Theologie hat dies Tradition. Als das grundlegende evangelische Markenzeichen gilt die particula exclusiva, im Deutschen "allein", im Lateinischen "solus". Ihr Gebrauch hat sich insbesondere in fünf Exklusivitätsformeln verdichtet: "Christus allein", "aus  Gnade allein", "mittels des Wortes allein", "durch den Glauben allein", "die Heilige Schrift allein".

Die Anknüpfung an das reformatorische "Christus allein" wird im übrigen auch Auswirkungen haben auf die Art und Weise, wie wir es kommentieren, wenn und dass öffentlich wieder mehr von Gott die Rede ist. Da hat sich in der Tat etwas zu ändern begonnen. Aber wir dürfen uns nichts vormachen: Die Gottesvergessenheit ist nach wie vor groß, und sie reicht hinein bis in die Kirchen. Nicht wenige genieren sich, von Gott zu reden. Ganz anders bei den unter uns lebenden Muslimen. Eine Lehrerin an einem der Gymnasien Hannovers erzählte mir folgende Begebenheit. Als sie in einer 9. Klasse im Fach Geschichte die Entstehung von Klöstern und Orden im Mittelalter behandelte, kam nach einer Unterrichtsstunde ein türkischer Schüler zu ihr und fragte sie: "Glauben Sie an Gott?" Diese Frage war ihr in der jüngeren Vergangenheit, wenn überhaupt, nur als skeptische oder spöttische Frage begegnet. Wir können uns freilich nicht damit zufrieden geben, dass überhaupt von Gott geredet wird, von irgendeinem Gott, von einem höheren Wesen, das irgendwie alle verehren. Es ist unzureichend, den Glauben an irgendein göttliches Wesen moralisch und praktisch dem Nicht-an-Gott-glauben vorzuziehen – wie es auch unzureichend ist, Religion als solche positiv zu bewerten und in jeder Religion einen Kooperations- und Bündnispartner des christlichen Glaubens zu sehen. Wir haben den Auftrag, von dem Gott Zeugnis abzulegen, der sich in Jesus Christus kenntlich gemacht hat.

3. Die christologisch-christozentrische Orientierung erweist sich nicht nur als kritischer Maßstab im Umgang mit anderen Religionen und religiösen Äußerungen. Sie führt auch zu unerwarteten Allianzen. Die folgenden Formulierungen – so wird man auf reformatorischer Seite unwidersprochen feststellen können – sind "Geist von unserm Geist":

Die "missionarische Verkündigung der Kirche wird heute durch relativistische Theorien gefährdet, die den religiösen Pluralismus nicht nur de facto, sondern auch ...  prinzipiell rechtfertigen wollen ... Die Wurzeln dieser Auffassungen sind in einigen Voraussetzungen philosophischer wie auch theologischer Natur zu suchen, die dem Verständnis und der Annahme der geoffenbarten Wahrheit entgegenstehen ... Um dieser relativistischen Mentalität, die sich immer mehr ausbreitet, Abhilfe zu schaffen, muss vor allem der endgültige und vollständige Charakter der Offenbarung Jesu Christi bekräftigt werden ... [Jesus Christus] ist 'der Weg, die Wahrheit und das Leben' (Joh 14,6)"11 .

Das ist wortwörtlich ein Zitat aus einem Dokument der römischen Glaubenskongregation, und zwar vom Jahr 2000 aus der Ära des Präfekten Joseph Ratzinger, und bei dem Dokument handelt es sich ausgerechnet um - , ja: "DOMINUS IESUS". Auch wenn einem diese Gesellschaft etwas unbehaglich ist – wo der gegenwärtige Papst recht hat, hat er recht12 . Grundsätzlich sehe ich in der Ausrichtung auf die christliche, nicht speziell die evangelische Identität ohnehin eine sachgemäße Antwort auf die gegenwärtige Situation des christlichen Glaubens. Wenn ich nach meiner religiösen und kirchlichen Verwurzelung gefragt werde, heißt meine Antwort vorrangig: Ich bin Christ. Erst in dieser Klammer kann und muss dann auch gesagt werden, was innerhalb des gemeinsam Christlichen das spezifisch Evangelische ist.

III. Wie kann der interreligiöse Dialog gelingen?

1. Damit ein Dialog gelingt, muss er mindestens zwei Voraussetzungen erfüllen - das gilt wie für den Dialog allgemein so auch für den interreligiösen Dialog: Erstens muss er in zivilisierten Formen verlaufen. Wo der eine dem anderen permanent ins Wort fällt, wo es also erkennbar an der Bereitschaft fehlt, eine andere Sicht der Dinge an sich herankommen zu lassen - und das passiert selbst in hochkarätig besetzten und darum ein um so schlechteres Vorbild liefernden Fernseh-Talkrunden -, da wird nicht nur kostbare Lebenszeit vergeudet. Es wird auch leichtfertig die Erwartung beschädigt, die Wahrheit habe eine besondere Affinität zum Dialog und sie erschließe sich eher auf dem Weg des Dialogs als auf dem Weg des einsamen Nachdenkens. Zweitens dürfen nicht Maskerade und Versteckspiel an die Stelle von wahrhaftiger Begegnung treten. Die Dialogpartner sollen keine Theatervorstellung geben, sie sollen nicht eine andere Person oder Position mimen, sondern sie sollen sie selbst sein. Wenn sie sich hingegen verstellen, können keine tragfähigen Ergebnisse erzielt werden. Man meint dann, es diene dem Dialog, wenn das eigene Profil abgeschliffen, jede Schärfe herausgenommen und der eine oder andere Kritikpunkt verschwiegen wird. Gewiss - Provokationen und verletzende Äußerungen sind zu meiden. Aber Offenheit und Aufrichtigkeit sind unersetzlich.

2. Die vor zweieinhalb Jahren erschienene Handreichung des Rates13  mit dem Titel "Klarheit und gute Nachbarschaft" bietet neben vielen anderen erhellenden und klärenden Beiträgen eine nützliche Liste von zehn Regeln für die Vorbereitung und Durchführung von interreligiösen Dialogen. Sie stehen zwar im Kontext einer Schrift, die sich speziell mit dem Verhältnis von Christen und Muslimen in Deutschland beschäftigt. Doch reicht ihre Geltung weit darüber hinaus.

Die Zeit der Reaktionen auf "Klarheit und gute Nachbarschaft", die die Handreichung in Bausch und Bogen verdammten,  scheint zu Ende zu gehen, aber es sei hier noch einmal ausdrücklich festgestellt: Die Begriffe "Klarheit" und "Nachbarschaft" stehen für zwei komplementäre Zugänge zum Thema: für das Ausleuchten umstrittener oder aufklärungsbedürftiger Sachverhalte einerseits und für die Pflege der nachbarlichen Beziehungen andererseits. Beide Elemente müssen zusammengedacht werden.

Die zehn Regeln streifen die Grenze des Banalen, etwa wenn es in der ersten heißt: "Kenntnisse über den jeweiligen Dialogpartner erwerben". Aber so elementar ist genau das Richtige. Es ist den Erfahreneren eher zuzumuten, dass sie etwas überblättern müssen, als den Unerfahrenen, dass ihnen mangels ausreichender Information Anfängerfehler unterlaufen. Im Zusammenhang des Vortrages können die zehn Regeln unkommentiert bleiben:

"1. Kenntnisse über den jeweiligen Dialogpartner erwerben
Eine gute Recherche und inhaltliche Vorbereitung können den Blick schärfen und helfen, die richtigen Fragen anzusprechen. Dies darf aber die Offenheit und Neugier für die unmittelbare Begegnung nicht behindern.

2. Sich in Respekt und Einfühlungsvermögen üben
Es ist die Bereitschaft gefordert, dem Partner auf gleicher Augenhöhe zu begegnen und ihn zunächst von seinen Intentionen her zu verstehen.

3. Den Dialog zielgerichtet führen und auswerten
Ziele, Inhalte und Themen sollten genau abgesprochen werden. Dialogerfahrungen sollten von einer kundigen Person gesammelt, ausgewertet, geprüft und zu neuen Konzeptionen verdichtet werden.

4. Den Dialog vom eigenen Standpunkt aus führen
Dialog ist auch eine Chance zur Überprüfung und Festigung des eigenen Standortes und zur Verbesserung der Kenntnisse und Auskunftsfähigkeit zu zentralen christlichen Glaubensaussagen.

5. Eine Balance halten zwischen der Suche nach Gemeinsamkeiten und dem Festhalten von Unterschieden

Im Dialog mit Muslimen ist der Glaube an Jesus Christus und seine Heilsbedeutung ein zentraler Punkt, an dem sich Anknüpfungspunkte, aber auch grundlegende Differenzen zeigen.

6. Dialog und Mission im Zusammenhang sehen

Dialog und Mission schließen sich nicht aus. Christliche Mission versteht sich in der Trias von Zusammenleben (Konvivenz), Dialog und Mission. Christen sind auch gegenüber Muslimen ihrem Zeugnisauftrag verpflichtet.

7. Miteinander im Tun des Guten und Gerechten (vgl. Sure 5, 48; 16, 125) wetteifern

Christen und Muslime werden sich in erster Linie auf der Ebene der Ethik, der Werte und der konkreten Handlungsziele – dem "Dialog des Handelns" – treffen können; hier eröffnet sich ein breites Spektrum gemeinsamer Aktivitäten.

8. Wahrheitsfragen nicht ausklammern

Es ist eine zentrale Frage, wie der Wahrheitsanspruch des eigenen Glaubens vertreten, aber gleichzeitig dem Gegenüber sein Anspruch auf Wahrheit zugestanden werden kann.

9. Den Dialog aufrichtig führen

Die Dialogpartner sollten sich ihrer Motive und Ziele bewusst sein. Es sollte nicht die eigene "bessere" Theorie mit der "schlechten" Praxis des anderen verglichen werden.

10. Kritik und Selbstkritik üben

Für Kritik offen und zu Selbstkritik fähig zu sein, setzt Vertrauen voraus. Dieses muss in Zusammenarbeit wachsen. Die Geschichte der Feindschaft und der Konflikte zwischen Christentum und Islam anzusprechen und mit den Muslimen aufzuarbeiten, ist ein wichtiger Schritt zu vertiefter Zusammenarbeit."

"Die Zeit drängt." Diesen Titel hatte, wie schon erwähnt,  Carl Friedrich von Weizsäcker im Jahr 1986 dem kleinen Buch gegeben, in dem er um des Überlebens der Menschheit willen Bündnispartner für politische und mentale Veränderungen zu gewinnen suchte. Heute, wo es darum geht, den Konflikten und Kriegen vorzubeugen, die an den kulturellen und religiösen Bruchlinien der Weltgesellschaft zu entstehen drohen, ist der Satz nicht minder aktuell.
 
Es ist kein Zweifel erlaubt: Der Islam braucht eine Modernisierung, nicht im Sinn der Anpassung an den Zeitgeist, sondern im Sinn der Inkulturation in die Moderne. Ich nenne nur einige Beispiele: Die heilige Schrift des Islam, der Koran, gilt der Mehrzahl der gläubigen Muslime als eine wörtliche Eingebung des Himmels, tritt also mit einem zeitlosen Gültigkeitsanspruch auf; es ist noch ein weiter Weg, bis der Koran als ein historisches Dokument gelesen wird. Erst dann ist aber die Möglichkeit gegeben, den Koran nicht als unantastbare, sondern als kritisierbare Größe anzusehen und zu behandeln., Modernisierung heißt unweigerlich auch Pluralisierung; sie schafft Freiheitsräume, weil zwischen unterschiedlichen Geltungsansprüchen entschieden werden kann und muss. Die Trennung der religiösen und der politischen Sphäre macht es überhaupt erst möglich, Transparenz in den Entscheidungsabläufen herzustellen und Kompromisse als Steuerungsinstrument komplexer Gesellschaften wertzuschätzen.

So über die Dringlichkeit einer Modernisierung des Isalm zu denken und zu reden kann einem leicht als christlicher Hochmut ausgelegt werden. Überlegenheitsgefühl und Hochmut ist derzeit auch eine reale Gefahr. Aber den Kirchen und den Christen vergeht der Hochmut schnell, wenn sie ihre eigene Geschichte ansehen. Die Trennung der religiösen und der politischen Sphäre hat zwar schon im Mittelalter eingesetzt, doch hat es bis weit in die Neuzeit gedauert, bis sie vollendet wurde. Die Menschenrechte wurzeln gewiss auch im Humus des biblischen Verständnisses des Menschen, aber ihre ungeteilte Anerkennung durch die Kirchen ist zum Teil noch gar nicht so lange her. Die Aufklärung und mit ihr die anderen Signa der Moderne schließlich erschienen bis weit ins 19. Jahrhundert mehr als Gegner denn als Bundesgenossen, und erst spät sind sie von den Kirchen und den Christen nicht nur nolens volens hingenommen, sondern eingesehen, anerkannt und aus freien Stücken bejaht worden. Es gibt alte und junge Kirchen, denen das bis zum heutigen Tage schwerfällt.

Unser gemeinsames christlich-muslimisches Problem besteht nun allerdings darin, dass ein kultureller Wandel, wie ihn der Islam vor sich hat, viel Zeit braucht, wir angesichts des Potentials von Konflikten, Gewaltmitteln und Gewaltbereitschaft, das in unserer Welt erkennbar ist, nicht so sehr viel Zeit haben. Das macht den christlich-muslimischen Dialog um so dringlicher. Dabei muss eine Balance gefunden werden zwischen Toleranz und Kritik, geduldigem Warten und ungeduldigem Drängen. Jeder Ton der Besserwisserei schadet nur. Erst wenn eine Atmosphäre des Vertrauens entstanden ist, öffnen sich nicht nur die Ohren, sondern auch die Herzen. Theo Sundermeier hat schon recht: Wir brauchen im christlich-muslimischen Dialog aufseiten der Kirchen "Grenzgänger" und "Grenzgängerinnen", die sich in der Kraft der Liebe Christi und unter der Leitung des Heiligen Geistes zwischen den Religionen und Kulturen bewegen.

1 Dogmatik. Evangelischer Glaube im Kontext der Weltreligionen. Ein Lehrbuch, Gütersloh 2001.

2 A.a.O. S. 7f.

3 A.a.O. S. 8.

4 A.a.O. S. 115f.

5 Vgl. z.B. den religionskritischen US-Bestseller von Sam Harris: The End of Faith. Religion, Terror, and the Future of Reason, 2004, dort S. 103-152.

6 Vgl. unter seinen Veröffentlichungen vor allem: Den Fremden verstehen. Eine praktische Hermeneutik, Göttingen 1996; Mission – Geschenk der Freiheit. Bausteine für eine Theologie der Mission, Frankfurt am Main
2005; Religion – was ist das? Religionswissenschaft im theologischen Kontext. Ein Studienbuch, Frankfurt am Main 2007.

7 Vgl. dazu Asfa-Wossen Asserate, Manieren, Frankfurt am Main 2004, S. 110-118: "Die Manieren und die Religion".

8 Norbert Bolz, Das Wissen der Religion. Betrachtungen eines religiös Unmusikalischen, München 2008, S. 21ff (Zitat: 21-23.25f).

9 A.a. O. S. 26.

10 EKD-Texte 77.

11 Kongregation für die Glaubenslehre: Erklärung DOMINUS IESUS. Über die Einzigkeit und die Heilsuniversalität Jesu Christi und der Kirche vom 6. August 2000, Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 148, S. 5ff.

12  Auch der seinerzeitige Ratsvorsitzende, Präses Manfred Kock, folgt dieser Linie. In seiner Stellungnahme am Tage der Veröffentlichung von "DOMINUS IESUS", also am 5. September 2000, bewertet er die Erklärung zwar insgesamt als "Rückschlag", würdigt aber die Passagen, die "über die Einzigkeit und die Heilsuniversalität Jesu Christi" handeln: Sie berührten "sich in der Sache eng mit der christologischen Konzentration und Orientierung" der Barmer Theologischen Erklärung.

13 Klarheit und gute Nachbarschaft. Christen und Muslime in Deutschland. Eine Handreichung des Rates der EKD, EKD-Texte 86, Hannover 2006, dort S. 112f.