In Verantwortung vor Gott und den Menschen

Wolfgang Huber

Deutscher Pfarrertag in Kiel

Fragen politischer Ethik vor christlichem Hintergrund

1.
Als mich zu Beginn des Jahres 2001 die Anfrage erreichte, für diesen Pfarrertag einen Vortrag zu übernehmen, wurde mir als Aufgabe ein Beitrag zum Thema „Streitkultur“ abverlangt. Nur die Freundschaft zum Pfarrertag, auf dem ich nun zum dritten Mal einen Vortrag halten darf, hat mich damals zur Zusage veranlasst, nicht das Thema. Es ist in der Zwischenzeit auch durch eine ganz andere Fragestellung abgelöst worden. Sie zeichnet sich nun freilich durch eine Zurückhaltung, ja Ängstlichkeit ganz eigener Art aus. Es klingt nach der schüchternen Frage, ob man denn Themen der politischen Ethik heute überhaupt noch „vor christlichem Hintergrund“ erörtern kann. Hat sich eine solche Betrachtungsweise nicht längst erledigt? Von einem Bedeutungsverlust der Kirchen ist überall die Rede. Sie zu behaupten, gehört inzwischen zu den gängigen Klischees in der Beschreibung der Entwicklung Deutschlands seit der Wende von 1989. Manchmal verwechselt man dabei ein endlich erwachtes Bewusstsein für eine längst eingetretene Lage mit einer Veränderung dieser Lage selbst.

Doch das Thema des heutigen Tages verbindet die schüchterne Frage mit einer starken Formel. Man nimmt Bezug auf die Präambel unserer Verfassung, in der seit 1949 von der „Verantwortung vor Gott und den Menschen“ die Rede ist, in welcher das deutsche Volk sich diese Verfassung gebe. Doch auch hier hat Ängstlichkeit sich schon längst ausgebreitet. Passt diese Formulierung überhaupt noch? Lässt sie sich noch verantworten in einem Verfassungstext, der für eine säkularisierte Gesellschaft gelten soll?

Als Deutschland wieder vereinigt wurde und man sich fragte, unter welcher Verfassung das geschehen solle, wurde auch gefragt, ob es eigentlich noch rechtens sei, dass im Grundgesetz die Gestaltung unseres Gemeinwesens unter dieses Vorzeichen gestellt wird: „In Verantwortung vor Gott und den Menschen....“ Und als im enger zusammenwachsenden Europa eine Debatte zunächst über eine Charta der Grundrechte für Europa, dann sogar über eine europäische Verfassung in Gang kam, hat man alsbald gefragt, ob es eigentlich angemessen sei, an die religiösen und spirituellen Wurzeln Europas in einem solchen Zusammenhang auch nur zu erinnern. Im einen Fall beruft man sich auf die Säkularisierung als das bestimmende Signum unserer Epoche und sagt, in einer säkularisierten Gesellschaft sei es unmöglich, von Gott in einer für alle verbindlichen oder doch Maßstab setzenden Weise auch nur zu reden. Im andern – dem europäischen – Fall verweist man auf die religiöse Pluralität, die den Kontinent bestimmt, und empfiehlt, sich angesichts dieses Sachverhalts auf die These von der Religion als Privatsache zurückzuziehen.

Doch eine solche These wird der den europäischen Kulturraum prägenden Religion, nämlich dem Christentum, nicht gerecht. Sie lässt sich auch angesichts der Auswirkungen der Religionen insgesamt auf den öffentlichen Raum nicht aufrechterhalten. Wer auf latenten oder offenkundigen Islamismus mit der These von der Religion als Privatsache reagiert, missdeutet die Zeichen der Zeit. Die Rechtfertigung von Terrorakten mit religiösen Motiven bringt das besonders deutlich an den Tag. Auch im Blick auf die Präsenz von Religion im öffentlichen Raum muss man zwischen unterschiedlichen Formen von Religion unterscheiden, statt sie alle unter der Formel von der Religion als Privatsache auf die gleiche Ebene zu stellen. Denn es gibt Formen von Religion, die sich mit dem Gemeinwohl nicht versöhnen lassen. Überall dort, wo Intoleranz gepredigt oder Gewalt legitimiert wird, ist das in besonders offenkundiger Weise der Fall.
Wenn die Formel von der Religion als Privatsache als nicht mehr tragfähig gelten muss, fragt sich umso mehr, ob die Kategorie der Säkularisierung die nötige Orientierung geben kann.

2.
Freilich steckt der Begriff der Säkularisierung voller Ambivalenzen. Sein Gebrauch ist so weit gespannt, dass es ihm oft an klaren Konturen fehlt. Im Mittelalter bezeichnete er den Übergang eines Mönchs in den Stand eines Weltpriesters. Seit dem Westfälischen Frieden wurde damit die Verweltlichung von Kirchengut und die Aufhebung geistlicher Fürstentümer bezeichnet. In diesem Sinn wurde das Wort noch bei der großen Säkularisation zu Beginn des 19. Jahrhunderts verwendet. Doch nun weitete sich die Verwendung des Begriffs aus. In den Vordergrund trat dabei zunächst die Aufgabe, eine Verfassungsordnung zu entwickeln, in der weltliche Herrschaft nicht mehr geistlich begründet wird, die aber gleichwohl nicht nur die Freiheit von der Religion, sondern auch die Freiheit zur Religion gewährleistet. Daneben trat  die Emanzipation der sich differenzierenden und pluralisierenden Gesellschaft von der weltlichen Herrschaft der Religion oder religiöser Institutionen. Schließlich bezeichnete „Säkularisierung“ die Verwandlung von Glaubensinhalten in Themen weltlicher Verständigung.

In diesem Sinn ist der Begriff vor allem in die evangelische Theologie des 20. Jahrhunderts eingewandert. Folgenreich ist insbesondere Friedrich Gogartens Definition geworden: „Säkularisierung heißt, dass ein geistiger Vorgang, der ursprünglich durch den Glauben möglich wurde, sich vom Glauben löst und nun vom Menschen mit den diesem zur Verfügung stehenden Fähigkeiten vollzogen werden kann.“(1)  Weitergehend verstehen heute viele unter Säkularisierung den Vorgang der Entchristlichung oder Entkirchlichung – also nicht einen Vorgang, in dem „geistige Vorgänge“ sich vom Glauben lösen, sondern in dem Menschen sich vom Glauben beziehungsweise von der Kirche lösen. Und mit einer gewissen Leichtfertigkeit wird dann vorausgesetzt, ein solcher Vorgang sei ein allgemeines Geschichtsgesetz. Dabei ist in globaler Betrachtung, wie Peter L. Berger immer wieder hervorgehoben hat, nicht eine Säkularisierung in diesem Sinn, sondern eher eine Desäkularisierung das Signum unserer Zeit.

Im Kern des deutschen Säkularisierungsprozesses der letzten zwei Jahrhunderte stand indessen eine Entwicklung, die sich auf das Verhältnis zwischen geistlicher Macht und politischer Gewalt bezog. Es handelte sich um einen Vorgang, der die Unabhängigkeit der staatlichen Gewalt von religiösen Vorgaben und Interessen mit der Gewährleistung der Religionsfreiheit und das heißt auch mit der Offenheit für die Manifestation und Organisation von Religion verbindet. Paradigmatisch ist die Auseinandersetzung zwischen diesen beiden Formen der Säkularisierung in den Debatten der Ersten Deutschen Nationalversammlung in der Paulskirche 1848 ausgetragen worden. Diese Debatten sind der Ursprungsort der für den deutschen Verfassungsstaat charakteristischen Verhältnisbestimmung von Staat und Kirche. Dort ist auch – insbesondere von Sprechern wie Friedrich Theodor Vischer – eine religions- und kirchenkritische Zuspitzung des Säkularisierungsgedankens vorgetragen worden, die allein in der Beseitigung der Kirche eine Durchsetzung der Säkularisierung sehen konnte. Doch durchgesetzt hat sich das damals nicht. Vielmehr musste sich eine solche Gestalt des Säkularisierungsgedankens sozusagen selbst säkularisieren und von ihren eigenen postreligiösen Absolutheitsansprüchen befreien.

Im Ergebnis hat diese Entwicklung in Deutschland einer Denkweise die Bahn geebnet, die man als aufgeklärte Säkularität bezeichnen kann.

Aufgeklärt ist sie zunächst darin, dass sie auf den Schutz und die Gewährleistung der Freiheit unter Einschluss der Religionsfreiheit gerichtet ist. Damit ist die Vorstellung und das Konzept eines christlichen Staates unvereinbar. Die Säkularität des Staates ist die notwendige Folge.

Aufgeklärt ist sie ferner darin, dass sie dem Staat nicht die Befreiung von der Religion zur Aufgabe macht, sondern ihn darauf verpflichtet, der Freiheit zur Religion Raum zu geben und deshalb auch den öffentlichen Charakter von Religion sowie den Öffentlichkeitsauftrag der Kirchen anzuerkennen.

Aufgeklärt ist sie schließlich darin, dass sie auf die Grenzen des Staates achtet und dem Staat selbst nicht religiöse oder quasireligiöse Funktionen zuschreibt. Zu der Anerkennung solcher Grenzen gehört auch die Einsicht, dass der Staat selbst auf Verständigungsprozesse angewiesen bleibt, die er nicht selbst diktieren oder dirigieren kann und darf. Dazu gehören auch Verständigungsprozesse über Fragen des Glaubens.

Von Anfang an war übrigens zu erkennen, dass die öffentliche Schule der herausgehobene Ort ist, an dem sich aufgeklärte Säkularität bewähren muss. Kämpferischer Säkularismus hat schon im 19. Jahrhundert die vollständige Trennung der Kirche von der Schule gefordert: „Die Schule muss frei von der Kirche sein“. Ein Konzept staatlicher Allzuständigkeit wollte den Staat zum Subjekt auch der religiösen und ethischen Erziehung in der Schule machen. Aufgeklärte Säkularität dagegen hat in Deutschland stets nach einem Modell gesucht, das Religion und Ethik als Teil des schulischen Bildungsauftrags wahrnimmt, ohne dem Staat die Alleinzuständigkeit für die Inhalte zuzuerkennen, die in diesem Bereich zu vermitteln sind.
Durch erhebliche Kämpfe hindurch haben sich diese Grundsätze in Deutschland weitgehend durchgesetzt. In staatskirchenrechtlicher Hinsicht wurden sie durch die Weimarer Reichsverfassung von 1919 auch förmlich in Kraft gesetzt. Aufgeklärte Säkularität wurde dadurch zu einem Merkmal der verfassungsstaatlichen Wirklichkeit. Dadurch wurden die Voraussetzungen für ein Verhältnis von Staat und Kirche geschaffen, das von Eigenständigkeit ebenso geprägt ist wie von Kooperation.  Die religionsrechtlichen Bestimmungen der Weimarer Reichsverfassung wurden unverändert in das Bonner Grundgesetz übernommen und stehen deshalb bis zum heutigen Tag in Geltung.

Im Grundgesetz traten diese Regelungen in einen veränderten Horizont, wie vor allem durch zwei Grundentscheidungen des Verfassungsgebers deutlich wurde: durch sein Bekenntnis zur unantastbaren Würde des Menschen und zu unveräußerlichen Menschenrechten einerseits und andererseits dadurch, dass die Verfassung in ihrer Präambel ausdrücklich in den Horizont der „Verantwortung vor Gott und den Menschen“ gestellt wurde. Diese Entscheidung hing natürlich mit der Erfahrung der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft zusammen. Man hatte in die Abgründe des Menschenmöglichen geschaut; daraus leitete man die Überzeugung ab, dass der Mensch als Maß aller Dinge nicht zureicht. Die Verantwortungsformel ist übrigens nicht eine Anrufung Gottes, eine „invocatio Dei“, wie sie in anderen Verfassungen begegnen. „Im Namen Gottes, des Allmächtigen“ – so lauten derartige Gottesanrufungen, wie sie sich beispielsweise in den Verfassungen Irlands oder der Schweiz finden. Es war ein anderes Motiv, das diese – übrigens in der Tradition moderner Verfassungen neue – Formulierung auslöste. Nicht ein neuer Glaubenszwang wird deklariert, wenn von der „Verantwortung vor Gott“ die Rede ist; aber menschliche Verantwortung wird in einen Horizont gestellt, der über das Menschenmögliche hinausweist. Auch das Gebiet der ehemaligen DDR wurde 1990 in den Geltungsbereich dieser Grundüberzeugung wieder einbezogen, obwohl in dieser Region Deutschlands in Folge der staatssozialistischen Religionspolitik nur noch eine Minderheit der Menschen sich religiös gebunden fühlt. Die Formel von der „Verantwortung vor Gott und den Menschen“ blieb in der Präambel des Grundgesetzes erhalten und wurde nicht, wie das insbesondere der Theologe Wolfgang Ullmann forderte, aus dem Wortlaut der Verfassung entfernt.

3.
Nun ist die These von der Verantwortung vor Gott und den Menschen weder ein Einfallstor für einen unmittelbaren Missionsauftrag an den Staat noch die Grundlage für einen unmittelbaren Politikauftrag an die Kirche. Sehr wohl stellt sie aber beide – den Staat wie die Kirche – vor eine Frage, die man mit Robert Leicht so formulieren kann, ob es denn überhaupt möglich sei, ohne Gott Staat zu machen.(2) Auch, ja gerade im säkularen Gemeinwesen, das weder einen Missionsauftrag für den Staat noch einen Politikauftrag für die Kirche kennt, gilt der Satz: Ohne Gott ist kein Staat zu machen. Denn Staat machen, in verantwortlicher Weise politisch handeln, kann man nicht ohne ethische Klärungen. Eine ethische Argumentation aber kommt nicht ohne „Letztbegründungen“ oder genauer: erste Begründungen aus. Solche Begründungen geben Auskunft darüber, woran ein Mensch sein Herz hängt. „Woran du aber dein Herz hängst, das ist dein Gott“ (M. Luther).

Der Mailänder Kardinal Carlo Maria Martini hat das in seinem Dialog mit Umberto Eco beispielhaft an den Fragen deutlich gemacht, die uns auch gegenwärtig wieder elementar beschäftigen, nämlich an den Fragen der Friedensethik. Zu ihrem Kern gehört, wie jemand es verantworten kann, einem anderen zu befehlen, sein Leben zu riskieren, und ebenso davon, mit welcher Begründung sich einer dem Dienst mit der Waffe verweigern kann. „Welche Gründe kann jemand für sein Handeln anführen, der moralische Prinzipien vertritt, die auch das Opfer seines Lebens erfordern können, der aber nicht an einen personalen Gott glaubt? ... Wie komme ich – ohne Berufung auf ein Absolutes – zu der Aussage, bestimmte Handlungen seien unter allen Umständen zu unterlassen“ (so lautet das Problem des Kriegsdienstverweigerers) „und andere seien, koste es, was es wolle, gefordert?“ (so lautet das Problem dessen, der den Befehl gibt, im Krieg das eigene Leben zu riskieren). „Sicher gibt es die Gesetze, aber kraft welcher Instanz können sie auch unter Lebensgefahr Verpflichtungscharakter gewinnen?“(3)

Jedenfalls, so weit solche letzten oder genauer ersten Begründungen gefragt sind, hat die Kirche unmittelbar mit der Politik zu tun. Ihr Beitrag bezieht sich auf die Tiefenschicht der politischen Probleme. Er wird deshalb gerade verkannt, wenn er in einem allzu einfachen Sinn nur in der ethischen Dimension gesehen wird. Die Kirche moralisiere dann, heißt dann der Vorwurf; und er ist leider allzu oft berechtigt. Er liegt umso näher, je mehr sich die Vertreter der Kirche darauf beschränken, Forderungen zu erheben oder zu erklären, wie man es ihrer Meinung nach besser machen könne. Dagegen hat Richard von Weizsäcker eine Unterscheidung eingeführt, deren Anwendung auf den Einzelfall nicht immer leicht ist, die aber trotzdem von großem Gewicht ist. „Die Aufgabe der Kirche ist es nicht, Politik zu machen. Die Aufgabe der Kirche ist es vielmehr, Politik möglich zu machen.“ So hieß Richard von Weizsäckers knappe Auskunft vor der EKD-Synode in Amrum 1996. Diese Formulierung ist im Februar 1997 in das Gemeinsame Wort der Kirchen zur wirtschaftlichen und sozialen Lage hineingewandert. (4)

Solche Formulierungen leben davon, dass die Trennlinie niemals scharf zu ziehen ist. Wann macht die Kirche Politik? Wann macht sie Politik möglich? Es gibt sicher klare Eckpunkte. Wenn viele Kirchen am Abend des 11. September 2001 ihre Tore zu Gottesdiensten der Klage und des Gebets geöffnet haben, dann war das in einem sehr unmittelbaren Sinn kein Beitrag zur Politik, aber ganz bestimmt ein Beitrag dazu, Politik möglich zu machen. Je näher die Kirche unmittelbar bei ihrer eigenen Sache ist, desto wirksamer kann sie dazu beitragen, Politik möglich zu machen, ohne doch mit anderen politischen Akteuren verwechselbar zu werden. Sich auf diesen Kern des kirchlichen Auftrags zu besinnen, heißt deshalb nicht, sich von den Reibungsflächen mit der Gesellschaft abzuwenden und den Weg in eine unpolitische Kirche einzuschlagen. Es heißt vielmehr, vom Kern des kirchlichen Auftrags, vom Zentrum des christlichen Glaubens her, aufs Neue so viel Ausstrahlungskraft zu entwickeln, dass dies in den Bereich politischer Verantwortung hineinwirkt.

Unter diesem Gesichtspunkt enthält die Präambel des Grundgesetzes einen Hinweis, der gerade von uns Pfarrerinnen und Pfarrern nicht gering geschätzt werden sollte. Eine christliche Kirche und auch Pfarrerinnen und Pfarrer sollten ihre vorrangige Aufgabe darin sehen, den Horizont, der über das Menschenmögliche hinausweist, offen zu halten und der Gottvergessenheit zu wehren, auch soweit es um politische Verantwortung geht. Die Rede von der „Verantwortung vor Gott und den Menschen“ weist jedenfalls die Kirche mit denkbar größtem Nachdruck darauf hin, was auch in der Öffentlichkeit zuallererst ihres Amtes ist: nämlich von Gott zu reden und das Schweigen von Gott zu durchbrechen, statt es zu verdoppeln. Wer für diese Notwendigkeit noch Belege brauchte, hat sie durch die politischen Herausforderungen der jüngsten Vergangenheit überreich erhalten. Zwei Beispiele sollen genügen.

4.
Das eine Beispiel ist der Kampf gegen den Terrorismus. Durch die Terroranschläge des 11. September wurde die Rede vom „Gotteskrieger“ zum „Unwort“ des Jahres 2001. Die Vorstellung, dass Religion eigentlich nur dazu taugt, Hass, Feindseligkeit und Gewaltbereitschaft zu schüren, beherrscht seitdem die Feuilletons. Aber auch dass der Kampf gegen den Terrorismus die Gestalt eines „Kreuzzugs“ annehmen müsse, wurde schnell behauptet. Von der „Achse des Bösen“ wird gesprochen, statt dass eine „Achse des Friedens“ geschaffen würde. Das erinnert an die Art, in der vor zwei Jahrzehnten von dem „Reich des Bösen“ die Rede war. Der christliche Beitrag zur politischen Ethik besteht in einer solchen Situation zuallererst in der Aufklärung über wahre und falsche Religion, über den Unterschied zwischen der Verantwortung vor Gott und dem Missbrauch des Gottesnamens. Friedensethik hat heute wieder in einem unmittelbaren Sinn eine theologische Dimension angenommen.

Theologisch sind wir auch deshalb herausgefordert, weil in wachsendem Maß alte Denkmuster bemüht werden, um zu deuten, was wir seit dem 11. September 2001 erlebt haben und was vielleicht vor uns steht. Die Lehre vom "gerechten Krieg" ist ein solches altes Denkmuster. In den USA wird es immer wieder mit erstaunlicher Unbefangenheit in Anspruch genommen. Anfang 1991 habe ich selbst erlebt, wie im Plenum der nordamerikanischen „Society for Christian Ethics“ debattiert wurde, ob der unmittelbar bevorstehende Golfkrieg ein gerechter Krieg sein werde oder nicht. Durch Mehrheitsabstimmung erhielt George Bush Senior das grüne Licht der versammelten christlichen Ethiker für die „Aktion Wüstensturm“. Elf Jahre später wiederholte sich das Spiel. Nicht ein Kongress christlicher Ethiker, sondern eine Schar von Intellektuellen bemühte erneut die Lehre vom „gerechten Krieg“. Das Spektrum der 58 Geistesgrößen, die sich in dieser Erklärung zusammengefunden haben, ist breit. Mit den 93 deutschen Intellektuellen, die zu Beginn des Ersten Weltkriegs einfach die deutsche Kriegsbereitschaft zu stärken suchten, lassen sie sich nicht vergleichen. Aber zu ihnen gehören auch diejenigen, die ein „Ende der Geschichte“ diagnostizieren, wenn es kein klares Feindbild mehr gibt, oder einen neuen „Kampf der Kulturen“ proklamieren, nachdem der alte Kampf der Ideologien der Geschichte angehört. Alle miteinander bemühen sie in einer Zeit der privatisierten Gewalt eine Denkform aus den Zeiten des fraglos geltenden staatlichen Gewaltmonopols.

Der Widerspruch, der dagegen angezeigt ist, gilt nicht dem Bemühen, auch kriegerische Gewalt der Herrschaft des Rechts zu unterwerfen und nach den moralischen Maßstäben zu fragen, die auch im Kriegsfall gelten sollen. Insoweit wird man auf entscheidende Kriterien aus der Tradition des „gerechten Kriegs“ immer wieder zurückgreifen. Dazu gehört vor allem die Pflicht, alles Erdenkliche zu tun, um den Frieden zu ermöglichen, die Verhältnismäßigkeit der Mittel zu wahren, die Zivilbevölkerung zu schonen. Vor allem gehört dazu die Überzeugung, dass kriegerische Gewalt nur als äußerstes Mittel in Frage kommt. Widerspruch ist deshalb nötig, wenn durch den Begriff des „gerechten Kriegs“ das Scheitern verdeckt wird, das jeder tötenden Gewaltsamkeit zu Grunde liegt. Widerspruch ist nötig, wenn durch die Kriegsterminologie verschleiert wird, dass eigentlich polizeiliche Maßnahmen nötig sind, wenn Privatleute widerrechtlich Gewalt ausüben. Vielleicht gegen den Willen mancher Unterzeichner verwandelt sich die Rede vom „gerechten Krieg“ zu einem Freibrief für viel weiter reichende Pläne.

Das tiefe Dilemma der Friedensverantwortung ist uns in den vergangenen zwölf Monaten erneut vor Augen getreten. Wie antworte ich auf die Gewalt, mit Gewaltverzicht oder mit Gegengewalt? Wer der Gewalt mit Gewaltverzicht begegnet, läuft Gefahr, dass er die Gewalt, die er nicht stoppen kann, gewähren lässt. Wer aber der Gewalt mit Gegengewalt entgegentritt, läuft Gefahr, dass er den Teufelskreis des Todes weiter vorantreibt.

Einen leichten Ausweg aus diesem Dilemma gibt es nicht. Auf die eine wie auf die andere Weise kann man in die Zone der Schuld geführt werden. Aber es gibt eine Richtung für den Umgang mit diesem Dilemma. Sie ist durch die Bergpredigt vorgezeichnet. Diese Richtung ist durch den Vorrang gewaltfreien Handelns vor allen Mitteln der Gewalt bestimmt. Wer dieser Richtungsangabe treu bleiben will, muss Mittel suchen, die der Gewalt auf andere Weise entgegentreten als mit bloßer Gewalt. Wer das Böse nur mit Bösem vergelten will, verlängert die Herrschaft des Bösen. Und wer das Böse nur beim andern wahrnimmt und das Gute allein bei sich selbst, verstärkt das Böse, ob er das will oder nicht. Und wer dem Recht zur Durchsetzung verhelfen will, muss die Herrschaft des Rechts auch für sich selbst gelten lassen. Die Regeln des Völkerrechts und der eigenen Verfassungsordnung müssen sich gerade in dieser Hinsicht als Richtschnur für politische Entscheidungen bewähren. Das gilt – gerade kirchliche Stimmen aus den USA und aus Großbritannien haben das eindrücklich unterstrichen – auch für den Umgang mit dem Irak.

Gerade wenn man die Rede vom „Kampf der Kulturen“ kritisiert, muss man zugleich einsehen, dass die kulturelle Dimension heutiger Auseinandersetzungen mehr Aufmerksamkeit verdient. Die Religionen haben dazu ihren Beitrag zu leisten. Wechselseitige Wahrnehmung der Religionen ist heute ein unaufgebbarer Friedensbeitrag. Mit interreligiöser Schummelei kann das nichts zu tun haben. Vielmehr ist die Bereitschaft zu kritischer Auseinandersetzung gerade für die Vertreter von Glaubensgemeinschaften unverzichtbar, die es doch immerhin mit der Wahrheit zu tun haben wollen. Zur Wahrheitspflicht gehört der Hinweis, dass politische Macht und religiöse Autorität voneinander unterschieden werden müssen - gerade auch um der Würde der Religion willen. Zur Wahrheitspflicht gehört der Streit um das Menschenbild und die Unantastbarkeit der Menschenrechte. In diesen Fragen sprechen Christentum und Islam noch keineswegs mit einer Stimme; kein Projekt Weltethos und keine Islamcharta kann uns darüber hinwegtäuschen. Die entscheidende Wegstrecke zur Gemeinsamkeit der Religionen liegt vielmehr noch vor uns.

Die Religionen müssen vor allem lernen, sich gemeinsam dagegen zu wehren, dass sie immer wieder zum Instrument und politischen Absichten dienstbar gemacht werden. Das geschieht dort, wo Religion zur Sprache des politischen Hasses wird. Aber es ist auch dort der Fall, wo die Antwort in der Sprache des Kreuzzugs erfolgt.

5.
Das andere Beispiel bildet die neue Debatte über bioethische Fragen. Der Kampf um eine deutsche Beteiligung an der Forschung mit embryonalen Stammzellen hat eine Diskussion über Grundfragen unseres Menschenbilds ausgelöst, deren Intensität bis in das Feld der Politik hinein Überraschung hervorgerufen hat. Darf man menschliches Leben zu anderen Zwecken als um seiner selbst willen erzeugen? So muss nun gefragt werden. Wenn man die Frage bejaht, dann ist menschliches Leben nur noch eine Sache, ein Mittel zum Zweck, bald schon eine Handelsware. Und die nächste Frage schließt sich an: Ist es erlaubt, den einen Embryo als der Menschwerdung würdig auszuwählen, den andern zu verwerfen? Ist die Vorstellung vom „Designerbaby“ nur ein Alptraum ohne realen Hintergrund – oder eine drohende Gefahr? Solche Fragen werden heute nicht aus Forschungsfeindlichkeit gestellt oder aus Gleichgültigkeit gegenüber den Heilungshoffnungen, die sich mit den neuen medizinischen Möglichkeiten verbinden. Vielmehr muss gefragt werden, wie wir mit diesen neuen Möglichkeiten umzugehen haben, wenn wir den Menschen selbst nicht als Sache, sondern als Gottes Gegenüber und deshalb als Person ansehen. Auch in der Bioethik geht es heute in einem unmittelbaren Sinn um religiöse Fragen.

Sowohl für die Forschung mit embryonalen Stammzellen als auch für die Zulassung der Präimplantationsdiagnostik wird heute die Vorstellung von einem abgestuften Lebensschutz als Rechtfertigung vorgebracht. Sie sieht sich indessen mit zwei Gegenfragen konfrontiert: Welche Stufen lassen sich mit solcher Eindeutigkeit definieren, dass auf ihnen auch der Lebensschutz eine neue Qualität annimmt? Und bis zu welchem Grade soll der Lebensschutz auf welcher Stufe eingeschränkt werden? 

Es hängt alles daran, von wann an wir einem menschlichen Lebewesen den Lebensschutz zuerkennen, den das Grundgesetz vorsieht und mit dem Hinweis auf die Menschenwürde begründet. Von wann an ist der Mensch ein Mensch?

Wer die unverfügbare Würde des Menschen achtet, wird auch den offenen Anfang des menschlichen Lebens respektieren. Er wird darauf verzichten, eine bestimmte Stufe in der Entwicklung menschlichen Lebens so auszuzeichnen, dass erst jenseits dieser Stufe eine Schutzwürdigkeit dieses Lebens beginnt. Er wird auch darauf verzichten, aus den faktischen Unterschieden unserer Schutzmöglichkeiten für werdendes menschliches Leben auf prinzipielle Unterschiede in der Schutzwürdigkeit dieses Lebens selbst zu schließen. Viel eher gilt: Unsere Schutzverpflichtung für menschliches Leben reicht so weit wie unsere Schutzmöglichkeiten. Deshalb haben wir gegenüber einem in der Petrischale erzeugten Embryo eine Schutzverpflichtung auch auf den frühen Stufen seiner Entwicklung, auf denen ein Embryo im Mutterleib unseren Schutzmöglichkeiten noch gänzlich entzogen wäre. Oder anders und schärfer gesagt: Daraus, dass natürlich gezeugte Embryonen vor der Einnistung in den Uterus unerkannt abgehen können, lässt sich nicht schließen, dass wir künstlich erzeugte Embryonen beliebig für verbrauchende Forschung freigeben dürften.

Eine solche Freigabe wird, wie gesagt, mit der Theorie eines gestuften Lebensschutzes begründet. Unterschiedliche Einschätzungen biologischer Sachverhalte, aber auch unterschiedliche Interessen entscheiden dann darüber, welche dieser Zäsuren als Beginn eines menschlichen Lebens in dem Sinn angesehen wird, dass es am Würde- und Lebensschutz partizipiert. Sieben  Stufen in der Frühentwicklung des menschlichen Lebens werden zu Anknüpfungspunkten für konkurrierende Antworten auf die Frage, von wann an der Mensch ein Mensch ist: die Verschmelzung von Ei- und Samenzelle, die Einnistung in die Gebärmutter am fünften bis achten Tag, der Ausschluss der Mehrlingsbildung um den dreizehnten Tag, die Ausbildung des Gehirns im dritten Schwangerschaftsmonat, die eigenständige Lebensfähigkeit, die Geburt, schließlich der Zeitpunkt im Verlauf der ersten Lebensjahre, zu dem die Fähigkeit zur Selbstbestimmung sich ausbildet.

Beispielhaft sei die Zwiespältigkeit an zwei dieser Vorschläge illustriert. Besonders häufig wird die Nidation als entscheidende Zäsur genannt, weil mit ihr die Verbindung des Embryos mit der Mutter beginnt, ohne die der Embryo niemals lebensfähig sein könnte. Doch die Nidation stellt ihrerseits – am fünften bis achten Tag nach der Befruchtung – einen Prozess und nicht eine scharfe Zäsur dar. Auch schon vor der Nidation wird das befruchtete Ei von der Mutter ernährt; die hormonelle Umstellung der Mutter kommt in Gang. Die Verbindung mit dem mütterlichen Organismus ist für die Entwicklung des Embryos unersetzlich – jedenfalls bislang. Doch das bedeutet nicht, dass die im Embryo angelegte genetische Information durch die Nidation eine Ergänzung erfährt.

Für eine solche hervorgehobene Bedeutung der Nidation wird unter anderem vorgebracht, dass nidationshemmende Verhütungsmittel – insbesondere die Spirale – rechtlich und gesellschaftlich anerkannt seien. Man gerate in einen unauflösbaren Wertungswiderspruch, wenn im Blick auf die Empfängnisverhütung die Nidation als Grenze anerkannt, im Blick auf den Status eines in vitro erzeugten Embryos aber geleugnet werde. Freilich kann das auch Anlass zu der Frage sein, nach welcher Seite hin der Wertungswiderspruch aufzulösen ist. Darüber hinaus aber weist der Stand der wissenschaftlichen Diskussion aus, dass die Spirale in der Regel gar nicht nidationshemmend wirkt, sondern bereits die Verschmelzung von Ei- und Samenzelle verhindert.

Noch eine zweite derartige Zäsur sei beispielhaft diskutiert – jene Überlegung nämlich, die den Beginn der menschlichen Personalität auf den dritten Schwangerschaftsmonat datiert, in dem sich die neuronalen Strukturen des Gehirns ausbilden. Diese Datierung legt sich aus einer Parallele zu den rechtlichen Regelungen zum Schwangerschaftskonflikt nahe. Begründet wird sie damit, dass der Beginn des menschlichen Lebens mit dem „Hirnleben“ gleichgesetzt wird – so wie man das Ende des menschlichen Lebens mit dem „Hirntod“ eintreten lässt. Daraus spricht ein ausschließlich an der Vernunftbegabung des Menschen ausgerichtetes Menschenbild. Die Definition des Menschen als des vernunftbegabten Lebewesens (animal rationale) wird mit bestimmten biologischen Erkenntnissen verknüpft. Gegen eine solche Betrachtungsweise aber muss man zum einen geltend machen, dass eine solche Definition zu kurz greift; das kann man sich auch an den Problemen der „Hirntoddefinition“ deutlich machen. Vor allem aber muss man auch bedenken, dass die Lebendigkeit des Foetus auch vor der Entstehung des Gehirns unzweifelhaft gegeben ist. Beim „Hirntoten“ ist das ohne Zweifel anders; bei ihm kommen in der Tat alle Lebensfunktionen zum Erliegen – es sei denn, sie werden künstlich durch intensivmedizinische Maßnahmen aufrechterhalten.

Vergleichbare Einwände lassen sich auch im Blick auf die anderen Vorschläge vorbringen, mit denen der Lebensschutz in den frühen Phasen der menschlichen Entwicklung eingeschränkt werden soll. Lässt man alle sieben Konzeptionen an sich vorüberziehen, so kann man den Eindruck nur schwer abwehren, dass jede Konzeption, die eine Zäsur in der Entwicklung menschlichen Lebens zum Markstein für den Beginn der Würdeattribution und des Lebensschutzes macht, ein großes Willkürrisiko läuft. Deshalb sollten in der ethischen Abwägung diejenigen Konzeptionen den Vorrang erhalten, die so willkürarm wie möglich sind. Das aber ist ohne Zweifel am ehesten die Konzeption, die mit dem offenen Anfang des menschlichen Lebens und seiner organischen Entwicklung argumentiert. Für sie ist die Verschmelzung von Ei- und Samenzelle der sicherste Hinweis darauf, dass ein menschliches Leben beginnt. Das Gebilde, das dadurch entsteht, enthält die volle Potentialität zur Entwicklung einer individuellen menschlichen Person. Diese Entwicklung selbst entspricht zugleich den Kriterien der Identität und der Kontinuität.  Diesem Lebewesen sollte deshalb der Schutz gewährt werden, zu dem wir jeweils fähig sind. Deshalb verdient insbesondere der in vitro erzeugte menschliche Embryo unseren besonderen Schutz. Schon von diesem Anfang an sollte sichergestellt werden, dass das sich entwickelnde menschliche Lebewesen nicht als Sache behandelt wird, sondern als sich entwickelnde Person, nicht als verfügbare Biomasse, sondern als ein frühes Zeichen für das Wunder des menschlichen Lebens.

Dass sich in einem frühen Embryo noch nicht die Merkmale menschlicher Personalität zeigen, braucht uns an einer solchen Betrachtungsweise nicht zu hindern. Denn es gibt auch andere Zusammenhänge, in denen wir die Personwürde des Menschen respektieren, obwohl dieser Mensch daran gehindert ist, von seiner Personalität Gebrauch zu machen. Was für Behinderung, Krankheit oder Alter gilt, kann auch für die frühen Stufen in der Entwicklung des menschlichen Lebens geltend gemacht werden.

Eine Gruppe von evangelischen Professoren der theologischen Ethik – Johannes Fischer, Ulrich Körtner, Trutz Rendtorff, Klaus Tanner und andere – hat in diese Debatte mit einem nachdenkenswerten Text eingegriffen.(5)  Zu Recht mahnen sie dazu, die Idee der Menschenwürde nicht umstandslos mit bestimmten biologisch konstatierbaren Zäsuren zu verbinden. Denn die Idee der Menschenwürde lehrt im Menschen etwas zu sehen, das sich nicht „empirisch festmachen“ lässt. Doch umso erstaunlicher ist der Vorschlag, in den die Überlegungen dieser Professoren mündet. Sie schlagen vor, drei Positionen im Streit um die embryonalen Stammzellen als gleichgewichtig anzusehen. Der „unbedingte Schutz des Embryos“, der „abgestufte Embryonenschutz“ mit engen Grenzziehungen und schließlich die „uneingeschränkte Möglichkeit der Forschung an frühen Embryonen“ gelten als diese drei gleichberechtigten Positionen.

In meinen Augen ist es freilich ein Missbrauch der Vorstellung von evangelischer Freiheit, wenn man alle nur denkbaren Positionen zu einem solchen Thema als ethisch gleichwertig darstellt. Die Freiheit der ethischen Urteilsbildung ist zwar im Protestantismus zu Recht ein hohes Gut; doch dieses hohe Gut würde gerade verspielt, wenn es als Beliebigkeit missdeutet würde. Die Pluralität evangelischer Positionen zu ethischen Schlüsselfragen erweist sich zwar immer wieder als Ausgangspunkt der angestrebten Klärung; sie ist aber nicht der Zielpunkt. Aber auch dort, wo unterschiedliche Positionen als aus evangelischer Perspektive vertretbar angesehen werden, muss doch zumindest Klarheit über die Kriterien zu ihrer Beurteilung angestrebt werden. Eine solche Klarheit aber wird systematisch ausgeschlossen, wenn man die Herstellung von Embryonen zu Forschungszwecken für ethisch genauso vertretbar ansieht wie den unbedingten Lebensschutz.

Wenn jedoch die zitierte Ethikergruppe erklärt: „Die Herstellung von Embryonen zu Forschungszwecken ist jedoch derzeit nicht zu verfolgen“, dann lässt eine solche Formulierung klar durchblicken, dass gegen die Herstellung von Embryonen nur pragmatische, nicht aber prinzipielle Einwände erwartet werden. Embryonen, die zu Forschungszwecken hergestellt werden, sind jedoch bloßes Mittel zum Zweck; sie verlieren jede Selbstzwecklichkeit. Deutlicher kann man nicht dokumentieren, dass sie jeglichen Kontakt zu dem Würdeschutz verloren haben, der menschlichen Lebewesen zuerkannt wird. Deshalb muss über den verbrauchenden Umgang mit Embryonen prinzipiell entschieden werden, nicht nur pragmatisch. 

Man muss sich nämlich vor Augen stellen, welche Folgen es haben kann, wenn bestimmten Entwicklungsphasen des menschlichen Lebens dieser Schutz genommen wird. Auf diesen Stufen wird das sich entwickelnde Lebewesen nicht als Person verstanden, sondern als Sache, nicht als „jemand“, sondern als „etwas“. Es kann als Ware betrachtet werden, mit der man grundsätzlich auch müsste Handel treiben können, als ein Rohstoff, den man zu nutzen vermag. Es trifft zwar zu, dass ein ungeborenes menschliches Leben umso stärker an unsere Bereitschaft zur Fürsorge zu appellieren vermag, je näher es der Geburt ist. Aber auch auf den frühen Stufen der Entwicklung können wir nicht einfach nur als Sache betrachten, was ein Mensch werden soll. Deshalb bleibt es nach meiner Überzeugung dabei, dass zur Anerkennung der unantastbaren Menschenwürde auch der Respekt vor der Würde des ungeborenen menschlichen Lebens gehört. Selbst wenn man die tiefgreifenden Unterschiede zwischen Embryonenforschung und Schwangerschaftskonflikten im Blick behält, muss man sagen: Auch die heute geübte Praxis des Schwangerschaftsabbruchs steht neu zur Diskussion, wenn der Schutz des Lebens von Anfang an ernst genommen wird.

In der aktuellen Diskussion hat die hier vorgetragene Überlegung mich persönlich wie auch den Rat der EKD zu der Konsequenz geführt, dem Import von menschlichen embryonalen Stammzellen nicht zuzustimmen. Wenn der Embryo keine bloße Biomasse ist, sondern am Schutz der Würde des Menschen und seines Lebensrechts Anteil hat, dann sind Eingriffe an menschlichen Embryonen, die ihre Schädigung oder Vernichtung in Kauf nehmen, nicht zu rechtfertigen. Das hat im übrigen eindeutige Konsequenzen auch für die Präimplantationsdiagnostik. Wenn wir auch für die Zukunft an der Überzeugung festhalten, dass die Tötung von Embryonen zu Forschungszwecken ausgeschlossen bleiben soll, dann geraten wir in einen Wertungswiderspruch, wenn wir dem Import von embryonalen Stammzellen aus dem Ausland zustimmen. Dieser Wertungswiderspruch bleibt auch dann bestehen, wenn dieser Import befristet, an ein Stichdatum für die Entstehung der entsprechenden Embryonen gebunden und mit weiteren Auflagen versehen wird. Die Erwartung, dass hochrangige Forschung auch der Erhaltung des Lebens oder der Förderung von Lebensqualität zugute kommen kann, kann einen solchen Eingriff in die Integrität des Lebens nicht rechtfertigen. Intendierte Forschungsziele enthalten in sich selbst keine ethischen Kriterien für die Vertretbarkeit der gewählten Mittel. Man kann nicht sagen: Je höher das Forschungsziel, desto stärker relativiert sich der Lebensschutz. Wenn man eine solche Relativierung vertreten will, muss man vielmehr Gründe dafür vorbringen können, dass eine Abstufung des Lebensschutzes in sich selbst gerechtfertigt ist. Solche Gründe kann ich nicht erkennen.

Wenn man diesem Einwand nicht folgt und darauf beharrt, dass bestimmte Fragen der Grundlagenforschung nur an embryonalen Stammzellen geklärt werden können, muss man zumindest sicherstellen, dass damit keinerlei Anreiz zur Herstellung von Embryonen zu Forschungszwecken verbunden sein kann. Das deutsche Stammzellgesetz vom 26. April dieses Jahres hat das dadurch getan, dass es die Möglichkeit der Forschung auf Stammzelllinien beschränkt, die vor dem 1. Januar dieses Jahres entstanden sind. Nun hängt alles daran, dass diese Einschränkung auch tatsächlich eingehalten wird. Dafür ist insbesondere erforderlich, dass die hochgesteckten Heilungshoffnungen, die sich heute an die Stammzellenforschung knüpfen, sich auch weiterhin auf die Forschung mit adulten und anderen Stammzellen richten, deren Verwendung ethisch weit weniger problematisch ist als der Verbrauch embryonaler Stammzellen.

6.
Nur zwei Beispiele habe ich ausgewählt, um deutlich zu machen: Dass politische Fragen „vor christlichem Hintergrund“ besprochen werden sollen, ist in meinen Augen viel zu wenig. Der christliche Beitrag und damit die Argumentationsfähigkeit von Christinnen und Christen sind gefragt. Sie zu stärken, ist gerade heute eine zentrale Aufgabe der Kirche. Wenn sie vor dieser Aufgabe versagt, kann sie sich dafür nicht auf einen gesellschaftlichen Bedeutungsverlust berufen. Sie muss sich dann vielmehr selbstkritisch fragen, ob sie versäumt hat, sich auf veränderte gesellschaftliche Bedingungen einzustellen. Diese sind selbst verständlich dadurch gekennzeichnet, dass ein Monopolanspruch auf öffentliches Gehör nicht mehr gegeben ist. Die Kirche muss sich mit den Themen, die ihr wichtig sind, vielmehr Gehör verschaffen. Es ist auch nicht mehr an dem, dass Beiträge der Kirchen zu politischen Fragen und die Grundlage, von der aus sie gegeben werden, sich noch von selbst verstünden. Sie müssen vielmehr ausdrücklich verständlich gemacht werden. Die Volkskirche schwimmt nicht mehr auf einer allgemeinen Woge der gesellschaftlichen Akzeptanz; die evangelische Kirche muss vielmehr ihren öffentlichen Ort eigenständig und profiliert immer wieder neu gewinnen. Sie sollte sich nicht vorwerfen müssen, dass sie durch einen Mangel an Klarheit und Profil den Bedeutungsverlust selbst befördert, von dem so viel die Rede ist. Es geht im übrigen auch gar nicht um ihren eigenen Bedeutungsverlust. Es geht darum, dass das Evangelium in seiner Bedeutung für unsere Gesellschaft neu erkannt und bekannt wird. Denn inmitten aller Säkularisierungsprozesse und auch allen Säkularisierungsgeredes steht eines fest: Gott ist nicht säkularisierbar. Die Vorstellung, Gott selbst im Gedanken der Humanität säkularisieren zu können, hat sich als ein Irrtum erwiesen – auch wenn manche den Eindruck hatten, sogar unsere Kirche selbst habe in einem Akt der Selbstsäkularisierung dieser Vorstellung Vorschub geleistet. Nichts und niemand kann an die Stelle Gottes selbst treten; dass wir diese Stelle vielmehr ihm selbst überlassen, ist die Voraussetzung für wirkliche Säkularität. Gerade in diesem Sinn gilt, dass ohne Gott kein Staat zu machen ist.

Fussnoten:

(1)  F.Gogarten, Der Mensch zwischen Gott und Welt, 1956, 4.Aufl. Stuttgart 1967, 168; vgl. Chr.Gestrich, Kirche, Säkularisierung, Ethik, in: H.-R.Reuter (Hg.), Freiheit ver-antworten. Festschrift für W.Huber, Gütersloh 2002, 102-116.

(2)  R. Leicht, Ohne Gott ist kein Staat zu machen. Von der öffentlichen Relevanz der Re-ligion im säkularen Zeitalter, in: H.-R.Reuter u.a. (Hg.), Freiheit verantworten. Fest-schrift für W.Huber, Gütersloh 2002, 243-254.

(3)  C.M.Martini/U.Eco, Woran glaubt, wer nicht glaubt?, Wien 1998, 74f.

(4)  *******.

(5)  FAZ vom 23. Januar 2002.