Worte von Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm, Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD)

im ökumenischen Gottesdienst im Berliner Dom anlässlich der Erinnerung an den Völkermord an Armeniern, Aramäern, Assyrern und Pontos-Griechen

Sehr geehrter Herr Bundespräsident, Eminenzen und Exzellenzen,
meine Damen und Herren, liebe Brüder und Schwestern,

für den Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland begrüße ich Sie zum ökumenischen Gottesdienst im Gedenken an den Genozid an Armeniern, Aramäern, Assyrern und Pontos-Griechen. Die Armenische Apostolische Kirche, die Syrisch-Orthodoxe Kirche, die Orthodoxe Bischofskonferenz, die Deutsche Bischofskonferenz, die Evangelische Kirche in Deutschland und die Arbeitsgemeinschaft christlicher Kirchen in Deutschland feiern diesen Gottesdienst in ökumenischer Gemeinschaft, weil wir alle Glieder am einen Leib Jesu Christi sind und deshalb auch die Last der Trauer gemeinsam tragen. Mit dem Apostel Paulus wissen wir: „Wenn ein Glied leidet, so leiden alle Glieder mit“ (1Kor 12,26).

Wir sind dankbar, dass Sie, sehr geehrter Herr Bundespräsident, unserer Einladung gefolgt sind und nach dem Gottesdienst zu uns sprechen werden. Mit Ihrem Kommen zeigen Sie, wie wichtig es ist, die Erinnerung an den Völkermord wachzuhalten. Wir schätzen Sie als eine Persönlichkeit, die für die notwendige Aufarbeitung auch der dunklen Seiten der deutschen Vergangenheit eintritt.

Diesen Dank an unser Staatsoberhaupt spreche ich im Wissen um die Mitschuld Deutschlands am Genozid im Jahr 1915 aus. Die Mitschuld besteht im Wegsehen der Diplomaten, Militärs und Politiker gegenüber den Tätern des Jungtürkischen Regimes, den Verbündeten des Deutschen Reiches im Ersten Weltkrieg und in der Zusammenarbeit mit ihnen. Sie besteht ebenso in der moralischen Gleichgültigkeit, ja dem Zynismus der Regierung des Deutschen Reiches gegenüber den Opfern. Hier müssen wir mit Beschämung den Ausdruck einer Erosion ethischer Normen erkennen, die später in Deutschland selbst in der Shoah ihren fürchterlichen Ausdruck fand.

Das moralische Versagen, das zur Mittäterschaft Deutschlands im Genozid von 1915 führte und später Ausdruck in der Täterschaft Deutschland in der Shoah fand, beschränkte sich nicht auf die staatlichen Akteure. Bis auf wenige Ausnahmen betraf es auch die Evangelische Kirche. Wir erinnern an Johannes Lepsius, der 1915 nichts unterließ, um auf den Genozid aufmerksam zu machen und das Gewissen der Menschen wachzurütteln. Doch dürfen wir ebenso nicht verschweigen, dass evangelische Kirchenleitungen und Missionsgesellschaften vor einhundert Jahren genau Bescheid wussten, dass sie aber dennoch wegschauten und untätig blieben. Als Evangelische Kirche in Deutschland stehen wir deshalb in einer besonderen Verantwortung, wie es Synode und Rat der EKD bereits vor zehn Jahren zum 90. Jahrestag des Genozids mit folgendden Worten zum Ausdruck brachten: „Die Vergangenheit lässt uns nicht los, bis sie wirklich aufgearbeitet ist. Schuld muss angenommen werden, die Wahrheit muss verkündet werden. Dieser schwere Schritt der Rückwendung zur eigenen Geschichte ist notwendig, um den Weg zur Vergebung zu öffnen, bittere Erinnerungen zu heilen und eine gemeinsame Zukunft zu gewinnen.“ Nur wenn wir diese eigene Mitschuld deutlich und klar aussprechen und anerkennen, können wir auch die Türkei dazu ermutigen, sich aufrichtig und objektiv mit dem Verbrechen des Genozid auseinanderzusetzen.

Das Bekennen von eigener Schuld ist nicht zu trennen von der Verantwortung für die Gegenwart. Das Eintreten für Menschenrechte und Religionsfreiheit weltweit ist für uns – gerade aus unserer Schuldgeschichte heraus, der Mitschuld am Genozid von 1915 und der Schuld an der Shoah – unverzichtbar. Dabei denken wir heute auch an alle Menschen, Christen, Juden und Muslime, die im Nahen Osten und überall Opfer von ethnisch oder religiös motivierter Gewalt werden. Der Genozid des Jahres 1915 und das deutsche Verbrechen der Shoah mahnen uns, dass es keine Alternative zur Koexistenz von Kulturen und Religionen gibt und dass die Vorstellung von gewaltsam vereinheitlichten religiösen oder ethnischen Territorien ein schrecklicher Irrweg ist.

Der christliche Glaube verbindet das Bekennen der Schuld und die Bitte um Vergebung mit einer Hoffnung. Wir wissen, dass jedes Erinnern von der Vergangenheit ausgeht und ausgehen muss. Aber Erinnern beschränkt sich nicht auf das bloße gedankliche Wiederholen des Vergangenen. Erinnern im christlichen Sinn nimmt das Geschehene, das Getane und das Erlittene hinein in die Geschichte Gottes mit den Menschen und bittet zugleich um Gottes Geist, der Herzen und Sinne der Menschen verwandelt und erneuert.

Im ökumenischen Gespräch mit unseren Schwesterkirchen der orientalischen und der byzantinischen Tradition haben wir dies aus der Liturgie, dem gottesdienstlichen Geschehen, gelernt: In jeder Gottesdienstfeier tritt zum Erinnern, zur Anamnese, die Anrufung des verwandelnden und Zukunft schenkenden Geistes Gottes, die Epiklese. Wenn wir also heute gemeinsam im ökumenischen Gottesdienst an den Genozid vor einhundert Jahren erinnern, so geschieht dies in der Hoffnung, dass uns das gemeinsame Erinnern verwandelt: Wer das Erinnerte zusammenbringt mit der Geschichte Gottes mit den Menschen, wird durch das Erinnern selbst transformiert. Diese Erfahrung steht im Zentrum unseres Glaubens.

Wäre es nicht so, dann müsste sich das Erinnern auf ein ewiges Kreisen um das Vergangene beschränken. Solch ein Erinnern bliebe ohne jede Kraft zur Veränderung und zur Erneuerung. Weil wir aber das Gedenken an die Opfer des Genozids ebenso wie an Schuld und Versagen der Helfer und der Täter einbinden in die verwandelnde Kraft des Glaubens, dürfen wir auf ein Erinnern hoffen, das transformiert, tröstet und endlich auch versöhnt.

Diese Hoffnung verharmlost das Geschehene nicht. Der Völkermord an Armeniern, Aramäern, Assyrern und Pontos-Griechen durch das Jungtürkische Regime bleibt ein Verbrechen. Die Mitschuld Deutschlands am Genozid von 1915 und auch die Beschämung werden nicht aufgehoben. Aber mit der Hoffnung auf Verwandlung und Versöhnung schafft der Glaube zugleich etwas Neues. Möge Gott uns allen diese verwandelnde und erneuernde Erfahrung in diesem Gottesdienst schenken.