Votum im Ökumenischen Gedenkgottesdienst für die NS-Opfer in der Versöhnungskirche Dachau

Katrin Göring-Eckardt

Liebe Schwestern, liebe Brüder

wir gedenken heute der Opfer der nationalsozialistischen Verbrechen und der Befreiung des KZs Dachau.

Ist Versöhnung überhaupt möglich angesichts der Massenmorde? Wir wissen es nicht und hoffen.

Und wir wissen, wir dürfen nie vergessen. Es darf kein Ende der Erinnerung geben!
Dafür stehen wir. Dafür sind wir hier.

Die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus ist  unabschließbar und muss von Generation zu Generation immer wieder erneuert werden.  Nur eingedenk dieses Wissens ist Versöhnung möglich.

Dafür stehen wir. Dafür sind wir hier.

Das heißt konkret im Alltag: Jeder Rhetorik des „Schlussstriches“, jedem Gerede vom „Jetzt muss es aber mal gut sein“ mit der Erinnerung an den Nationalsozialismus und seine Verbrechen heißt es konsequent entgegenzutreten.

Dafür stehen wir. Dafür sind wir hier.

Denn: Die Verbrechen des Nationalsozialismus sind Teil der deutschen Identität und bedeuten eine Verantwortung, die niemals ‚loszuwerden’ ist. Die Massenmorde der Nazis sind „das Unverjährbare“ und die Aufarbeitung des Nationalsozialismus deshalb nie zu vollenden.

Dafür stehen wir. Dafür sind wir hier.

Die immer neue Erinnerung - das Niemals-Vergessen - ist auch eine wichtige Voraussetzungen dafür, dass der Rechtsextremismus heute wirksam bekämpft werden kann. Der alltägliche Rassismus und die Verunglimpfung von Minderheiten sind uns Aufforderung und Verpflichtung – wir stehen auf gegen Versuche, rassistische und menschenverachtende Politik in der Mitte der Gesellschaft zu verankern.

Dafür stehen wir. Dafür sind wir hier.

Bald werden keine Überlebenden und Zeitzeugen des Nationalsozialismus mehr unter uns sein. Deshalb geht es darum, dass der „Staffelstab der Erinnerung“, wie es Paul Spiegel einmal ausdrückte, an kommende Generationen weiter gegeben wird.

Dafür stehen wir. Dafür sind wir hier.

Das heißt: Stärkung der Zivilgesellschaft und der politischen Bildung. Erinnerung und Zivilcourage gehören zusammen: Schon in der Schule, in der Lehre, an der Uni, auf der Straße, am Arbeitsplatz, am Stammtisch.

Dafür stehen wir. Dafür sind wir hier.

Lebendige Erinnerungskultur kommt von unten. Rituale, wiederkehrende Gedenktage und öffentliche Veranstaltungen sind wichtig, aber das öffentliche Erinnern darf sich nicht auf bestimmte Gedenktagen beschränken. Sonst bleibt es ohne Konsequenzen für den Alltag der Menschen.

Deshalb müssen zivilgesellschaftliche Initiativen und Projekte systematisch gefördert und unterstützt werden – nur so kann langfristig eine lebendige „Aufarbeitung von unten“ stattfinden.

Großartige Beispiele gibt es viele, lassen Sie mich stellvertretend drei nennen: die „Stolpersteine“ des Künstlers Gunter Demnig, den von Hans-Rüdiger Minow ins Leben gerufenen „Zug der Erinnerung“ sowie die Versöhnungsarbeit der Aktion Sühnezeichen Friedensdienste.

Die „Stolpersteine“ und der „Zug der Erinnerung“ machen deutlich, dass der Nationalsozialismus nicht wie eine Naturkatastrophe „von oben“ über Deutschland kam, sondern tief in der Gesellschaft verankert war. Der Aktion „Zug der Erinnerung“ gelingt genau das auch, weil sie an öffentlichen Bahnhöfen stattfindet.

In der Stadt Dachau erinnern seit 2005 sechs Stolpersteine an die ermordeten jüdischen Mitbürger/innen – sie wurden auf Initiative u.a. der Versöhnungskirche verlegt.

Der „Zug der Erinnerung“ erinnert an die  vielen Kinder und Jugendliche, die Opfer der unfassbaren Bestialität der Nazis wurden.  Diese jungen Menschen hatten Wünsche und Hoffnungen wie wir alle. Ihre Zukunft wurde ihnen geraubt und sie durften nie erfahren, wie es ist, seine Wünsche und Hoffnung zu leben.  Der Zug der Erinnerung gibt den Millionen anonymen Opfern einen Namen. Er macht Hoffnung, dass so etwas nie wieder passieren wird. Letztes Wochenende erst machte der Zug in Berlin Halt. Ich wünsche mir, dass das Projekt noch lange fortgesetzt werden kann – bald auch auf europäischer Ebene. Und ich wünsche mir, dass Projekte wie der „Zug der Erinnerung“ und die „Stolpersteine“ viel mehr als bisher in die öffentliche Bildungsarbeit an Schulen und Bildungseinrichtungen einbezogen werden.

(Noch ein paar Worte zu den Stolpersteinen des Künstlers Günter Demnig: Sie animieren zur Spurensuche im eigenen nachbarschaftlichen Umfeld und machen auf erschreckende Weise deutlich, dass der Nationalsozialismus tief in der Gesellschaft verankert war. Damit tragen die Stolpersteine auch maßgeblich dazu bei, das Wissen von den Verbrechen des Nationalsozialismus an kommende Generationen weiter zu geben.)

Die Aktion Sühnezeichen Friedensdienste ist eine der wichtigsten Initiativen, die ich kenne, wenn es darum geht, dauerhaft Verständnis und Versöhnung zu schaffen. Viele persönliche Kontakte zwischen den Generationen  und prägende Erfahrungen sorgen dafür, dass die Erinnerung an junge Menschen ganz unterschiedlicher Herkunft weitergegeben wird.  ASF lebt vor allem vom großartigen Engagement der vielen Freiwilligen.

Ich habe mir sagen lassen, dass schon seit 1979 junge Menschen als ASF-Freiwillige an der Versöhnungskirche in der KZ-Gedenkstätte Dachau arbeiten, derzeit für jeweils ein Jahr eine junge Frau aus der Ukraine und eine junge Frau aus Russland. Sie sind auch beim ÖKT voll im Einsatz!

Neben der Förderung zivilgesellschaftlicher Initiativen ist es aber auch sehr wichtig, die Erinnerung durch Bildung weiter zu fördern. Denn es besteht die Gefahr, dass die Erinnerung an die Verbrechen des Nationalsozialismus zunehmend musealisiert wird. So wichtig Museen sind: Erinnerung und Aufarbeitung dürfen nicht vollständig dorthin „outgesourct“ werden.

Wichtig ist deshalb eine groß angelegte und breit gefächerte Bildungsoffensive – nicht nur aber vor allem für Kinder und Jugendliche. Nur so kann es gelingen, die Erinnerung an den Nationalsozialismus in kommenden Generationen wach zu halten.

Das heißt konkret auch: Die bisherigen schulischen Lehrpläne und außerschulischen Bildungsangebote müssen daraufhin überprüft werden, ob sie Wissen über den Nationalsozialismus lebendig und nachhaltig vermitteln können.

Das setzt eine grundsätzliche Diskussion über neue Lernziele voraus. Außerdem die Förderung der biographischen Arbeit zu Tätern und Opfern, die systematische Erschließung und Nutzung von Archiven, die Verankerung der lokalen und regionalen Spurensuche im Unterricht sowie die verstärkte Aufklärungsarbeit an Jugendeinrichtungen.

Ganz besonders wichtig ist es, dass die KZ-Gedenkstätten systematisch als Lernorte gefördert und gestaltet werden. Nur so können sie dauerhaft mit Schulen kooperieren. Denn nirgendwo kann so eindringlich das Wissen über die Nazi-Verbrechen vermittelt werden, wie an den Orten des Grauens.

Zugleich sollte Jugendlichen im Sinne der Zivilcourage immer wieder gezeigt werden, dass es mitmenschliches und abweichendes Verhalten bis hin zum Widerstand gab. "Man kann ja doch nichts machen" stimmte sogar unter den Bedingungen der Nazi-Diktatur nicht.

An der Gedenkstätte Dachau wird in diesem Sinne vorbildliche Arbeit geleistet:

Seit 1999 gibt es auf Initiative und in Trägerschaft u.a. der Evangelischen
Versöhnungskirche und des katholischen Dachauer Forums das Projekt "Gedächtnisbuch für die Häftlinge des KZ Dachau". Aus dem Projekt hat sich 2008 eine internationale Wanderausstellung entwickelt. Ein Teil der biographischen Ausstellungsbanner ist auch gerade hier in diesem Kirchenraum zu sehen.

Dauerhafte Versöhnung ist nicht ohne Erinnerung möglich. Und sie ist nicht ohne Bildung und unsere gemeinsame Verantwortung für das möglich, was den kommenden Generationen an Wissen weiter gegeben wird.

Dafür stehen wir. Dafür sind wir hier.
 
Versöhnung ist nicht planbar und sie lässt sich auch nicht verordnen. Planbar aber sind Begegnungen: zwischen Menschen und zwischen Menschen und der Geschichte.

Dafür stehen wir. Dafür sind wir hier.