Christentum, Bildung, Kultur - Aufgaben des Protestantismus am Beginn des 21. Jahrhunderts

Wolfgang Huber

Stapelage

Pfarrkonferenz der Lippischen Landeskirche

Darüber, so bald nach dem Beginn meiner Tätigkeit als Vorsitzender des Rates der EKD der Lippischen Landeskirche einen Besuch abstatten zu können, freue ich mich sehr. Frühere Besuche sind mir noch lebhaft in Erinnerung. Ein Beitrag zu einer Synodentagung Anfang der achtziger Jahre – in der Zeit der intensiven Friedensdiskussion – gehört ebenso dazu wie die weit kürzer zurückliegende Beteiligung an zwei Lippischen Landeskirchentagen. Bei solchen Gelegenheiten habe ich manches von der besonderen Prägung dieser Landeskirche mit ihrer lutherischen und ihrer reformierten Klasse in mich aufgenommen.

Unter den Landeskirchen, die ich als Ratsvorsitzender besuchen möchte, stehen, so ist es auch mein Wunsch, diejenigen Kirchen vornean, die durch Mitglieder auch im Rat der EKD vertreten sind. Das beginnt nun, dank der Weitsicht Ihres Landessuperintendenten Gerrit Noltensmeier, mit der Lippischen Landeskirche. Mir liegt daran, durch einen solchen Besuch meinen Dank dafür auszudrücken, dass aus der Erfahrung der Gliedkirchen heraus auf diese Weise zur gemeinsamen Leitung der EKD und dem gemeinsamen Profil des Protestantismus in Deutschland beigetragen wird. Denn die EKD ist nichts anderes als die Gemeinschaft ihrer Gliedkirchen. Sie kann nicht stärker sein, als ihre Gliedkirchen sie machen. Wenn diese Stärke wächst, kommt das auch den Gliedkirchen zu Gute. Dass das geschieht, ist die Hoffnung, die wir mit der Strukturreform verbinden, an der zur Zeit gearbeitet wird. Ob diese Strukturreform zum Erfolg führt, wird sich erst noch zeigen. Der Rat der EKD unterstützt und fördert diesen Prozess nach Kräften. Aber die Strukturreform der EKD ist heute nicht unser Thema. Aufgaben des Protestantismus im Horizont von Bildung und Kultur – darum soll es gehen.

1. Ein Blick auf die Diskussionslage

Bildung gehört zu den großen Themen der Gegenwart. Kritische Untersuchungen wie die PISA- oder die IGLU-Studie haben dem Bildungswesen in Deutschland kein gutes Zeugnis ausgestellt. Nach Möglichkeiten der Abhilfe wird auf vielerlei Weise gesucht. Die demographische Entwicklung des Landes lässt die Alarmglocken läuten. Wirtschaftsverbände und andere fordern dazu auf, vom frühest möglichen Zeitpunkt an die „Bildungsreserven“ der deutschen Bevölkerung auszuschöpfen. Eine Umgestaltung der Elementarbildung unter solchen Gesichtspunkten und die Vorverlegung der Einschulung werden deshalb gefordert. Damit soll ein „lebenslanges Lernen“ beginnen.

Unverkennbar sind solche Konzepte von einer Ökonomisierung der Bildungsziele und Bildungsinhalte geprägt. Darin spiegelt der gegenwärtige Diskurs über Bildung die allgemeine Ökonomisierung des Denkens und Handelns wider, für die generell der Prozess der „Globalisierung“ als verantwortlich betrachtet wird. Auch wenn man die Notwendigkeit anerkennt, dass auch Bildungsprozesse auf die Bedingungen einer globalisierten Wissens- und Informationsgesellschaft ausgerichtet werden, muss man doch in der Form, in der dies gegenwärtig geschieht, eine gefährliche Verengung sehen. Die evangelische Kirche hat sich deshalb in den vergangenen Jahren intensiv um die Wiedergewinnung eines ganzheitlichen Bildungsverständnisses bemüht und versucht, daraus die nötigen Konsequenzen zu ziehen. Den Anfang machte die Denkschrift zum Religionsunterricht, die 1994 unter dem Titel „Identität und Verständigung“ veröffentlicht wurde. Die Grundpositionen, die vor einem Jahrzehnt in dieser Denkschrift niedergelegt wurden, haben sich seitdem bewährt. Sie wurden in den Folgejahren in einer Reihe von Richtungen konkretisiert, beispielsweise in Beiträgen zum Problem des islamischen Religionsunterrichts, zu den Veränderungen im Grundschulbereich oder auch zum Verhältnis von Konfirmation und Jugendweihe – einem im Osten Deutschlands nach wie vor hochaktuellen, in Lippe dagegen eher sonderbar anmutenden Problem. In einem nächsten Schritt, motiviert auch durch die PISA-Studie, hat die EKD sich noch einen Schritt umfassender um die Darlegung eines evangelischen Bildungsverständnisses bemüht. Im Jahr 2003 ist das Ergebnis in Gestalt der Denkschrift „Maße des Menschlichen. Evangelische Perspektiven zur Bildung in der Wissens- und Lerngesellschaft“ vorgelegt worden. Um einen evangelisch profilierten Bildungsbegriff ging es dabei, der an der menschlichen Biographie, an der Selbstbildung des Menschen in den verschiedenen Phasen seines Lebenslaufs orientiert ist. Folgerichtig muss dieser Ansatz nun auch an verschiedenen, gesellschaftlich wie kirchlich besonders brisanten Beispielfeldern verdeutlicht werden. Ein Schritt in dieser Richtung ist inzwischen unternommen worden. Er liegt vor in der neuen Erklärung des Rates der EKD mit dem Titel: „Wo Glaube wächst und Leben sich entfaltet. Der Auftrag evangelischer Kindertageseinrichtungen.“ Zum ersten Mal wird damit der schon längst im Gang befindliche Paradigmenwechsel von der Betreuung zur Bildung im Elementarbereich für den Bereich der evangelischen Kindertageseinrichtungen entfaltet und in seinen praktischen Folgen bedacht.

Parallel zu diesen Bemühungen um das Bildungsthema wurde in den letzten Jahren auch die Frage reflektiert, in deren Horizont auch das Bildungsthema ohne jeden Zweifel steht: die Frage nach der Kultur. Dass der Protestantismus zum Bereich der Kultur ein ambivalentes Verhältnis hat, ist leicht nachzuvollziehen. Die durch die Reformation angestoßene Symbiose zwischen Protestantismus und deutscher bürgerlicher Kultur hat im 19. Jahrhundert zu einer weitgehenden Identifikation geführt, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts als „Kulturprotestantismus“ bezeichnet wurde. Nachvollziehbar war die vor allem von Karl Barth – auch unter dem Eindruck des Bankrotts, den dieser Kulturprotestantismus im „Gott mit uns“ des Ersten Weltkriegs erlebte – an dieser Formation geübte Kritik. Die Dialektische Theologie betonte deshalb den kritischen Abstand, die Diastase zwischen Glauben und Kultur: Die Freiheit des Wortes Gottes von der Kultur, die Eigenständigkeit der kirchlichen Botschaft gegenüber der Kultur, die Kulturunabhängigkeit der christlichen Wahrheit sollte dadurch unterstrichen werden. Das war ein wichtiges Fundament für den Widerstand der Bekennenden Kirche gegen die versuchte Gleichschaltung im Dritten Reich. Freilich war es nur ein Teil des Protestantismus, der sich zu dieser Konsequenz bereit fand. Wie die Erfahrung der Bekennenden Kirche deutlich zeigte, war eine Rückkehr zur Identifikation der evangelischen Wahrheit mit dem kulturellen Selbstverständnisses der jeweiligen Gegenwart nicht möglich. Eine einfache Identifikation konnte nicht noch einmal in Frage kommen.

Als ausgeschlossen erwies sich auf Dauer aber ebenso eine schlichte Diastase, wie sie aus Karl Barths Position abgeleitet werden konnte. Trotzdem dauerte es lange, bis es zu einer konstruktiven Annäherung an das Kulturthema in der evangelischen Theologie kam. Tastend stellten solche Versuche sich zunächst in der Gestalt einer Kulturgeschichte des Christentums dar. Ihr geht es darum, gegen den Prozess eines kollektiven, auch innerkirchlichen Vergessens die Prägungen ins Bewusstsein zu heben, die das Christentum unserer Kultur mitgegeben hat. Das reicht von der Rekonstruktion der Einflüsse des Christentums auf die Aufwertung des Alltagslebens, auf den Umgang mit Arbeit, Geld oder Liebe über die Auswirkungen christlicher Überzeugungen auf die Ausbildung der neuzeitlichen politischen Kultur bis zur Interpretation klassischer Kunstwerke im Blick auf die Art und Weise, in der sie sich christliche Gehalte angeeignet haben. Insbesondere ist dabei erneut die Aufmerksamkeit auf die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt gelenkt worden. Die großen Thesen von Ernst Troeltsch und Max Weber zu dieser Frage sind in den Bemühungen um eine Kulturgeschichte des Protestantismus einer erneuten Überprüfung unterzogen worden. Im Kern geht es bei solchen Untersuchungen um die Frage, in welchen konkreten Formen sich die Anerkennung der Menschenwürde unter den Bedingungen der Neuzeit im Recht, aber auch in der protestantischen Bildungstheorie und Bildungsbewegung Ausdruck verschafft hat. Der Blick wird auf die bedeutende Übersetzungsleistung gelenkt, die darin liegt, dass ein zentrales religiöses Symbol in säkulare Deutungen und Leitvorstellungen transformiert wurde. Aber eine solche Kulturgeschichte des Protestantismus muss sich ebenso intensiv auch den zerstörerischen Vorgängen in dieser Tradition stellen: der Agitation gegen die moderne bildende Kunst, der Stigmatisierung des Fremden im Namen der eigenen kulturellen Überlegenheit, der theologischen Sanktionierung des Massenmords an den Juden. Nur durch die kritische Reflexion dieser Schuldgeschichte wird eine geklärte Verhältnisbestimmung zwischen Protestantismus und Kultur möglich sein.

Ein zweiter Zugang, der in der Theologie der Gegenwart intensiv diskutiert wird, fragt nach der Religion in der Kultur. Er geht davon aus, dass das plurale Zeichenuniversum der modernen Kultur in sich selbst eine religiöse Dimension trägt – und zwar nicht erst dann und nicht erst dadurch, dass religiöse Themen in diese Kultur thematisiert werden. Das Moment der Selbsttranszendenz, das in allen kulturellen Hervorbringungen enthalten ist, wird vielmehr in sich selbst als ein religionsproduktiver Faktor gedeutet, der Material zur theologischen Deutung bereitstellt. Die Riten des modernen Tageslaufs, der bei vielen durch den Wechsel von Arbeit und Medienkonsum strukturiert wird, werden in ihrer potentiellen Religiosität interpretiert. Bedenkenswert ist bei einer solchen Suche nach der Religion in der Kultur vor allem der Hinweis darauf, dass religiöse Sinnpotentiale schon längst nicht mehr ausschließlich und vielleicht nicht einmal mehr vorrangig bei den klassischen Religionsgemeinschaften und ihren Deutungsangeboten gesucht werden. Dass die Kirchen ihre Monopolstellung in der Beantwortung religiöser Sinnfragen verloren haben, kommt hier in besonders einprägsamer Weise zum Ausdruck. Doch hochgradig umstritten ist die Frage, welche Folgerung daraus zu ziehen. Sollen Predigten nun ihren Text in Filmen finden statt in den Texten der Perikopenordnung? Der Ansatz „Religion in der Kultur“ hinterlässt so viele Fragen, wie er Antworten gibt.

Denn weder der historisch-rekonstruierende Blick auf die Kulturgeschichte des Christentums noch die religiöse Interpretation der Gegenwartskultur befreit von der Notwendigkeit, eine kulturtheologische Ortsbestimmung des christlichen Glaubens in seiner evangelischen Gestalt zu entwickeln. Auch wenn bewusst ist, dass diese nur eine Perspektive auf Kultur neben anderen sein kann, ist es doch unerlässlich, dass diese Perspektive im klaren Bezug zu einem evangelisch geprägten Wahrheitsbewusstsein entwickelt werden muss. Es geht also um die Bereitschaft zur Prägnanz in der Bestimmung des Verhältnisses von Glaube und Kultur.

Die Bemühung um solche Prägnanz hat den Konsultationsprozess bestimmt, den die Evangelische Kirche in Deutschland 1999 zum Verhältnis von Protestantismus und Kultur in Gang gesetzt hat. Das Impulspapier, das diesen Konsultationsprozess eröffnete, trug den Titel: „Gestaltung und Kritik. Zum Verhältnis von Protestantismus und Kultur im neuen Jahrhundert“. Der Konsultationsprozess, der damit begann, ließ bald die Besonderheit dieses Themenfelds erkennen. Im Unterschied zu dem Konsultationsprozess, der wenige Jahre zuvor zum Wirtschafts- und Sozialwort der Kirchen geführt hatte, war dieser Prozess kein „Selbstläufer“. Er musste inszeniert und organisiert werden. Das geschah insbesondere durch Akademietagungen und vergleichbare Veranstaltungen zu den verschiedenen Kulturbereichen – von Literatur und Film bis zu Städtebau und bildender Kunst. Dabei fiel auf, dass die Hochkultur weit mehr Aufmerksamkeit auf sich zog als die Welt des Trivialen – obwohl diese doch weit intensiver auf die Alltagskultur der meisten Menschen einwirkt und von daher auch die kulturelle Sprache spricht, in der die Menschen im gegebenen Fall auch den Glauben verstehen – oder eben auch nicht.

Diese Verengung auf die Hochkultur aufzubrechen, war eines der wichtigen Ziele, die mit der Denkschrift verfolgt wurden, in welche dieser Konsultationsprozess mündete. „Räume der Begegnung. Religion und Kultur in evangelischer Perspektive“ heißt der Titel dieser EKD-Denkschrift, die 2002 veröffentlicht wurde. Sie enthält den Entwurf einer kulturtheologischen Ortsbestimmung von evangelischer Kirche unter den Bedingungen der Gegenwart. Sie nimmt ernst, dass die öffentliche Präsenz von Kirche sich in hohem Maß kulturell vermittelt. Sie lädt dazu ein, in der Wahrnehmung solcher Vermittlungsprozesse von der Kunst des Unterscheidens Gebrauch zu machen, die man als eine Grundtugend protestantischer Reflexion gerade heute fruchtbar machen sollte. 

Es kann nicht der Sinn der folgenden Überlegungen sein, den Argumentationsgang der jetzt im Überblick dargestellten neueren Texte der EKD zum Themenfeld von Bildung und Kultur im einzelnen zu entfalten. Ich will mich vielmehr darauf konzentrieren, eine Grundperspektive zur evangelischen Wahrnehmung von Bildung und Kultur zu entwickeln. Dabei will ich zunächst als Rahmen meiner Überlegungen den Begriff des kulturellen Gedächtnisses einführen. Daran anschließend will ich knapp skizzieren, welche Bedeutung das Verhältnis von Christentum und Kultur für die europäische Bildungsgeschichte hat. Dem stelle ich diagnostische Überlegungen zu unserer Gegenwart zur Seite, an die ich Überlegungen zur Erneuerung des Verhältnisses von Christentum und Kultur am Beginn des 21. Jahrhunderts anschließe. Der Kreis schließt sich, indem ich am Schluss noch einmal auf die Frage nach einem evangelischen Begriff der Bildung zurückkomme.

2. Kulturelles Gedächtnis

Bei meinen Überlegungen zum Verhältnis von Christentum, Bildung und Kultur will ich mich von der Einsicht leiten lassen, dass jede Gesellschaft auf ein “kulturelles Gedächtnis” angewiesen ist. (1)  Eine Gesellschaft braucht nicht nur einen gemeinsamen Bestand an Themen, die kurzfristig in aller Munde sind: gestern das letzte Fußballspiel, heute die neusten Entdeckungen der Biowissenschaften.  Sie kann sich auch nicht mit Elementen der Alltagskommunikation begnügen, die von etwas längerer Dauer sind – den Gesprächen darüber beispielsweise, was die neuesten Ergebnisse der Jugendforschung sagen oder warum plötzlich Elite-Universitäten gefordert werden. Eine Gesellschaft braucht neben solchen Erinnerungselementen von großer Alltagsnähe auch ein kollektives Gedächtnis für alltagstranszendente Inhalte. Dazu gehören außerordentliche Ereignisse der Vergangenheit, große Erzeugnisse der Kunst, aber auch religiöse Überlieferungen und prägende Riten. Keine Gesellschaft kommt ohne solche Erinnerungsfigurationen aus. Denn an ihnen bildet sich die Identität einer Gesellschaft wie die Identität der einzelnen. Grundelemente des kulturellen Gedächtnisses sind ein wichtiges Potential der Erneuerung, der Selbstkritik oder der Reform. Ja, auch noch der Umsturz speist seine Legitimität aus der Anknüpfung an Bestände des kulturellen Gedächtnisses.

Mit dem “kulturellen Gedächtnis” bewahrt eine Gemeinschaft nicht nur ein gemeinsames Bild der Vergangenheit auf. Sondern im kulturellen Gedächtnis sind zugleich die Potentiale zur Deutung der Gegenwart wie zum Entwurf der Zukunft enthalten. Eine Verständigung über die Wahrnehmung der eigenen Zeit gelingt ohne Grundbestände eines kulturellen Gedächtnisses ebenso wenig wie eine Vision der Zukunft. Natürlich ist das kulturelle Gedächtnis auf beständige Erneuerung angewiesen. Über die Deutung der großen Ereignisse, die Interpretation der Klassiker, das Verständnis der religiösen Tradition, die Gestalt der prägenden Riten muss immer wieder gestritten werden. Doch zumeist geschieht das in einer Form, in welcher der Rahmen und der Inhalt des kulturellen Gedächtnisses als solcher nicht in Frage gestellt wird. Nur in besonderen Umbruchszeiten entstehen Zweifel am Inhalt und an den Maßstäben des kulturellen Gedächtnisses selbst. Davon muss man schließlich diejenige Situation unterscheiden, in welcher das Bewusstsein dafür verloren geht, dass es überhaupt eines Kanons für das kulturelle Gedächtnis bedarf.

In aller Regel bleibt das kulturelle Gedächtnis so lange relativ unbeachtet, so lange es selbstverständlich eingelebt ist. Es wird zum Thema, wenn es gefährdet, bedroht oder umstritten ist. “Nur deshalb spricht man so viel vom Gedächtnis, weil es keines mehr gibt”, heißt ein viel zitierter Satz von Pierre Nora. (2) So wie die Notwendigkeit des Umweltschutzes erst erkannt wurde, als die Ausbeutung der Ressourcen und die Verwüstung der Umwelt durch Abfälle ein Besorgnis erregendes Maß erreicht hatten, oder so sehr man sich für die Alpengletscher erst interessiert, seit sie sich auf einem beunruhigenden Rückzug befinden, so sorgen wir uns um die Bewahrung des kulturellen Gedächtnisses erst, seit dessen Erosion einen weit fortgeschrittenen Zustand erreicht hat. So wie man sich um ökologische Nachhaltigkeit erst bemüht, seit sie durch die Auswirkungen menschlichen Handelns massiv gefährdet ist, so tritt auch die Notwendigkeit einer kulturellen Nachhaltigkeit erst in den Blick, wenn die Bestände des kulturellen Gedächtnisses einer massiven Erosion ausgesetzt sind. Erst relativ spät werden wir sensibel für die Gefahren einer kulturellen Umweltzerstörung. Erst allmählich erkennen wir, dass Menschen nicht nur auf natürliche Umweltbedingungen angewiesen sind, sondern dass sie auch kulturelle Räume brauchen, um sich entfalten und eine eigene Identität entwickeln zu können.

Die Regeln der Informationsgesellschaft  stehen zu dieser Aufgabe in großer Spannung. Denn die Informationsgesellschaft konzentriert die Aufmerksamkeit auf das Hier und Jetzt. Sie rückt das Erleben in den Vordergrund; Erinnerung und Erwartung treten dagegen zurück. Gewiss bilden sich Gegenbewegungen, vor allem in der Gestalt von Erinnerungspolitik. Gedenkausstellungen und Geschichtsmuseen, Denk- und Mahnmale, die Pflege alter und die Schaffung neuer Erinnerungstage bieten dafür Beispiele. Ihre Bauweise wird umso massiver, je schwankender der Boden ist, auf dem sie stehen. Das im Bau befindliche Holocaust-Mahnmal in Berlin führt das jedem vor Augen. Ich trete dafür ein, historische Erinnerungsdaten ernst zu nehmen; wir werden in den nächsten Monaten und Jahren wieder reichlich damit zu tun haben. Ich nenne als Beispiele nur den 31. Mai 2004, den 20. Juli 2004, den 27. Januar 2005, den 8. Mai 2005, den 4. Februar 2006 oder auch – sehr viel weiter geblickt, den 31. Oktober 2017. So wichtig solche Daten sind, bin ich doch besorgt über die Gefahr ihrer Instrumentalisierung und über die Alibifunktion, die ihnen oft zukommt.

Aleida Assmann und Ute Frevert hat diese Art des Umgangs mit solchen Erinnerungsdaten zu der These veranlasst, an die Stelle der Geschichtsvergessenheit sei die Geschichtsversessenheit getreten. (3) Doch solche Entwicklungen stimmen eher skeptisch als frohgemut. Allzu deutlich gehorchen die Maßnahmen der Erinnerungspolitik den Imperativen des Hier und Heute. Trotz des Umschwungs von der Geschichtsvergessenheit zur Geschichtsbesessenheit besteht kein Grund, im Blick auf die Chancen des kulturellen Gedächtnisses Entwarnung zu geben. Gerade in fortgeschrittenen Gesellschaften ist es besonders bedroht. Die Folgen sind weitreichend. Doch das wird unter der Vorherrschaft ökonomischer Denkmuster weithin verdrängt. Wir verspielen in kurzer Zeit Bestände des kulturellen Gedächtnisses, deren Aufbau Jahrhunderte, ja Jahrtausende gedauert hat und für die Äquivalente überhaupt nicht in Sicht sind.

Es ist kein Zufall, dass in den letzten Jahren die Frage nach einem Kanon des kulturellen Gedächtnisses neue Aufmerksamkeit gefunden hat. Im Feld der Politik haben insbesondere Roman Herzog und Wolfgang Thierse diese Diskussion vorangetrieben. Es ist kaum darauf geachtet worden, warum in dieser Debatte der Begriff des Kanons eine Schlüsselbedeutung erlangt hat. Ein kulturelles Gedächtnis kommt ohne die Bestimmung gemeinsamer Bezugsgrößen nicht aus. Aus der Geschichte des Christentums ist diese Erfahrung vertraut. Deshalb kam es zum Kanon der heiligen Schriften. Daher stammt die Rede vom kulturellen „Kanon“; damit ist ja nicht das mehrstimmige Singen der gleichen Melodie gemeint, sondern der feststehende Maßstab, an dem sich bemisst, welche Inhalte sich in ein bestimmtes kulturelles Paradigma einfügen. Grundlegend für den Prozess der Kanonbildung in diesem Sinn ist der Vorgang, in dem festgelegt wurde, welche Schriften zum Alten und zum Neuen Testament gerechnet werden. Natürlich ist dieser Kanon und darüber hinaus auch jeder vergleichbare Kanon in dem Sinn offen, dass auch anderes “nützlich zu lesen” ist, wie Martin Luther über die Apokryphen des Alten Testaments sagte. Es wird nie einen abgeschlossenen Kanon des kulturellen Gedächtnisses geben. Aber über dessen Kernbestand muss man sich wieder und wieder  verständigen. Je mehr sich der gesellschaftliche und damit auch der kulturelle Wandel beschleunigt, je ausgeprägter auch der gesellschaftliche Pluralismus wird, desto wichtiger wird die Verständigung über einen solchen Kernbestand. Das merkt man gegenwärtig an den sich steigernden Debatten über „gemeinsame Werte“, ja ebenso auch an einer neu aufflammenden Diskussion über Manieren. „Soll es in der Schule Benimm-Unterricht geben?“ So hieß unlängst in einem Debattierwettbewerb von Schülerinnen und Schülern, an dem ich als Juror teilnahm, die Diskussionsfrage für Schülerinnen und Schüler der Sekundarstufe I. Die Mehrzahl der Diskutanten war dafür. Solche Fragen kommen deshalb auf, weil die Verständigung über „Verbindlichkeiten“ unter pluralistischen Bedingungen schwieriger und anspruchsvoller wird. Doch Indifferenz ist die falsche Antwort auf pluralistische Bedingungen. Die richtige Antwort besteht darin, den gemeinsamen Kanon zu definieren, der nötig ist, damit Pluralität lebbar bleibt. Und zu den unausweichlichen Aufgaben der Kirche gehört es, dazu ihren Beitrag zu leisten. Die Frage nach dem gemeinsam Verbindlichen in der Pluralität ist ein Gesichtspunkt, der für viele aktuelle Debatten lehrreich sein könnte; ich nenne den Kopftuchstreit als aktuelles Beispiel. Doch mir geht es nicht nur um solche aktuellen Debatten. Ich will vielmehr deutlich machen, dass die kulturelle Bedeutung des Christentums in einer Zeit des gesellschaftlichen Pluralismus nicht an Relevanz verloren hat. Es geht vielmehr darum, sie unter den Bedingungen gesellschaftlicher Pluralität neu zur Geltung zu bringen.

3. Christentum und Kultur in der europäischen Bildungsgeschichte

Zum kulturellen Gedächtnis gehört die Vergegenwärtigung von Vergangenem. Im Blick auf unser Thema ist die Einsicht entscheidend: Das Christentum gibt es niemals unabhängig von der Kultur. Beide sind vielmehr von Beginn an miteinander verwoben.

Von seinen Anfängen an gibt es das Christentum nicht anders als in lebhafter Auseinandersetzung mit der Kultur. Die Entfaltung des christlichen Glaubens wäre nicht denkbar gewesen, wenn sich nicht die Glaubensbotschaft der christlichen Bibel mit der Kultur der griechisch-römischen Antike verbunden hätte. Man hat dieses Miteinander von biblischer Botschaft und antiker Kultur die “Doppelhelix” der christlichen Tradition genannt. Angelehnt ist diese Bezeichnung  an Cricks und Watsons berühmte Metapher zur Beschreibung der DNA-Struktur. (4) So wie die Erbinformationen eines Organismus nicht in einer einfachen Kette, sondern in einer Doppelhelix gespeichert sind, so ist auch der christliche Glaube nicht einfach in einer Kette von Glaubensaussagen, sondern in der Doppelhelix von Christentum und Kultur wirkungskräftig geworden.

Ohne diese Verbindung könnte man nicht erklären, wie sich das kulturelle Gedächtnis Europas entwickelt hat. Denn christliche Bibel und antike Kultur zusammen bilden “das Rückgrat des kulturellen Gedächtnisses der christlichen Welt des Mittelalters”. (5) 

Schon in der Zeit der Kirchenväter symbolisiert das Nebeneinander der beiden Städte Athen und Jerusalem die Verbundenheit von Kultur und christlichem Glauben. (6) Man könnte auch die drei Namen Athen, Rom und Jerusalem nebeneinander stellen. Der Name Athens steht dabei für die griechische Kultur, insbesondere für die von den Griechen inaugurierte Philosophie; dabei ist zu bedenken, dass diese weithin in ihrer römischen Verwandlung, in ihrer lateinischen Gestalt den Weg des Christentums bestimmt. Man hat deshalb bei der Beschreibung des kulturellen Paradigmas, das Europa prägt, auch oft Rom neben Athen gestellt und dabei auch im Sinn gehabt, dass Rom für die geformte politische Herrschaft, für die Idee einer Einheit durch das Recht steht. Jerusalem aber steht nicht einfach für die Stadt des zerstörten zweiten Tempels, für die Stadt der Juden, in denen Jesu Leben am Kreuz ein Ende gefunden und mit seiner Auferweckung das Christusbekenntnis seinen Anfang genommen hatte. Jerusalem – das neue, himmlische Jerusalem, von dem die Offenbarung des Johannes und der Hebräerbrief sprechen (7) – steht für die Verheißung des Glaubens, der die Christen als ein wanderndes Gottesvolk entgegengehen.

Freilich war das Verhältnis zwischen Religion und Kultur im Lauf der christlichen Geschichte einem tief gehenden Wandel unterworfen. Der Siegeszug, mit dem das Christentum im vierten Jahrhundert dank der konstantinischen Wende zur Religion des römischen Reiches wurde, veränderte das Verhältnis von Religion und Kultur. Natürlich hatte die neue Verhältnisbestimmung von Religion und Kultur, die sich damit vollzog, tief greifende Rückwirkungen auf den christlichen Glauben. Die Religion wurde selbst zur kulturellen Leitidee; die entscheidenden Erinnerungsfigurationen der Kultur kristallisierten sich um religiöse Themen, vor allem um die großen biblischen Themen des Alten und Neuen Testaments. Die bildende Kunst des Mittelalters, um nur dies eine Beispiel zu nennen, ist aus diesem Grund in ihrem Kernbestand religiöse, nämlich christliche Kunst. Das zeigt sich nicht nur bei jedem Besuch in einer mittelalterlichen Kirche in einer überwältigenden Weise. Auch ein Weg durch die entsprechenden Abteilungen jeder Gemäldegalerie überzeugt einen davon schnell. Wie tief diese Prägung Europas geht, kann man sich klar machen, wenn man sich auf das Gedankenexperiment einlässt, man würde die christlichen Spuren in unserer Gegenwartskultur konsequent tilgen. Man fände dann weder Kirchen noch Klöster in Städten und Dörfern vor; die Wegkreuze wären getilgt und die Bilder christlichen Inhalts entfernt. Aus der Geschichte der Musik wären die Stücke christlichen Inhalts getilgt. Der Geist christlicher Nächstenliebe, wie er sich an die von Jesus geschilderte Person des barmherzigen Samariters anschloss, wäre verbannt. Die Siebentagewoche, diese großartige Errungenschaft des dritten Gebots – du sollst den Sabbattag heiligen -, wäre mit Erfolg ersetzt durch eine Woche, die sich nach dem Dezimalsystem rechnet.

Diese fiktive Überlegung kann natürlich auf der anderen Seite nicht davon ablenken, dass die Verbindung von Christentum und Kultur auch erhebliche Schattenseiten hatte. Sie hängen damit zusammen, dass der christlichen Religion mit der konstantinischen Wende ein Herrschaftsstatus zuwuchs. Ihr Sozialkörper, die Kirche, wurde zur Trägerin eigenständiger, auch politischer Macht. Die Ketzerverfolgungen und Konfessionskriege, in die sich Europa während des Mittelalters und in der frühen Neuzeit verlor, erklären sich in erheblichem Umfang aus diesem Herrschaftsstatus der Religion.

Die gewaltsame, ja in gewisser Weise selbstzerstörerische Tendenz, die mit der Herrschaftsstellung der Religion verbunden war, rief zu Recht Gegenbewegungen hervor. Die Reformation war unter ihnen die wichtigste. Sie begründete den Glauben nicht mehr aus einer Herrschaftsstellung der Kirche, sondern stellte ihr das vierfache “Allein” entgegen: allein Christus, allein durch Gnade, allein im Glauben, allein die Schrift. Sie deutete deshalb auch die Freiheit des Glaubens als eine Grenze für jeden politischen Machtanspruch, aber ebenso  auch als eine Grenze für alle kirchlichen Zwangsmaßnahmen. Die weltliche Obrigkeit fand ihre Grenze, wie Luther schon einschärfte, an der Freiheit des Gewissens; aber auch für die Kirche galt, dass sie ihrem Wahrheitsanspruch nur durch das Wort, nicht aber durch Zwang Resonanz verschaffen durfte (sine vi sed verbo). 

Mit dieser neuen Betonung der Freiheit des Glaubens verband sich eine neue Einsicht in die Weltlichkeit der Welt. Die Säkularität der Welt und ihrer Erkenntnis setzte sich schrittweise, zum Teil gegen erhebliche Widerstände durch. Damit vollzog sich der Übergang zum neuzeitlichen Verständnis wissenschaftlicher Welterkenntnis. Der Protestantismus beharrt darauf, dass diese Welterkenntnis nicht etwa eine Abwendung vom Glauben, sondern ein Ausdruck des christlichen Glaubens selbst ist. Diese Bejahung der Weltlichkeit der Welt und ihrer wissenschaftlichen Entschlüsselung hat für das Verhältnis von Protestantismus und Kultur eine zentrale, kaum zu überschätzende Bedeutung. Evangelische Theologie hat deshalb zum wissenschaftlichen Umgang mit der Welt und zum Fortschritt in den Wissenschaften ein grundsätzlich positives Verhältnis. Das schließt die Kritik bestimmter Entwicklungen nicht aus, sondern ein, wie man am Beispiel der aktuellen bioethischen Debatten verdeutlichen kann.

Doch so sehr die Theologie diese Entwicklungen konstruktiv zu begründen und zu begleiten vermag, so sehr sieht sie sich von ihnen faktisch doch in Frage gestellt. In der Neuzeit verliert der lange Zeit erhobene Monopolanspruch theologischer Deutungen seine Berechtigung. Damit geht die institutionelle Dominanz der Kirche im Bereich von Bildung und Wissenschaft verloren. Ebenso wie die Künste emanzipieren sich auch Wissenschaft und Bildung vom kirchlichen Vorrang. Auch darin manifestiert sich die Forderung nach einer Autonomie der Kultur.

4. Ein Blick auf die Gegenwart

Immer wieder wurde der Versuch unternommen, die kulturelle Relevanz des christlichen Glaubens neu zu bestimmen und umgekehrt neue kulturelle und künstlerische Entwicklungen für die Deutung des christlichen Glaubens fruchtbar zu machen. Religion wird als Teil der Kultur wahrgenommen; aber sie ist zugleich mehr als Kultur. Sie prägt Kultur; aber sie muss zu diesem Zweck auch kulturelle Entwicklungen wahrnehmen und verarbeiten. Sie braucht kulturelle Ausdrucksformen; aber sie muss zugleich die Autonomie der Kunst achten. Religion thematisiert ein bestimmtes Gottesverhältnis; aber sie muss sich zugleich damit auseinandersetzen, dass es Kultur nur im Plural gibt. So lässt sich das Spannungsverhältnis beschreiben, in dem wir das Verhältnis zwischen Religion und Kultur in evangelischer Perspektive sehen. In diese Spannungen haben wir die provozierende These hineingestellt, der Christenheit sei mit Glaube, Liebe und Hoffnung ein „Weltkulturerbe“ anvertraut, mit dem sie wuchern müsse, das sie den Zeitgenossen nicht vorenthalten könne.

Das gilt, obwohl der Säkularisierungsprozess gerade in Mitteleuropa weit vorangeschritten ist; aber auch Gegenbewegungen sind deutlich erkennbar. Die klassischen Großkirchen der westlichen Industrienationen durchlaufen eine Krise ihrer gesellschaftlichen Relevanz wie ihrer institutionellen Gestalt. Die Minorisierung, die sie unter der Herrschaft des Staatssozialismus in mittel- und osteuropäischen Ländern erlebt haben, greift nach dem Ende der europäischen Spaltung atmosphärisch auch auf den Westen Europas über. Die kulturelle und gesellschaftliche Bedeutung der Kirchen versteht sich nicht mehr von selbst. Sie wird von den einen durch Gleichgültigkeit, von den anderen durch offene, bisweilen auch aggressive Ablehnung in Frage gestellt. Als Beispiel mag die Abrechnung mit dem Christentum gelten, die der Berliner Philosoph Herbert Schnädelbach vor einigen Jahren in der ZEIT veröffentlicht hat. Sieben Todsünden rechnet er dem Christentum vor, die von der Erbsündenlehre bis zur Vorstellung vom Jüngsten Gericht reichen. Im Zentrum der Kritik steht der Missionsauftrag, den Herbert Schnädelbach als Toleranzverbot versteht. (8) Als ob jemand, der von der Wahrheit der eigenen Sache überzeugt ist und andere von dieser Wahrheit überzeugen möchte, es deshalb automatisch an der nötigen Toleranz gegenüber dem anderen fehlen lassen müsse.

Dem Beispiel dieses – im Christentum durchaus kundigen und auch persönlich erfahrenen – Autors steht das Beispiel eines anderen Philosophen gegenüber, der sich selbst als „religiös unmusikalisch“ bezeichnet und sich dennoch zu der Überzeugung durchgerungen hat, dass wir in ein postsäkulares Zeitalter eingetreten sind, dass also nach der Religion neu gefragt werden muss. Viele haben es als befreiend empfunden, dass Jürgen Habermas in einem wichtigen Beitrag zur bioethischen Debatte bemerkt hat, wir seien möglicherweise in eine post-säkulare Epoche eingetreten. Bei genauerer Betrachtung aber sieht man, dass er weit davon entfernt ist, damit den alten Öffentlichkeitsanspruch der Großkirchen wieder zu beleben, an den wir uns in der alten Bundesrepublik gewöhnt hatten. Vielmehr zeigt sein Vorschlag das Ausmaß der eingetretenen Veränderungen in seiner ganzen Dramatik. Am Beispiel der bioethischen Fragen plädiert Habermas dafür, religiös motivierten Minderheiten das Recht zu einem aufschiebenden Veto einzuräumen. Von einer Kirche, die sich als öffentliche Hoheitsmacht versteht und einen dem Staat gleichberechtigten Öffentlichkeitsanspruch vertritt, zu dieser religiös motivierten Minderheit, deren ethische Bedenken als befristetes Veto gewürdigt werden, ist es ein riesiger Schritt. Sicherlich handelt es sich dabei um eine Übertreibung, wie ja auch die Vorstellung von der Kirche als einer dem Staat koordinierten Hoheitsmacht eine Übertreibung war oder – wo sie noch vertreten wird – eine Übertreibung ist. Sich die Kirche jedoch als eine religiös motivierte kognitive Minderheit vorzustellen, kommt nur demjenigen in den Sinn, der sie ausschließlich unter Gesichtspunkten ihrer politisch-ethischen Effektivität anschaut. Er betrachtet sie also ausschließlich im Blick auf das, was sie bewirkt, gar nicht im Blick auf die Wahrheit, die sie – insbesondere im Gottesdienst - darstellt. Doch dazu hat vermutlich die Kirche selbst das Ihre beigetragen. Die Erneuerung des Verhältnisses von Christentum und Kultur muss deshalb im Zentrum ansetzen, bei der Frage nach der Wahrheit, die die Kirche bezeugt und bekennt.

5. Erneuerung des Verhältnisses von Christentum und Kultur

Die Präsenz des Christlichen im öffentlichen Raum, seine Bedeutung für unser kulturelles Selbstverständnis, sein möglicher Beitrag zur Ausbildung einer gegenwartsbezogenen Ichidentität verstehen sich nicht mehr von selbst. Traditionelle Selbstverständlichkeiten und Selbstverständnisse haben sich aufgelöst. Die christlichen Prägungen unserer Kultur werden allenfalls noch in ihrem ethischen Gehalt geahnt. “Irgendwie”, so heißt die Auskunft, sei unser aller Ethik christlich geprägt, wir mögen der Kirche angehören oder nicht. Die darüber hinausreichenden christlichen Prägungen unserer Kultur sind dagegen auch für viele Gebildete zu einer terra incognita geworden. Die Ikonographie der europäischen Kunst, die ohne Kenntnis ihrer christlichen Stoffe schlechthin unverständlich ist, die biblischen Anspielungen in der Literatur - bis hin zu Bertolt Brecht - , die Geschichte der europäischen Musik, die gerade auf ihren Höhepunkten geistlichen Charakter trug: all das ist für viele unserer Zeitgenossen in eine fremde Welt entrückt. Unbekannt ist auch, auf welche Weise die Spielregeln unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens an die christliche Herkunft unserer Kultur gebunden sind. Damit scheinen aber auch die Quellen ihrer Erneuerung für viele Menschen verschüttet zu sein. Weithin verschüttet ist für viele auch der Zusammenhang zwischen der politischen Kultur der westlichen Demokratie, in die auch Deutschland im gerade vergangenen Jahrhundert hineingefunden hat, mit dem Christentum; am Konzept der gleichen, unantastbaren Würde jeder menschlichen Person ließe sich dieser Zusammenhang besonders deutlich zeigen. Aber diese politische Kultur wird in aller Regel nur in ihrer säkularen Gestalt, in ihrer für die verschiedenen Überzeugungen in gleicher Weise offenen Form wahrgenommen. Ihre Herkunft gerät in Vergessenheit.

Die These von einer nachlassenden Verbindung zwischen Christentum und Kultur in der Gegenwart bedarf von zwei Seiten her einer Korrektur: Zum einen ist deutlich, dass die Besonderheiten der west- und mitteleuropäischen Entwicklung nicht verallgemeinert werden dürfen. In vielen Regionen der Erde erleben wir einen Trend zur Religion; Trendforscher sagen voraus, dass dieser “Megatrend Religion” über kurz oder lang auch Mittel- und Westeuropa erreichen wird. Zum andern tritt das Phänomen der Religion überall dort auf den Plan, wo nach den Maßstäben zur Deutung und Beherrschung der gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklung gefragt wird. Auch von denen wird dann nach der Religion und den von ihr vermittelten “Werten” gefragt, die für sich selbst von einer bestimmten religiösen Bindung Abschied genommen haben oder Abstand halten. Gerade in der pluralistischen Gesellschaft wird die Frage nach verbindlichen und verbindenden “Werten” laut.

Es ist kein Zufall, dass der Begriff des „Werts“ dabei eine so große Rolle spielt. Denn er entspricht einem Zeitgeist, der von der Vorherrschaft der Ökonomie geprägt ist. Die Ökonomie ist zum Kristallisationspunkt öffentlicher Auseinandersetzungen geworden. Im Verhältnis zwischen den Lebensbereichen Wirtschaft, Politik und Kultur kommt der Wirtschaft die Leitfunktion zu. Aber gerade dadurch wird auch wieder neu nach der Rolle von Politik und Kultur gefragt. Der Glaube, der in den letzten Jahrzehnten bei vielen nur noch als eine Deutungsperspektive weltlicher Erfahrungen war, wird wieder in seinem transzendenten Bezug zum Thema. Die Kirche, die in den letzten Jahrzehnten für viele nur noch als politische Akteurin und sozialethische Mahnerin erkennbar war, wird wieder als Raum für die Begegnung mit dem Heiligen wahrgenommen. Auf die Frage, was die wichtigste Aufgabe der Kirche sei, wurde lange Zeit geantwortet: der diakonische Einsatz für Alte und Kranke sowie das Eintreten für die Schwachen in der Gesellschaft. Auch wenn diese Antwort ihre Bedeutung behält, sagen inzwischen doch viele, die wichtigste Aufgabe der Kirche sei die Eröffnung eines Raums für die Begegnung mit dem Heiligen, die Botschaft von Gottes Zuwendung zu seiner Welt, die Sorge für die Seelen. Die religiöse Tiefenschicht des menschlichen Lebens wird wieder entdeckt. Und von der Kirche wird erwartet, dass sie bei der Auseinandersetzung mit dieser Tiefenschicht klare Orientierung gibt.

Eine Erneuerung des Verhältnisses von Christentum und Kultur fängt nicht mit neuen Dialogen zwischen Repräsentanten des Christentums und Repräsentanten der Kultur an. Vor allen derartigen Dialogen, so sinnvoll sie sein mögen, muss der christliche Glaube selbst in seiner spirituellen Kraft und in seinem unaufgebbaren Glaubenswissen wieder wahrgenommen und artikuliert werden. Es geht nicht darum, die Plausibilität des christlichen Glaubens durch sekundäre Stützungsaktionen deutlich zu machen und dabei neben der Bedeutung der Diakonie auch das Gewicht des Christentums für unser kulturelles Selbstverständnis deutlich zu machen. Sondern es geht darum, der systematischen Entleerung des Glaubens entgegenzuwirken und die Bedeutung des Glaubens für Erfahrung und Wissen wieder neu zu explizieren. Die Kirche, so sagt der Heidelberger Theologe Michael Welker in diesem Zusammenhang, “muss erkennen lassen: Das Glaubenswissen ist interessant und spannend, es ist überraschend und erhellend zugleich. ... Dieses Wissen ist für die Lebensqualität des einzelnen und für die Qualität menschlichen Zusammenlebens unverzichtbar. Viele Themen, die wir ohne religiöse Sprache und religiöse Erkenntnis verdrängen müssen, könnten wieder zur Sprache gebracht werden: Die interessanten Spannungen zwischen Natur und Kultur, die fruchtbaren Spannungen zwischen der Gottebenbildlichkeit des Menschen und dem Auftrag an ihn, über die Natur zu herrschen, die Spannungen zwischen Recht und Barmherzigkeit, die Konflikte zwischen Gewissheit und Wahrheit, die Grenzen unserer Moral und das Phänomen der Sünde, die tragischen Verstrickungen des Lebens, die Frage von Schuld, die Probleme von Opfer und Sühne, die Annahme der Endlichkeit unseres Lebens. .... Gottesdienste mit Stil und mit Spannung wären möglich, wenn das Inhaltliche wieder stimmen würde.” (9)

Glaube in diesem Sinn ist nicht nur eine Deutung von Erfahrungen mit der Wirklichkeit dieser Welt, sondern eine Erfahrung eigener Art. Aber diese Erfahrung ist auf eine kulturelle Ausdrucksform angelegt und angewiesen. Neben dem neuen Bemühen um die Inhalte des Glaubens ist die Gestaltung von Spiritualität in persönlicher wie in gemeinschaftlicher Form die wichtigste Art und Weise, in der die Kultur des Glaubens gestaltet und weiterentwickelt wird.

Heute erkennen wir wieder deutlicher: Der Glaube ist in seiner Entstehung und in seiner Vergewisserung zuallererst auf Erfahrungen angewiesen werden, in denen Menschen ihre Beziehung zu Gott wie ihre wechselseitige Beziehung in der Gemeinschaft der Glaubenden zum Ausdruck bringen. Neue Aufmerksamkeit für diese Darstellungsformen des Glaubens entsteht nur, wenn die Kirchen sich auf ihre eigene Botschaft besinnen und sie wirksam unter die Menschen bringen: die unvertretbare und lebenswichtige Botschaft von Gottes Gnade, den Einspruch gegen die Selbstverliebtheit des Menschen, der aus der befreienden Wirklichkeit der Liebe Gottes kommt, die Erneuerung des Verhältnisses zur Welt durch die Verheißung der Zukunft Gottes.

Gestalt gewinnt diese Botschaft nur, indem sie das Gewand der Kultur anlegt. Glaubensäußerungen tragen immer eine kulturelle Gestalt. Sie sind in sich selbst symbolische Deutungen der jeweiligen Lebenswirklichkeit. Es ist kein Zufall, sondern Ausdruck einer inneren Notwendigkeit, wenn an dieser kulturellen Gestalt ausdrücklich gearbeitet wird - sei es an der sprachlichen Gestalt von Predigten und Gebeten, an der poetischen und musikalischen Gestalt von Liedern, Kantaten oder Messen oder an der künstlerischen Gestalt von Kirchengebäuden, Plastiken und Bildern. Es gibt keine gesellschaftliche Präsenz des christlichen Glaubens an der Frage nach seiner kulturellen Vergegenwärtigung vorbei. Der katholische Theologe Johann Baptist Metz hat das einmal so ausgedrückt: “Man kann das Christentum nicht kulturell entblättern, ohne seine Identität preiszugeben. ... Kulturen sind nicht der Rost, den man vom Eisen des Christentums klopfen kann, um es als blankes dann zurückzubehalten. Ein kulturell entblößtes, ein kulturell nacktes Christentum ist nicht möglich. ‚Jesus war kein Christ, sondern Jude.‘ Wer nur das Christentum kennt, kennt das Christentum eben nicht.” (10)

Eine neue Anstrengung im Blick auf die kulturelle Gestalt des Christentums ist deshalb heute angezeigt. Niemals war der christliche Glaube exklusiv an eine einzige kulturelle Gestalt gebunden. Niemals war er eingesperrt in die kulturellen Ausdrucksformen, die ihm von seiner Vergangenheit her mitgegeben waren. Gewiss ist das kulturelle Erbe wichtig, das uns in den Kirchen und durch die Kirchen anvertraut ist. Ich denke exemplarisch an die unzähligen Kirchengebäude in Stadt und Land und die gewaltige Aufgabe, sie als Kulturdenkmäler zu bewahren und sie zugleich mit neuem geistlichem Leben zu erfüllen. Diese Aufgabe ist im Bereich der neuen Bundesländer unserer Generation deshalb in besonderem Maß aufgegeben, weil dort die meisten Kirchengebäude nicht nur vier, sondern mehr als sechs Jahrzehnte lang der ideologischen Feindseligkeit und damit auch dem baulichen Verfall preisgegeben waren. Doch Wiederherstellung kann sich gerade in diesem Fall niemals in bloßer Restauration erschöpfen. Deshalb müssen wir uns gleichzeitig um einen lebendigen Dialog mit der Kultur der eigenen Gegenwart bemühen. Wenn ganz bewusst auch der Dialog mit der Musik unserer Zeit gesucht oder das Kirchengebäude für die Präsentation zeitgenössischer Malerei genutzt wird, wenn Gottesdienstformen entwickelt werden, in denen moderne Popmusik ihren Ort hat, dann sind das unterschiedliche Beispiele für die Suche nach zeitgenössischen und zeitgemäßen kulturellen Ausdrucksformen des Glaubens.

6. Bildungsaufgaben der Kirche

Ganz besondere Aufmerksamkeit zieht in diesem Zusammenhang der Bereich der Bildung auf sich. Auch hier beobachten wir die gegensätzlichen Einschätzungen der Kulturbedeutung von Religion und Christentum. Die einen können sich kaum noch vorstellen, dass dies ein wichtiger, gar notwendiger Bildungsinhalt ist. Die anderen reduzieren Religion auf einen Beitrag zur Werteerziehung. Die dritten suchen nach einer neuen, angemessenen Form, unter den Bedingungen der Pluralität Religion so zum Gegenstand schulischer Bildung zu machen, dass dabei auch die Religionsfreiheit in überzeugender Weise geachtet ist. Ich will die Diskussion der letzten zehn Jahre über dieses Thema hier nicht Revue passieren lassen. Eine Form, Religion in den Bildungskanon der Schule in einer Weise einzufügen, die der pluralen Wirklichkeit in Deutschland gerecht wird, gibt es leider immer noch nur in Ansätzen. Eine solche überzeugende Form liegt nicht in einem staatlichen Einheitsfach, das schwerpunktmäßig der Wertevermittlung dient und anhangsweise religionskundliche Anteile enthält, wie es gegenwärtig in Brandenburg als LER wird. Weit überzeugender wäre es, wenn eine Fächergruppe mit mehreren gleichberechtigten Fächern im Bereich von Religion und Ethik eingerichtet würde, die durch gemeinsame Projektphasen miteinander verbunden werden. Dadurch würde die Voraussetzung dafür geschaffen, dem christlichen Religionsunterricht einen ebenso klaren Ort zu geben wie einem islamischen Religionsunterricht, der in deutscher Sprache, mit grundrechtsverträglichen Inhalten von angemessen ausgebildeten Lehrkräften nach den Grundsätzen einer dafür geeigneten islamischen Religionsgemeinschaft erteilt wird. Selbstverständlich müsste zu einer solchen Fächergruppe auch ein staatlich verantwortetes Fach im Bereich Ethik/Philosophie gehören. Entscheidend wäre die Gleichrangigkeit und Gleichwertigkeit der Fächer. Ein weiterführendes Modell aber entstünde dadurch, dass diese Fächer nicht unverbunden nebeneinander stehen, sondern durch gemeinsame Themen und Arbeitsphasen miteinander verbunden wären. So entstände ein Lernfeld für einen Pluralismus, der nicht mit Beliebigkeit verwechselbar ist.

Aber im Blick auf Bildung wird unsere Kirche nach mehr gefragt als nur nach einer zeitgemäßen Konzeption zur Weiterentwicklung des Religionsunterrichts. Gefragt wird sie nach einer Konzeption von Bildung selbst. Das Bündnis von Glauben und Bildung, das für den Protestantismus charakteristisch ist, muss sich heute in der Arbeit an einer evangelischen Bildungskonzeption zu bewähren. Die Texte, in denen das in jüngster Vergangenheit versucht wurde, habe ich einleitend erwähnt. Jetzt will ich knapp skizzieren, worum es geht. Es geht um ein Konzept von Bildung, das sich an dem christlichen Bild des Menschen orientiert ist, das jeden Menschen als Geschöpf Gottes, als Gott entsprechenden Menschen, als Ebenbild Gottes ansieht. Es geht davon aus, dass jeder Mensch kraft dieser Berufung dazu bestimmt, selbst Subjekt seiner Lebensgeschichte und damit auch seines Bildungsprozesses zu sein. Daraus ergibt sich eine Reihe von Kriterien eines evangelischen Bildungsverständnisses. Es ist ganzheitlich bestimmt; es ist durch eine Lebenslauforientierung geprägt; es orientiert sich am Recht auf gleichen Zugang zu Bildung; es zielt auf eine gottoffene Humanität.

Bildung ist ganzheitlich bestimmt. Diese Aussage muss vor allem in zwei Hinsichten konkretisiert werden. Zum einen geht es darum, Erziehung und Bildung im Zusammenhang zu sehen. Zum andern geht es darum, für eine neue Balance zwischen Verfügungswissen und Orientierungswissen zu arbeiten.

Zum einen wird der Zusammenhang zwischen Erziehung und Bildung in der gegenwärtigen Bildungsdebatte meist vollständig vernachlässigt. Erziehung, die sich ja wesentlich in den stärker informellen Bereichen der Familie oder der peer-groups abspielt, ist vielmehr weithin durch Bildung abgelöst worden, für die man die Institutionen von Staat und Gesellschaft für verantwortlich ansieht. Und diese Bildung wird zum andern überwiegend als formale Bildung angesehen, die diejenigen Fähigkeiten und Fertigkeiten vermittelt, die Heranwachsende brauchen, um für die Informationsgesellschaft fit zu sein. Die Ökonomisierung unserer Gesellschaft und unseres Denkens zeigt sich kaum in einem Bereich stärker als in dieser Dominanz formaler, technischer, instrumenteller Bildungsziele. Daran hat sich nach meiner Wahrnehmung durch die PISA-Debatte oder jetzt die IGLU-Debatte nichts geändert. Vielmehr reagierte man auf das beunruhigende Abschneiden Deutschlands oder einzelner deutscher Bundesländer vorwiegend mit der Frage, welche Fertigkeiten stärker entwickelt werden müssen, die dann durch entsprechende Tests auch überprüft werden können, um so eine Steigerung des Bildungsniveaus unter Beweis zu stellen.

Ich bin davon überzeugt, dass von Bildung nur dann die Rede sein kann, wenn damit nicht nur Verfügungswissen, sondern auch Orientierungswissen gemeint ist. Ich glaube, dass wir die Ganzheitlichkeit von Bildung nicht nur darin sehen sollten, dass wir die Balance zwischen Körper, Seele und Geist im Blick haben. Sie ist vielmehr auch darin zu sehen, dass wir im Blick auf den menschlichen Geist nicht nur diejenigen Bildungsinhalte im Blick haben, die jemand braucht, um für die Informationsgesellschaft fit zu sein. Vielmehr sind mit dem gleichen Gewicht diejenigen Bildungsinhalte zur Sprache bringen, die jemand braucht, um sich in seiner Welt orientieren und ethisch verantwortlich handeln zu können. In einer Schule, die dieser Vorstellung gerecht würde, wäre Ethik so wichtig ist wie Englisch, Religion so wichtig wie Mathematik, Geschichte so wichtig wie Informatik.

Wir erleben gegenwärtig eine äußerst paradoxe Entwicklung. Auf der einen Seite verstärkt sich die Tendenz, Bildungsprozesse auf verwertbares Wissen oder anwendbare Fertigkeiten auszurichten. Auf der anderen Seite lässt sich beobachten, dass immer neue Versuche unternommen werden, die dadurch entstehende Einseitigkeit zu kompensieren. Auch solche Kompensationsversuche haben ihren Wert. Auf eigentümliche Weise sind insbesondere Sport- und Religionsunterricht dadurch miteinander verbunden, dass sie für solche Kompensationsversuche immer wieder auf je spezifische Weise in Anspruch genommen werden. Vom Sport verlangt man Bewegung, von der Kirche Werte. Aber nötig wäre eigentlich mehr. Nötig wäre, dass das kulturelle Gedächtnis in unserem Konzept von Bildung einen genuinen Platz erhält. Nötig wäre, dass wir den Lebenssphären von Religion und Sport nicht nur einen kompensatorischen, sondern einen genuinen Ort zuerkennen. Nötig wäre also eine Bildungsoffensive, die auf die konstitutive Bedeutung derjenigen Bildungsfaktoren achtet, die sich nicht rechnen.

Der personen- und subjektorientierte Ansatz eines evangelischen Bildungsverständnisses führt sodann dazu, bei der Entwicklung einer evangelischen Bildungskonzeption die unterschiedlichen Lebensphasen und Lebenslagen in den Blick zu fassen. Es geht um eine differenzierte Bestimmung der Lernorte und Bildungsinstitutionen, die im Blick auf den Lebenslauf der einzelnen eine je spezifische Rolle spielen. Der Bildungsweg des einzelnen setzt in der frühen Kindheit an; die Bedeutung der Familie und der ersten Bezugspersonen tritt dabei ebenso in den Blick wie die heute anstehende Aufwertung des Elementarbereichs. Daran schließt sich die Bildung in der Schule, aber auch in der außerschulischen Jugendarbeit an. Jeder weiß, welche im wahrsten Sinn des Wortes schicksalhafte Bedeutung diese Lernorte und Bildungsinstitutionen für den Lebensweg eines Menschen haben können. Die Startchancen in den Beruf, aber auch das Weltwissen eines Menschen werden hier entscheidend geprägt. Aber Bildungsprozesse hören mit der Vorbereitung auf den Beruf nicht auf. Lebensbegleitende Bildung zeigt sich vielmehr in den auf Kindheit und Jugend folgenden Lebensphasen in der beruflichen Weiterbildung, der Erwachsenenbildung, der vielfältig schattierten informellen Persönlichkeitsbildung als ein komplexer, nie abgeschlossener Prozess einer Selbstbildung des ganzen Menschen. In diesen Prozess ist die besondere Bildungsverantwortung unserer Gemeinden und Kirchen hineinzudenken und einzupassen, die sich in Gottesdienst und Gemeindearbeit, in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen, in den Angeboten für Erwachsene, für Frauen und Männer wie für Senioren vollzieht. In kirchlichen Schulen, diakonischen Unternehmen, Hochschulen und anderen Einrichtungen vollzieht sich kirchliche Bildungsarbeit in vielfältiger Form. Manches tritt in ein klareres Licht, wenn man es unter dem Gesichtspunkt der lebenslauf- und lebenslagengemäßen Bildung betrachtet.

Ein evangelisches Bildungsverständnis orientiert sich am Recht auf gleichen Zugang zu Bildung. Dieser Zugang zeigt sich in der Bereitschaft, unterschiedlich lernbefähigte Schülerinnen und Schüler so weit wie möglich in derselben Schule und in derselben Klasse zu unterrichten. In einem solchen integrativen Ansatz liegt auch ein wichtiger Ansatzpunkt sozialen Lernens. Nur in dem Maß, in dem sich das Ziel, für alle Beteiligten Lernanreize und Bildungsmöglichkeiten zu erschließen, nicht halten lässt, sind Differenzierungen in unterschiedliche Schultypen möglich und sinnvoll, die jedoch nicht als Ausgrenzungen verstanden und vor allem praktiziert werden dürfen.

Und schließlich: Bildung zielt auf eine gottoffene Humanität. Evangelisches Bildungsverständnis versteht den Menschen als ein Beziehungswesen. Sein Menschsein verwirklicht sich in den Beziehungen, in denen sich seine Existenz vollzieht: in der Beziehung zu Gott, in der Beziehung zu den Mitmenschen und zur Mitwelt, in der Beziehung zu sich selbst. Gerade um dieser Beziehungen willen darf Bildung nicht auf das äußere Erlernen der Beherrschung von Mitteln beschränkt werden. Zu ihr gehört zugleich die Einübung in diese Beziehungen: eine Erziehung zur Wahrheit und damit zur Offenheit für die Gottesfrage, eine Erziehung zu Gerechtigkeit und Erbarmen und damit zu einer Kultur der Anerkennung im Miteinander der Menschen, eine Bildung für eine offene Zukunft, zu der die Sensibilität für die Bewahrung der Natur und für die Lebenschancen einer nächsten Generation gehört, und schließlich eine Bildung zur Kultur, nämlich zu einer perspektivenreichen Selbstthematisierung, die Ausbildung einer eigenen Identität mit einer respektvollen Wahrnehmung des Fremden verbindet.

Den Dialog zwischen Glauben und Kultur zu erneuern und die Chancen eines evangelischen Bildungsverständnisses beherzt zu ergreifen: das sind zwei konkrete Aufgaben kirchlichen Handelns, die, so scheint es mir, gerade heute an der Zeit sind.

Fussnoten:

(1) Jan Assmann hat diese auf Maurice Halbwachs  und Aby Warburg zurückgehende Überlegung in vielen Variationen vorgetragen. Grundlegend: J. Assmann, Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität, in: J.Assmann / T.Hölscher (Hg.), Kultur und Gedächtnis, Frankfurt a.M. 1988, 9-19. Vgl. insgesamt J.Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1992.

(2) Mit diesem Satz beginnt die Arbeit von Aleida Assmann, Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen  des  kulturellen Gedächtnisses,  München 1999, 11.

(3) A. Assmann / U. Frevert, Geschichtsvergessenheit  - Geschichtsversessenheit. Vom Umgang mit deutschen Vergangenheiten nach 1945, Stuttgart 1999.

(4) Guy G. Stroumsa, Kanon und Kultur. Zwei Studien zur Hermeneutik des antiken Christentums, Berlin / New York 1999, 5.

(5) Ebenda.

(6) Tertullian, Praescr. 7,9 (CChr.SL 1, 193,32f. Refoulé).

(7) Offenbarung 21,2.10; Hebräer 12,22.

(8)  H. Schnädelbach, Der Fluch des Christentums. Die sieben Geburtsfehler einer alt gewordenen Weltreligion. Eine kulturelle Bilanz nach zweitausend Jahren, in: DIE ZEIT, 11.5.2000; vgl. insbesondere die beiden Repliken von R. Schröder, Unkraut unter dem Weizen. Das Christentum und die Geschichte seiner permanenten Selbstkritik – Eine Replik, in: DIE ZEIT, 25.5.2000, sowie R.Spaemann, Die Taube auf dem Dach. Gott ist nicht der Veranstalter des Bösen. Ein Einspruch gegen Schnädelbachs Ökumene der Absurditäten, in: DIE ZEIT, 31.5.2000.

(9) Welker, aaO 70 f.

(10) F.X. Kaufmann / J.B. Metz, Zukunftsfähigkeit. Suchbewegungen im Christentum, Freiburg i. Br. 1987, 128.