Hat der Glaube noch Zukunft?

Wolfgang Huber

Vortrag im Forum "Wissen und Zukunft" in Oldenburg

I.

Die Veranstaltungsreihe „Wissen und Zukunft“ bildet den Rahmen, in dem Sie mich zu einem Vortrag über die Zukunft des Glaubens eingeladen haben. Das mag einen zu dem Gedanken verleiten, dass Glauben und Wissen sich in einem Streit um die Zukunft befinden. Und wenn man sich auf diesen Streit einlässt, kann kaum ein Zweifel daran bestehen, wer den Sieg davonträgt. Wir sind in eine Wissensgesellschaft eingetreten. Dem Wissen gehört die Zukunft. Dass Wissensbestände in wenigen Jahren veralten, bestimmt die Dynamik dieser Gesellschaft. Wissenschaft ist ihre entscheidende Produktivkraft. Nachdem lange Zeit die Physik das Innovationstempo der Gesellschaft bestimmt hat, nachdem dann die Informationstechnologien diese Gesellschaft revolutioniert haben, sind es jetzt die Lebenswissenschaften, die zu einer Veränderung unserer Lebensverhältnisse im Ganzen führen. Wo bleibt da der Glaube?

Wir erleben in der Mitte Europas einen Traditionsabbruch, an dem auch der christliche Glaube Anteil hat. Die überlieferten Formen, in denen Werte an die nachwachsenden Generationen weitergegeben wurden, haben ihre Stabilität eingebüßt. Die Entwicklung der Gesellschaft ist von ökonomischen und politischen Imperativen bestimmt. Im Verhältnis der drei großen Daseinsmächte Wirtschaft, Politik und Religion hat sich eine dramatische Verschiebung zu Gunsten der Ökonomie und zu Lasten der Religion vollzogen.

Man pflegt diesen Prozess als Säkularisierung zu bezeichnen. Das erscheint mir als eine unzulässige Verharmlosung. Denn wir haben es in vielen Hinsichten mit einem weittragenden Traditionsabbruch zu tun. Dieser Traditionsabbruch betrifft in besonderer Weise die beiden bislang dominierenden christlichen Kirchen, die evangelische noch immer mehr als die katholische. Sie stellt auch die bisherige Verfassung und Organisationsweise der Kirchen in Frage: ihre flächendeckende Präsenz mit einem funktionierenden Kleinverteilungssystem in jedem Dorf, ihren Öffentlichkeitsanspruch – beispielsweise mit einer umfassenden Präsenz des Religionsunterrichts, ihr Deutungsmonopol in Fragen von Leben und Tod, von Sinn und Zukunft menschlicher Existenz.

Die Umschichtung, die sich vollzieht, schlägt sich auch in äußeren Daten nieder. Dabei bestehen im Westen und im Osten Deutschlands unterschiedliche Ausgangsbedingungen. Die SED-Herrschaft hat im Osten Deutschlands eine Situation herbeigeführt, in der siebzig Prozent der Bevölkerung ohne jede kirchliche Bindung sind. Von den verbleibenden dreißig Prozent gehören 25 Prozent der evangelischen und fünf Prozent der katholischen Kirche an. Die Vorstellung, das könne sich nach der Vereinigung Deutschlands schnell ändern, war irrig. Denn die Konfessionslosigkeit hatte sich bereits zu einem stabilen Sozialisationsfaktor entwickelt. Sie wird so zuverlässig von einer Generation an die andere weitergegeben wie in manchen Teilen Bayerns das Katholischsein. Auf absehbare Zeit wird für den Osten Deutschlands die Einsicht Bestand behalten, dass die Menschen die Kirche zwar massenhaft verlassen haben, aber nur als einzelne zurückzugewinnen sind. Trotzdem bleibt der missionarische Aufbruch richtig, um den wir uns in den Kirchen östlich der Elbe bemühen; aber dieser Aufbruch verlangt langen Atem; schnelle Erfolge sind ihm nicht verheißen.

Und wie verhält es sich im Westen Deutschlands? Gewiss betrug die Zahl der Konfessionslosen im Westen Deutschlands vor 1989 noch weniger als zehn Prozent. Aber in signifikanten Bevölkerungsgruppen war sie schon damals beträchtlich. Unter den männlichen Hochschulabsolventen zwischen 20 und 64 Jahren betrug der Anteil der Konfessionslosen nämlich schon 1987 21 Prozent, unter den weiblichen Hochschulabsolventen derselben Jahrgänge immerhin 16 Prozent. Männlich, Hochschulabschluss und gutes Einkommen: das prädestinierte schon vor der Vereinigung Deutschlands zum Kirchenaustritt. Seit sich im Jahr 1990 der ideologische Materialismus des Ostens und der praktizierte Materialismus des Westens vereinigt haben, hat sich dieser Trend zur Lockerung oder Lösung der Kirchenbindung auch im Westen Deutschlands verstärkt. Das spürt – in einem gewissen Nachholprozess – gegenwärtig insbesondere auch die katholische Kirche. Die Erosion christlicher Traditionen hat sich verstärkt. In dieser Hinsicht bildet die Mitte Europas zwischen den Niederlanden und Tschechien weltweit betrachtet einen Sonderfall.

Die Gründe dafür sind nicht leicht zu nennen. Aber einer lässt sich leicht beschreiben: Gerade dort, wo die Zugehörigkeit zur Kirche über lange Zeit staatlich verordnet und geregelt war, greift die Entkirchlichung besonders massiv zu. Wo – wie in Deutschland – die Kirchenzugehörigkeit erst relativ spät aufhörte, eine staatliche Norm zu sein, hat sich der Rückgang der Kirchenzugehörigkeit besonders nachhaltig vollzogen. Noch heute, das darf man nicht vergessen, ist der Austritt aus der Kirche durch staatliches Recht geregelt. Er kann auf dem Standesamt oder auf dem Amtsgericht vollzogen werden, ohne dass dies von dem Austretenden der Kirche überhaupt mitgeteilt werden muss. Eine direkte Kommunikation über die Gründe des Kirchenaustritts findet nur in den allerwenigsten Fällen statt. Die Beratung mit dem Steuerberater tritt im Vorfeld dieser Entscheidung oft an die Stelle einer Beratung mit dem Seelsorger.

Aber daneben tritt natürlich der Konflikt zwischen Glauben und Wissen. Die neuzeitliche Wissenschaft – genauso übrigens wie die neuzeitliche Rechtsordnung – ging methodisch von der zugleich mutigen und erfolgreichen Prämisse aus, dass sie die Welt so verstehen wollte, „als ob es Gott nicht gäbe“ – „etsi deus non daretur“. Man gab den Glauben an Gott nicht auf, aber man suspendierte ihn methodisch, weil man ihn zur Welterklärung nicht heranziehen wollte. Heute stellt sich die Frage, ob aus dieser methodischen Hypothese – „als ob es Gott nicht gäbe“ – ein affirmativer Satz wird: „weil es Gott nicht gibt“. Die Frage heißt, ob aus dem methodischen Atheismus ein geglaubter Atheismus wird. Kants Vorhaben, zwischen Wissen und Glauben zu unterscheiden, um gerade so zum Glauben Raum zu schaffen, würde dann abgelöst durch einen Allmachtsanspruch des Wissens, das meint, auf den Glauben nicht mehr angewiesen zu sein. Die zwei Jahrhunderte seit der Aufklärung sind von diesem Konflikt bestimmt. Entschieden ist er noch keineswegs.

II.

Der Entwicklung, die sich mit den Stichworten des Traditionsabbruchs und der Entkirchlichung beschreiben lässt, treten massive Gegenentwicklungen zur Seite. Religion ist ein Megathema des 21. Jahrhunderts. Das vollzieht sich in großem Umfang in Gestalt einer Abkehr vom Wissen, einer Abwendung von der Aufklärung. Ein beträchtlicher Teil der Amerikaner – manche sprechen von vierzig Prozent – betrachtet sich als „wiedergeborene Christen“. In einem Teil der osteuropäischen Transformationsländer erleben wir eine Rechristianisierung von erstaunlichem Umfang. In islamischen Ländern hat sich in den letzten Jahrzehnten eine Reislamisierung vollzogen, deren Umfang und Ausrichtung im Westen in zunehmendem Maß als bedrohlich empfunden wird. Huntingtons Begriff eines „Kampfs der Kulturen“ – eines „clash of civilisations“ – macht nach wie vor die Runde. In Afrika und Lateinamerika wachsen charismatische und evangelikale Gemeinschaften in erstaunlichem Tempo. Ein religiöser Fundamentalismus greift um sich, der angesichts der Entwicklungsdynamik unserer Welt auf einfache Antworten setzt, der im raschen Wandel des Wissens das Beharren auf bestimmten „fundamentals“ zur Verpflichtung erklärt, und der zu einer klaren Einteilung der Welt in Gut und Böse, in Schwarz und Weiß, in Licht und Finsternis neigt.

Je klarer eine solche Religion konturiert ist, desto missbrauchsanfälliger ist sie. Von solchem Missbrauch ist unsere Gegenwart voll. Die Attentäter des 11. September haben sich auf den Willen Allahs berufen und ihr mörderisches Handeln damit gerechtfertigt, sie folgten damit einem göttlichen Befehl. Die Selbstmordattentäter in Israel-Palästina werden dahingehend beeinflusst, ja oft von ihren Eltern darin unterstützt, sie seien Glaubensmärtyrer, wenn sie sich Bomben um den Leib binden und zusammen mit sich selbst andere Menschen in großer Zahl in den Tod reißen.

Ich kann an diesem bedrückenden Tatbestand nicht vorbeigehen, ohne eine kleine Ergänzung vorzunehmen: Jürgen Todenhöfer hat dankenswerter Weise Dr. Tantawi, den Großscheich der Al-Azhar-Universität in Kairo, zu einer Äußerung veranlasst, die am Beispiel einer sehr gemäßigten Form des Islam Differenzen aufzeigt, die gegenwärtig nur schwer überwindbar sind. Der evangelische Ökumenebischof Rolf Koppe hat das aus christlicher Perspektive kommentiert.

Mögliche Missverständnisse früherer Äußerungen rückt der Großscheich von Al-Azhar zurecht, indem er nun ausdrücklich erklärt, er sei nicht damit einverstanden, dass sich jemand inmitten unschuldiger Menschen, Frauen und Kinder in die Luft sprengt und die Umstehenden mit in den Tod reißt. Aber das Selbstmordattentat bleibt nach Auffassung des islamischen Gelehrten legitim, wenn es nicht der Aggression, sondern der Selbstverteidigung dient. Zur Begründung wird eine Sure des Koran herangezogen: „Jedoch trifft kein Tadel jene, die sich wehren, nachdem ihnen Unrecht widerfahren ist.“ Kampf gegen den Aggressor ist für Tantawi eine Form der Selbstverteidigung; unvermeidlicherweise werden sich auch Terroristen eine solche Äußerung zu Eigen und zu Nutze machen.

Gewiss: Nicht nur der Islam, sondern auch die christliche Tradition hat eine Lehre vom gerechten Krieg entwickelt; und manche Kreise in den USA bedienen sich dieser Lehre noch immer mit einer Unbefangenheit, die ich erstaunlich nennen möchte. Denn eine solche Lehre birgt immer die Gefahr in sich, dass der Versuch, ethische und rechtliche Schranken für die Gewaltanwendung aufzurichten, in die Rechtfertigung der Gewalt umschlägt. Die christliche Friedensethik hat daraus die Folgerung gezogen, eher von einem gerechten Frieden zu reden als von einem gerechten Krieg. Der Umgang mit der militärischen Gewalt als einem äußersten Mittel zur Beendigung faktisch ausgeübter Gewalt wird deshalb ganz und gar daran gemessen, ob dieses Mittel den Frieden wiederherstellen und fördern kann oder ihm im Wege steht. Vollkommen fern aber liegt der christlichen Tradition der Gedanke, jemand könne durch die Anwendung von Gewalt zum Märtyrer werden; denn der Titel des Märtyrers, des Glaubenszeugen, liegt ganz und gar auf der Seite derer, die Gewalt erleiden, nicht aber derer, die sie ausüben. Der Selbstmordattentäter aber muss als einer gelten, der Gewalt ausübt – sogar gegen sich selbst.

Ich bin davon überzeugt, dass Fragen dieser Art mit neuer Intensität und neuer Offenheit besprochen werden müssen. Gerade heute muss man die Dringlichkeit des interreligiösen Dialogs unterstreichen. Aber genauso klar muss man sagen: Dieser Dialog hat mit interreligiöser Schummelei nichts zu tun. Unbequemen Fragen können wir nicht länger ausweichen. Wir können unseren muslimischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern auch die Frage nicht ersparen, wie sie zum „islamischen Staat“ stehen. Ist die Zurückhaltung, die einige von ihnen gegenüber diesem Konzept üben, eher durch eine taktische Rücksichtnahme bestimmt, die sich aus der Stellung als Minderheit in einer nicht-muslimischen Umwelt ergibt? Oder findet die Tradition aufgeklärter Säkularität Zustimmung, die sich mit einer aktiven Bejahung der Religionsfreiheit und damit auch der Glaubensfreiheit Andersglaubender verbindet? Ich gestehe, dass muslimische Äußerungen zu diesem Thema mir eine letzte Klarheit noch nicht vermittelt haben. Die Diskussion muss weitergehen.

Sie spüren: Mit dieser Überlegung bewege ich mich in der unmittelbaren Nähe der Themen, die uns seit einer Woche Tag und Nacht in Atem halten. Auch der offene Ausbruch des Irakkriegs hat religiöse Reaktionen wachgerufen. Saddam Hussein hat sofort von einem „heiligen Krieg“ gesprochen. Ich bin freilich davon überzeugt, dass der irakische Diktator zur Religion ein genauso zynisches Verhältnis hat wie zu allem anderen auch, Menschenleben eingeschlossen. Sein Versuch, unter Aufopferung fremder Menschenleben seine eigene politische Macht zu bewahren, hat, so muss man mit Nachdruck sagen, mit Heiligkeit in keinem Sinn des Wortes zu tun.

Auf ganz andere Weise spielen religiöse Motive im Handeln des amerikanischen Präsidenten George W. Bush eine Rolle. Dabei ist er in der Verwendung religiöser Motive weit zurückhaltender, als ihm unterstellt wird. Aber wenn er auch eine Kriegsankündigung mit der Bitte beendet, Gott möge Amerika segnen – God bless America – , schwingt darin unweigerlich auch der Gedanke mit, Amerika sei dem Segen Gottes etwas näher als andere Länder. Von dem Bewusstsein, dass Gottes Segen unteilbar ist, ja dass er seine Sonne aufgehen lässt über Böse und Gute und regnen lässt über Gerechte und Ungerechte, ist in einem solchen Zusammenhang nichts zu spüren.

Mit einem Berater des amerikanischen Präsidenten, Rev. Richard Land, habe ich unmittelbar vor dem Ausbruch des Irakkriegs eine längere Korrespondenz geführt, die in diesen Tagen auch veröffentlicht wird. Er berief sich für das, was bevorstand, auf die Gerechtigkeit. Sie sei das entscheidende Thema der biblischen Botschaft, nicht der Frieden. Davon, dass die Bibel „Gerechtigkeit und Friede und Freude im Heiligen Geist“ zusammen als die Wesensmerkmale des Reiches Gottes beschreibt, war in seinen Äußerungen nicht viel zu spüren. Denn Gerechtigkeit sah er vor allem anderen als vergeltende Gerechtigkeit. Das Vergeltungsprinzip führte ihn unter anderem dazu, die Todesstrafe aus religiösen Gründen für notwendig zu erklären. Um nichts anderes, so gab er zu verstehen, geht es im Krieg gegen den Irak: um die notwendige Vergeltung der Untaten von Saddam Hussein.

Den Ernst kann ich nachvollziehen, mit dem die Grausamkeiten, die Menschenverachtung und die Willkür Saddam Husseins in Erinnerung gerufen werden: eine Million Tote während des Kriegs zwischen dem Irak und dem Iran, ungezählte Menschen, die zur Abschreckung in aller Öffentlichkeit am Galgen hingen, die drangsalierten Kurden im Norden und Schiiten im Süden des Landes, die diesen Krieg herbeigewünscht haben, weil sie sich von ihm Freiheit erhoffen – jedenfalls etwas mehr als bisher: man darf das alles nicht gering schätzen.

Und doch bleibt der Zweifel angebracht, ob der Krieg zum gegebenen Zeitpunkt das richtige Mittel war. Auch wer die Augen nicht davor verschließt, dass nur militärischer Druck ein erstes Einlenken von Saddam Hussein in der Waffenfrage bewirkt hat, kann, ja muss in meinen Augen an der Überzeugung festhalten, dass aus dieser Drohkulisse kein Kriegsautomatismus werden durfte. Doch inzwischen ist die Frage hypothetisch, welchen Verlauf die Dinge bei einem anderen Vorgehen genommen hätten. Aber gerade Menschen, denen der Glaube wichtig ist, müssen daran festhalten, dass für einen solchen Krieg – für jeden Krieg – der Wille Gottes nicht in Anspruch genommen werden darf. Menschlicher Wille ist hier am Werk, fehlbar, vorläufig, schuldbehaftet. Menschliche Verantwortung ist es, dem Einsatz tötender Gewalt ein Ende zu machen, so schnell das nur geht.

Am Geschehen dieser Tage zeigt sich: Wir leben keineswegs in einer Zeit, welche die Religion hinter sich hat. Und es erscheint mir als kurzatmig und kurzsichtig, auf den Missbrauch der Religion, die wir in solchen Zusammenhängen beobachten, mit dem Rückzug in einen religiösen Analphabetismus zu antworten. Gerade in einer solchen Zeit ist vielmehr jede und jeder gefragt, wo er oder sie die eigene religiöse Identität findet. Gerade in einer solchen Zeit ist die Gretchenfrage aktuell: Wie hältst du’s mit der Religion?

III.

„Nachhaltigkeit“ heißt ein neues Zauberwort der politischen Debatte. Worin zeigt sich eine zukunftsfähige und nachhaltige Gestaltung unserer Gesellschaft? Nach meiner Auffassung wird ein wirksames Bemühen um Nachhaltigkeit erst dann erkennbar, wenn wir die Erhaltung sozialer Institutionen ebenso ernst nehmen wie die Bewahrung der natürlichen Umwelt. Gefährdet ist nämlich heute nicht nur die ökologische, sondern auch die kulturelle Nachhaltigkeit. Wir treiben Raubbau nicht nur mit den natürlichen, sondern auch mit den kulturellen Ressourcen des gemeinsamen Lebens. Lebensqualität aber bemisst sich nicht nur an den ökonomischen und ökologischen, sondern ebenso auch an den sozialen und kulturellen Lebensbedingungen. Genauso wie es einen Kanon der wirtschaftlichen Vernunft und der ökologischen Verantwortbarkeit unseres Verhaltens gibt, muss es auch wieder einen Kanon sozialer Verhaltensweisen und kultureller Maßstäbe geben. Man überdehnt den Begriff der kulturellen Pluralität, wenn man meint, auf die Verständigung über Schlüsselwerte verzichten zu können, ohne die soziales Zusammenleben gar nicht gelingen kann. Fürsorge für fremdes wie für das eigene Leben, Achtung vor der Integrität des andern wie vor der eigenen Integrität, Barmherzigkeit gegenüber Schwächeren und Solidarität über die Generationsgrenzen hinweg, Gewaltfreiheit im Umgang mit Konflikten und Toleranz gegenüber fremden Lebensformen; das sind Beispiele für solche Schlüsselwerte, auf die das gemeinsame Leben angewiesen ist.

Sie sind im Gebot der Nächstenliebe unübertrefflich zusammengefasst, das ja – was oft verkannt wird – die Zuwendung zum Nächsten mit der Verantwortung für das eigene Leben verbindet: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“ Und als höchstes Gebot wird es von Jesus neben das andere Gebot der Liebe zu Gott gestellt – „von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüt“. Eindringlich wird mit diesen Worten umschrieben, womit es die Religion zu tun hat.

Diese Kräfte heute wieder lebendig werden zu lassen, ist eine der großen Aufgaben unserer Zeit. Sie setzt voraus, dass wir Räume respektieren oder auch neu schaffen, in denen Menschen zum Grund ihres Lebens ein neues Verhältnis gewinnen können. Das religiöse Fragen der Menschen kann nicht allein den „Sehnsuchtsreligionen“ überlassen werden, die Menschen neue religiöse Kultformen anbieten. Für die christlichen Kirchen jedenfalls kann es nicht einfach darum gehen, auf diesem religiösen Markt mit einem weiteren Angebot präsent zu sein. Die Verbindlichkeit, für die sie eintreten, ist nicht nur durch eine religiöse Praxis geprägt, sondern durch einen Inhalt, auf den sich der Glaube bezieht. Dass der Mensch als das Wesen, das sich selbst transzendiert, dabei nicht nur auf sich selbst trifft, sondern auf den lebendigen Gott, darauf kommt es an. Dass er, wenn er in die Tiefe seines Selbst lauscht, nicht nur bei sich selbst ist, sondern Gott begegnet und auf seine Stimme hört, ist gerade heute unaufgebbar. So richtig es ist, mit neuen religiösen Bewegungen und spritituellen Praktiken sensibel umzugehen, so wichtig ist es zugleich, dass die Kirchen gerade heute sich der ihnen anvertrauten Botschaft bewusst sind und ein erkennbares Profil zeigen. Der gefeierte Gottesdienst, die Gottesbegegnung in Verkündigung und Gebet, die Erfahrung der Gemeinschaft mit Gott und untereinander sind die entscheidenden Elemente. Die bewusste Anerkennung des Missionsauftrags, dem die Kirchen sich heute stellen müssen, gehört genauso zu dem heute nötigen Profil wie die Einsicht, dass religiöse Bildung ein unaufgebbares Element der allgemeinen Bildung darstellt. Der Religionsunterricht in der Schule muss deshalb gerade heute als integraler Bestandteil des schulischen Bildungsauftrags respektiert und zeitgemäß weiterentwickelt werden. Und die Kirchen müssen sich auf ihrem eigenen Feld stärker als bisher darum bemühen, auch die Menschen zu erreichen und anzusprechen, denen der christliche Glaube fremd und unbekannt geworden ist. Dazu müssen sie das Einzigartige der Botschaft von der Versöhnung im Kreuz Christi – auch in ihrer Fremdheit – wieder bewusst ins Zentrum rücken und sich wieder verstärkt um einen persönlichen Kontakt mit den Menschen und zwischen den Menschen bemühen. Denn dann werden die Menschen von dieser Botschaft auch wieder erreicht – und das nicht nur zur Weihnachtszeit, so wichtig diese Zeit ohne Zweifel ist.

Wenn ich von religiösem Analphabetismus spreche, mögen Sie das als ein hartes Wort empfinden. Aber dass ich damit nicht übertreibe, lässt sich sogar an der öffentlichen Berichterstattung in einer manchmal bedrückenden Weise aufweisen. Nehmen sie als Beispiel jene Berichte, die behaupten, bei einer Umfrage nach der Vertrauenswürdigkeit gesellschaftlicher Institutionen seien die Kirchen in Deutschland wie auch in der Schweiz ganz am Ende gelandet. Bei genauem Zusehen allerdings war festzustellen, dass das Gallup-Institut, das diese Umfrage im Auftrag des Weltwirtschaftsforums durchgeführt hat, in Deutschland überhaupt nur 500 Menschen befragt hat – ohne Zweifel eine sehr geringe Zahl. Und gefragt wurde gar nicht nach Kirchen, sondern allgemein nach „religiösen Gruppen und Kirchen“. Wer auf diese Frage antwortete, gab damit über seine Einschätzung islamistischer Gruppen oder der Scientology Church genauso Auskunft wie über sein Verhältnis zur evangelischen oder katholischen Kirche. Ich habe mich an Hand dieses Beispiels gefragt, ob nur die Berichterstatter oder vielleicht auch die Fragesteller zwischen dem einen und dem andern nicht mehr unterscheiden können. Aber es besteht kein Zweifel: Der öffentliche Eindruck, der von den Berichten über diese Gallup-Umfrage ausging, war verheerend. Dass nach der Allensbach-Umfrage über das Berufsprestige von 2001 Pfarrerinnen und Pfarrer an zweiter Stelle aller Berufe stehen, wurde dagegen öffentlich gar nicht erst zur Kenntnis genommen. Dabei hat auch diese Nachricht Aufmerksamkeit verdient.

 IV.

Ob der Glaube noch Zukunft hat, wird nicht von den Kirchen entschieden. Dies entscheidet der, der den Glaubenden verheißt, dass er in ihrer Mitte ist, auch wenn sie sich zu zweit oder zu dritt versammeln. Deshalb halten sich christliche Kirchen daran, dass der Glaube seine Zukunft hat, weil er aus Gottes Zukunft lebt. Aber die Kirchen haben die Aufgabe, ihren Beitrag zur Weitergabe des Glaubens zu leisten. Denn eine Kirche – das ist doch eigentlich nichts anderes als eine Verantwortungsgemeinschaft zur Weitergabe des Glaubens. Wenn die Kirchen dieser Aufgabe heute gerecht werden wollen, dann müssen sie sich in einer neuen Weise auf den Kern ihres Auftrags besinnen: auf Gottesdienst und Seelsorge, auf Verkündigung und Unterricht, auf Nähe zu den Menschen und gelebte Gemeinschaft, auf Diakonie und Mission. Sich in diesem Sinn auf den Kern des kirchlichen Auftrags zu besinnen, heißt aber nicht, sich von den Reibungsflächen mit der Gesellschaft abzuwenden und den Weg in eine unpolitische Kirche einzuschlagen. Es heißt vielmehr, vom Kern des kirchlichen Auftrags, vom Zentrum des christlichen Glaubens her, aufs Neue so viel Ausstrahlungskraft zu entwickeln, dass dies in den Bereich politischer Verantwortung hineinwirkt.

Eine christliche Kirche sollte ihre vorrangige Aufgabe darin sehen, den Horizont, der über das Menschenmögliche hinausweist, offen zu halten und der Gottvergessenheit zu wehren, auch soweit es um politische Verantwortung geht. Die Rede unseres Grundgesetzes von der „Verantwortung vor Gott und den Menschen“ weist jedenfalls die Kirche mit denkbar größtem Nachdruck darauf hin, was auch in der Öffentlichkeit zuallererst ihres Amtes ist: nämlich von Gott zu reden und das Schweigen von Gott zu durchbrechen, statt es zu verdoppeln. Wer für diese Notwendigkeit noch Belege brauchte, hat sie durch die politischen Herausforderungen und gesellschaftlichen Entwicklungen der jüngsten Vergangenheit überreich erhalten.

Als besonders beeindruckend empfinde ich, wie in der Diskussion über die Entwicklung der modernen Lebenswissenschaften die Frage nach unserem Bild vom Menschen und damit die Frage nach dem Gottesverhältnis des Menschen lebendig wird. Die Auseinandersetzungen um eine deutsche Beteiligung an der Forschung mit embryonalen Stammzellen und über die Präimplantationsdiagnostik haben eine Diskussion über Grundfragen unseres Menschenbilds ausgelöst, deren Intensität bis in das Feld der Politik hinein Überraschung hervorgerufen hat. Darf man menschliches Leben zu anderen Zwecken als um seiner selbst willen erzeugen? So muss nun gefragt werden. Wenn man die Frage bejaht, dann ist menschliches Leben nur noch eine Sache, ein Mittel zum Zweck, bald schon eine Handelsware. Und die nächste Frage schließt sich an: Ist es erlaubt, den einen Embryo als der Menschwerdung würdig auszuwählen, den andern zu verwerfen? Ist die Vorstellung vom „Designerbaby“ nur ein Alptraum ohne realen Hintergrund – oder eine drohende Gefahr? Solche Fragen werden heute nicht aus Forschungsfeindlichkeit gestellt oder aus Gleichgültigkeit gegenüber den Heilungshoffnungen, die sich mit den neuen medizinischen Möglichkeiten verbinden. Vielmehr muss gefragt werden, wie wir mit diesen neuen Möglichkeiten umzugehen haben, wenn wir den Menschen selbst nicht als Sache, sondern als Gottes Gegenüber und deshalb als Person ansehen. Auch in der Bioethik geht es heute in einem unmittelbaren Sinn um religiöse Fragen.
 
Sowohl für die Forschung mit embryonalen Stammzellen als auch für die Zulassung der Präimplantationsdiagnostik wird heute die Vorstellung von einem abgestuften Lebensschutz als Rechtfertigung vorgebracht. Sie sieht sich indessen mit zwei Gegenfragen konfrontiert: Welche Stufen lassen sich mit solcher Eindeutigkeit definieren, dass auf ihnen auch der Lebensschutz eine neue Qualität annimmt? Und bis zu welchem Grade soll der Lebensschutz auf welcher Stufe eingeschränkt werden?

Wer die unverfügbare Würde des Menschen achtet, wird auch den offenen Anfang des menschlichen Lebens respektieren. Er wird darauf verzichten, eine bestimmte Stufe in der Entwicklung menschlichen Lebens so auszuzeichnen, dass erst jenseits dieser Stufe eine Schutzwürdigkeit dieses Lebens beginnt. Er wird auch darauf verzichten, aus den faktischen Unterschieden unserer Schutzmöglichkeiten für werdendes menschliches Leben auf prinzipielle Unterschiede in der Schutzwürdigkeit dieses Lebens selbst zu schließen. Viel eher gilt: Unsere Schutzverpflichtung für menschliches Leben reicht so weit wie unsere Schutzmöglichkeiten. Deshalb haben wir gegenüber einem in der Petrischale erzeugten Embryo eine Schutzverpflichtung auch auf den frühen Stufen seiner Entwicklung, auf denen ein Embryo im Mutterleib unseren Schutzmöglichkeiten noch gänzlich entzogen wäre. Oder anders und schärfer gesagt: Daraus, dass natürlich gezeugte Embryonen vor der Einnistung in den Uterus unerkannt abgehen können, lässt sich nicht schließen, dass wir künstlich erzeugte Embryonen beliebig für verbrauchende Forschung freigeben dürften.

Dieses hier nur angedeutete Beispiel zeigt: Auch in der öffentlichen Debatte geht es heute um „letzte Fragen“. In ihnen sind der Beitrag und damit auch die Argumentationsfähigkeit von Christinnen und Christen gefragt. Natürlich haben die Kirchen heute keinen Monopolanspruch auf öffentliches Gehör. Sie müssen sich mit den Themen, die ihnen wichtig sind, vielmehr Gehör verschaffen. Es ist auch nicht mehr an dem, dass Beiträge der Kirchen zu Fragen von allgemeiner Bedeutung und die Grundlage, von der aus sie gegeben werden, sich noch von selbst verstünden. Sie müssen vielmehr ausdrücklich verständlich gemacht werden. Die Volkskirche schwimmt nicht mehr auf einer allgemeinen Woge der gesellschaftlichen Akzeptanz; die Kirche muss vielmehr ihren öffentlichen Ort eigenständig und profiliert immer wieder neu gewinnen. Sie sollte sich nicht vorwerfen müssen, dass sie durch einen Mangel an Klarheit und Profil den Bedeutungsverlust selbst befördert, von dem so viel die Rede ist.

Es geht im übrigen auch gar nicht um ihren eigenen Bedeutungsverlust. Es geht darum, dass das Evangelium in seiner Bedeutung für unsere Gesellschaft neu erkannt und bekannt wird. Denn inmitten aller Säkularisierungsprozesse und auch allen Säkularisierungsgeredes steht eines fest: Gott ist nicht säkularisierbar. Die Vorstellung, Gott selbst im Gedanken der Humanität säkularisieren zu können, hat sich als ein Irrtum erwiesen. So weit es auch kirchliche Beiträge zu einem solchen Irrtum gab, sind deutliche Selbstkorrekturen und mutige Reformschritte nötig. Denn eindeutig gilt es festzuhalten: Nichts und niemand kann an die Stelle Gottes selbst treten; dass wir diese Stelle vielmehr ihm selbst überlassen, ist die Voraussetzung nicht nur für das Wirken der Kirche, sondern auch für die Säkularität des Staates. Gerade in diesem Sinn gilt auch heute, dass ohne Gott kein Staat zu machen ist. Gerade angesichts der gegenwärtigen Auseinandersetzung mit einem Despoten unserer Tage erinnere ich an ein Wort von Alexis de Tocqueville, der vo 170 Jahren gesagt hat: „Der Despotismus kommt ohne Glauben aus, die Freiheit nicht.“

Aber im Letzten entscheidet sich die Frage nach der Zukunft des Glaubens nicht an gesellschaftlichen Analysen, sondern am Lebensvollzug der einzelnen. Ob wir uns damit abfinden, bei dem Suchen über uns selbst hinaus immer nur auf uns selbst zu stoßen oder ob wir auf die Wirklichkeit Gottes in uns und um uns hören, ob wir uns der Welt der schnellen Bilder ausliefern oder auf das stille Wort der Wahrheit hören, ob wir uns der Vereinzelung überlassen oder uns neu als Beziehungswesen verstehen, die aus der Beziehung zu Gott, zum Mitmenschen und zu uns selbst leben – das sind Fragen, die wir alle nur für uns selbst beantworten können. Wir sollten die Antwort nicht denen überlassen, die meinen, sie seien dem Zeitgeist auf der Spur. Wir sollten die eigene Antwort suchen – und sei es auch gegen den Geist der Zeit.

Auf Kierkegaard geht ein Wort über den Zeitgeist zurück, das man nicht vergessen sollte: „Wer sich mit dem Zeitgeist verheiratet, findet sich schnell als Witwer vor.“ Nach der Zukunft des Glaubens zu fragen, braucht bisweilen einen langen Atem. Aber der lange Atem lohnt.