Der Schutz von Flüchtlingen als christliche Pflicht

Wolfgang Huber

Ökumenischer Kirchentag, Heilig-Kreuz-Kirche

Werkstatt Flucht und Asyl

Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen

I. 
Auf einem Ökumenischen Kirchentag sind wir versammelt. Der ökumenische Blick ist ein Blick über Grenzen hinweg. „Der Erdkreis ist des Herrn und die darauf wohnen“ (Psalm 24,1). Auf dieses Bekenntnis des alttestamentlichen Psalmisten geht das Wort „Ökumene“ zurück. Die Situation von Menschen, die aus anderen Ländern zu uns kommen, ist deshalb ein zentrales ökumenisches Thema. Der Umgang mit diesen Menschen ist zugleich ein entscheidender Maßstab für die Humanität unserer Gesellschaft. Der richtige Hinweis, dass unbegrenzte Hilfe nicht möglich sei, darf nicht zum Vorwand dafür werden, die Hilfe zu verweigern, die möglich ist. Die richtige Feststellung, dass im Bereich von Flucht und Asyl wie in jedem anderen Bereich das Recht regieren soll, darf nicht zum Vorwand dafür werden, im Namen des Rechts elementare Rechte einzuschränken oder zu missachten. Das elementarste Recht eines Menschen, so hat Hannah Arendt gesagt, ist das „Recht, Rechte zu haben“. In Menschen auf der Flucht tritt uns oft das Schicksal der Rechtlosigkeit vor Augen. Menschen begegnen uns, denen dieses Recht fehlt: das Recht, Rechte zu haben.

Dass wir in Deutschland im Umgang mit Flucht, Migration und Integration auf der Stelle treten, bedaure ich sehr. Zwar ist das Zuwanderungsgesetz vor Jahresfrist nur mit einem Verfahrenstrick im Bundesrat durchgesetzt worden; das Bundesverfassungsgericht hat das mit guten Gründen nicht gelten lassen. Aber nach wie vor ist eine überzeugende gesetzliche Regelung nötig, die Zuwanderung, Integration und die Gewährung von Asyl im Zusammenhang sieht. Derzeit ist die Hoffnung auf eine befriedigende Lösung dieser Aufgabe eher schwach. Auch die europäische Zusammenarbeit in diesem Feld beunruhigt eher, als dass sie überzeugt. Von diesem Ökumenischen Kirchentag erhoffe ich das deutliche Signal: Wir brauchen einen menschenrechtsorientierten Umgang mit Asylsuchenden wie auch mit Flüchtlingen in der Illegalität. Auch diese Werkstatt wird dazu, so hoffe ich, beitragen.

Gewiss kann man sagen, im Blick auf Flucht und Asyl sei die Beseitigung von Fluchtursachen die allererste Aufgabe. Doch die Kooperation mit den Herkunftsländern in diesem Feld bleibt hinter dem Notwendigen weit zurück.

In vielen Diskussionen treten die Situationen, die zu Flucht und Asyl führen, ganz und gar hinter das Interesse an der Steuerung von Zuwanderung zurück. Die meisten Maßnahmen in diesem Bereich zielen darauf, die Zahl der Einwanderer und Flüchtlinge zu begrenzen, die Rückführung abgelehnter Asylsuchender und Migranten ohne gültige Papiere zu befördern, Kontrollmechanismen zu verschärfen und Nachbarstaaten zum Aufbau ähnlicher Abwehrsysteme zu bewegen. Auch die Bekämpfung der Ursachen erzwungener Migration und die Durchsetzung internationaler Menschenrechtsverpflichtungen treten hinter den Maßnahmen zur Verhinderung der Einreise von Flüchtlingen zurück.

Die Asylpolitik selbst wird in diesem Zusammenhang allzu oft als ein Element der Migrationssteuerung betrachtet, obwohl sie doch eine eigenständige Bedeutung haben müsste. Denn es geht in ihr um das staatliche Verhalten gegenüber Menschen, die aus unmittelbar menschenrechtlichen Gründen Hilfe und Zuflucht erwarten. Alles kommt darauf an, dass aus dem Bemühen, dem Missbrauch des Asylrechts zu wehren, nicht dessen Kern ausgehöhlt wird.

II. 
Je mehr das geschieht, desto stärker wird kirchliches Handeln herausgefordert. Es vollzieht sich unter anderem unter dem Namen des Kirchenasyls. Dabei muss man gerade aus kirchlicher Sicht in aller Klarheit sagen: Die Zeiten des Kirchenasyls als eines unabhängigen Rechtsinstituts sind vorbei. Nur aus der Not heraus ist ein Kirchenasyl, das ich lieber „Gemeindeasyl“ nennen würde, in den letzten beiden Jahrzehnten wieder aktuell geworden. Dessen Notwendigkeit wird in den Kirchen derzeit einhellig anerkannt. Insbesondere ist in diesem Feld das Maß der Übereinstimmung zwischen evangelischen und katholischen Positionen bemerkenswert. Auch in dieser Hinsicht handelt es sich um ein ökumenisches Thema. Vor zehn Jahren haben die Kirchen in einer gemeinsamen Stellungnahme ihre grundlegenden Auffassungen zu diesem Thema formuliert und die Basis beschrieben, auf der alles kirchliche Engagement im Bereich von Flucht und Asyl beruht. Ich zitiere einige Sätze aus dieser nach wie vor aktuellen Stellungnahme: 

„Die Bibel bezeugt die unantastbare Würde jedes einzelnen Menschen unabhängig von der Zugehörigkeit zu einem Volk, zu einer Kultur und zu einer Religion. Sie erzählt viele Geschichten von Menschen, die auf der Flucht und ohne Heimat sind. Heimatlosigkeit ist immer wieder das Los Israels gewesen. Verfolgung und Vertreibung haben bis heute das Schicksal vieler Menschen geprägt. Darum ist und bleibt es Ausdruck und Gebot unseres christlichen Glaubens, für Fremde zu sorgen und Gastfreundschaft zu gewähren. ´Ich war fremd, und ihr habt mich aufgenommen´, sagt Christus.“ 

Seitdem haben die Kirchen immer wieder gefordert, dass das Asylrecht in seiner grundsätzlichen Geltung nicht gefährdet oder gar preisgegeben werden darf. Sie erwarten und erbitten das von der staatlichen Politik. Sie maßen sich nicht an, in diesem Feld an die Stelle staatlichen Handelns zu treten. Auch im Umgang mit Härtefällen ist es nicht die Erwartung der Kirchen, dass die staatliche Verantwortung in diesen Fällen zurücktritt und kirchliches Handeln sich an seine Stelle setzt. Lösungen in dieser Richtung – wie sie sich vor allem mit der Vorstellung eines „Kirchenkontingents“ verbinden – finden deshalb meine Zustimmung nicht. Die staatliche Rechtsordnung bleibt auch in solchen Fällen gültig; der Staat ist dafür verantwortlich, der Humanität Raum zu gewähren. Deshalb sage ich deutlich: Ein neues Zuwanderungsgesetz, das einer klaren Härtefallregelung ausweichen würde, wäre in meinen Augen unzureichend.  

Die Tatsache, dass Gemeinden sich dennoch genötigt sehen, Flüchtlinge in ihren Räumen zu schützen, verweist auf erhebliche Schutzlücken im gegenwärtigen Asylsystem. Auch hierin gibt es Konsens in beiden großen Kirchen. In ihrem „Gemeinsamen Wort zu den Herausforderungen durch Migration und Flucht“ von 1992 heißt es:

„Es ist von ihrem Selbstverständnis her Aufgabe der Kirchen, immer dort mahnend einzugreifen, wo Rechte von Menschen verletzt sind und sich eine kirchliche Beistandspflicht für bedrängte Menschen ergibt. Die Praxis des sogenannten ´Kirchenasyls´ ist nicht zuletzt auch eine Anfrage an die Politik, ob die im Asyl- und Ausländerrecht getroffenen Regelungen in jedem Falle die Menschen, die zu uns gekommen sind, beschützen und vor Verfolgung, Folter oder gar Tod bewahren“. 

Es ist deshalb in bestimmten Situationen nicht nur legitim, sondern auch notwendig, wenn Kirchengemeinden in Einzelfällen nach gewissenhafter Prüfung Menschen Beistand gewähren und dadurch den notwendigen Grundrechtsschutz zu erreichen versuchen. Sie stellen damit den Rechtsstaat nicht in Frage, sondern leisten einen Beitrag zum Rechtsfrieden und zur Wahrung der Grundrechte. 

Die Kirchen selbst treten dafür ein, dass eine solche Gewährung von Kirchenasyl auf das unerlässliche Minimum beschränkt wird. Je weniger Kirchenasyl, desto besser – so muss der Grundsatz heißen. Aber zugleich erwarten wir, dass Bürgerengagement und Zivilcourage, wie sie sich in der Gewährung von Kirchenasyl zeigen, auch auf der staatlichen Seite Respekt und Anerkennung finden und nicht als illegitim und überflüssig abgewertet werden. Statt einer solchen Anerkennung ist heute sogar die Neigung festzustellen, das Kirchenasyl in den Bereich der strafbaren Handlungen abzuschieben. Bisweilen kann man beobachten, dass die staatlichen Behörden zwar vor einem unmittelbaren Eingreifen in Fällen des Kirchenasyls absehen, zugleich aber die in den Gemeinden Verantwortlichen einer strafbaren Handlung bezichtigen wollen. Wenn den Behörden bekannt ist, wo und auf welchem Weg ein Asylsuchender erreichbar ist,  sie aber auf eine Intervention verzichten, dann kann nicht zugleich den Gemeinden, die Aufenthalt gewähren, eine damit gegebene strafbare Handlung vorgeworfen werden. Der Staat kann nicht aus freier und eigener Entscheidung auf ein bestimmtes Handeln verzichten und zugleich die Schuld für diesen Verzicht der Kirche aufbürden.

Fünf Jahre nach dem Inkrafttreten des verschärften Asylrechts haben wir 1998 in dieser Kirche einen Gottesdienst für Menschen gehalten, die aus Deutschland abgeschoben worden waren. Unter ihnen befanden sich Menschen, die ohne faires Gerichtsverfahren ins Gefängnis gekommen, gefoltert oder umgebracht worden waren. Von anderen wurde berichtet, die spurlos verschwunden waren. Dieser Gottesdienst hat mir und vielen anderen erneut Situationen vor Augen gestellt, in denen wir uns unserer Verantwortung nicht entziehen können – ob wir das wollen oder nicht.

In meiner eigenen Erfahrung sind in den letzten Jahren drei Gruppen von Flüchtlingsschicksalen in den Vordergrund getreten, in denen Kirchenasyl notwendig wurde und eine wichtige Bedeutung bekam. Es handelte sich zum einen um Fälle, in denen die Betroffenen in ihren Herkunftsländern um Leben und Freiheit fürchten mussten. Daneben traten Fälle, in denen Menschen durch Bürgerkrieg, Gefängnis oder Folter schwere  Traumatisierungen davongetragen hatten, die einer Rückkehr im Wege standen. Und es handelte sich schließlich um Fälle, in denen durch Abschiebungen Familien getrennt werden sollten – und zwar teilweise nicht nur auf Zeit, sondern auf Dauer. 

Alle drei Arten von Fällen haben mich sehr beschäftigt. Die Absicht, Kinder von ihren Eltern loszureißen, hat mich ganz besonders empört. Auf der einen Seite betonen wir in Deutschland die besondere Achtung vor Ehe und Familie, die durch Artikel 6 des Grundgesetzes unmittelbar geschützt sind. Auf der anderen Seite senken wir das Nachzugsalter für Kinder und greifen damit unmittelbar in die Integrität von Familien ein. Oder wir reißen bei Abschiebungen Familien auseinander und rauben damit den Kindern die Fürsorge ihrer Eltern. Für diese Fürsorge einzutreten, erscheint mir in solchen Fällen als eine ganz selbstverständliche Pflicht.

Ich respektiere, dass man dem Recht auf Asyl klare Grenzen ziehen muss. Doch wenn ein Gefolterter im Asylverfahren nachweisen muss, dass seine Peiniger ihn aus politischen Gründen gefoltert haben, stockt mir der Atem. Wenn in einem Land die politische Ordnung total zusammen gebrochen ist und daraus die Folgerung abgeleitet wird, dass es dann auch keine politische Verfolgung habe geben können, werde ich sprachlos. Wenn wir bei massiven Fällen geschlechtsspezifischer Verfolgung noch immer um die Gleichstellung mit politischer Verfolgung kämpfen müssen, frage ich nach den Gründen. 

Im Streit um ausländer- und asylrechtliche Abschiebungsentscheidungen geht es immer wieder um die Frage, ob diese nur dem Buchstaben des Gesetzes entsprechen oder auch den Geist der Verfassung und der völkerrechtlichen Verpflichtungen widerspiegeln müssen. Im Neuen Testament wird der Konflikt zwischen dem Buchstaben und dem Geist des Gesetzes immer wieder thematisiert. Jesus sagt einmal dazu: „Der Sabbat ist um des Menschen willen gemacht und nicht der Mensch um des Sabbat willen“ (Markus 2, 27). Jesus stellt den Schutz des Sabbats nicht in Frage. Ihm geht es darum, die  entsprechende Gesetzesvorschrift zu stärken, indem er ihr eigentliches Ziel in  den Vordergrund stellt. Wenn die Beachtung der einzelnen Sabbatvorschriften  freilich dazu führt, dass die zentrale Zielsetzung des Sabbats verfehlt wird, dann  hat der Schutz des Lebens Vorrang vor der Beachtung einzelner Vorschriften.  Auf seine Frage: „Soll man am Sabbat Gutes tun oder Böses tun, Leben erhalten  oder töten“, erhält Jesus von den Gesetzestreuen keine Antwort. Denn sie  scheuen die Konsequenz. So gibt er die Antwort selbst, indem er den Kranken  heilt, die Sabbat-Gesetze nach Ansicht der Gesetzestreuen damit bricht und doch  im eigentlichen Sinne das Gesetz des Sabbats erfüllt (Markus 3, 1 ff.). 

Unsere Rechtsordnung nimmt diesen Impuls so auf, dass sie die Würde des Menschen und den Schutz seines Lebens als Grundrechte auszeichnet. Sie binden den Gesetzgeber; und sie sind auch verbindlich für den Umgang mit dem Gesetz. Wenn ein Mensch durch eine Abschiebung ums Leben kam, wird deshalb niemand sich einfach darauf berufen können, bei dieser Abschiebung seien Recht und Gesetz beachtet worden. Jeder muss sich dann fragen, wo der Geist unserer Verfassung  geblieben ist. 

„Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen“ (Apostelgeschichte 5,  29). Unter Berufung auf dieses biblische Wort wird Kirchenasyl gelegentlich  auch als ein Akt zivilen Ungehorsams bezeichnet. Doch das Kirchenasyl ist in  erster Linie nicht ein „demonstrativer, zeichenhafter Protest“ oder eine  „aufsehenerregende Regelverletzung“, um damit eine Änderung von Gesetzen  zu erkämpfen. Erstes und vorrangiges Ziel eines Kirchenasyls ist der tätige  Beistand in einer Notsituation und der Appell an die Behörden, humanitären  Grundsätzen Rechnung zu tragen. Die aufgenommenen Menschen und ihr  Schicksal stehen im Mittelpunkt. Sie sind nicht ein Mittel zum Zweck, um  andere Ziele zu erreichen. Das Kirchenasyl soll ihrem Leben, ihren  Grundrechten, ihrer Freiheit dienen.  Je seltener das nötig ist, umso besser.