Der christliche Glaube und die politische Kultur in Europa

Wolfgang Huber

Haus der EKD in Brüssel

1. Die aktuelle Situation

Die Erweiterung der Europäischen Union am 1. Mai dieses Jahres, die Verfassungsdebatte und die im Dezember anstehende Entscheidung über Beitrittsverhandlungen mit der Türkei stellen die Union in diesem Jahr vor große Umwälzungen und Herausforderungen. Anlässlich der Debatte um einen Gottesbezug bzw. einen Hinweis auf das christliche Erbe in die Präambel des zukünftigen Verfassungsvertrages möchte ich heute auf die tiefer gehende grundsätzliche Frage nach dem Verhältnis von Christentum und politischer Kultur in Europa eingehen. Dieser grundsätzliche Ansatz scheint mir gerechtfertigt, ja notwendig zum gegenwärtigen Zeitpunkt, nur wenige Tage vor dem Europäischen Gipfel, der noch unter irischer Präsidentschaft abschließend über den Verfassungsvertrag verhandeln will und diese Verhandlungen hoffentlich auch zum Abschluss bringen wird.

Mit was für einer Europäischen Union haben wir es heute zu tun?  Seit ihrer Gründung entwickelt sich die europäische Integration im Rahmen einer wirtschaftlich, politisch und rechtlich bestimmten Gemeinschaft. Wir haben es zuletzt bei den Beitrittsverhandlungen für die zehn neuen Mitgliedstaaten der Europäischen Union erlebt: die Entscheidung über einen Beitrittsantrag zur EU hängt davon ab, ob das Kandidatenland politische und wirtschaftliche Kriterien – also die Kopenhagener Kriterien – erfüllt und den gesamten rechtlichen Besitzstand - den acquis communautaire – übernimmt. Neben geographischen sind es wirtschaftliche, politische und rechtliche Kriterien, die den Maßstab für die Aufnahme neuer Staaten in die EU bilden. Das entscheidende rechtliche Band zwischen alten und neuen Mitgliedstaaten ist das positive Recht.

Die EU ist aber nicht nur eine wirtschaftlich, politische und rechtlich geprägte Einheit, sondern hat immer schon ein Bewusstein davon gehabt, dass sie eine Wertegemeinschaft ist. In der Präambel des ersten Integrationsvertrags, des Vertrags über die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl vom 18. April 1951, bekräftigen die vertragschließenden Mitgliedsstaaten ihre Entschlossenheit, „an die Stelle der jahrhundertealten Rivalitäten einen Zusammenschluss ihrer wesentlichen Interessen zu setzen, durch die Errichtung einer wirtschaftlichen Gemeinschaft den ersten Grundstein für eine weitere und vertiefte Gemeinschaft unter den Völkern zu legen, die lange Zeit durch blutige Auseinandersetzungen entzweit waren, und die institutionellen Grundlagen zu schaffen, die einem nunmehr allen gemeinsamen Schicksal die Richtung weisen können“. Der heute geltende Vertrag über die Europäische Union enthält in seinem Artikel 6 ein ausdrückliches Bekenntnis zu den politischen Grundwerten, die für die Verfassungen der Mitgliedsstaaten eine gemeinsame Grundlage bilden: „Die Union beruht auf den Grundsätzen der Freiheit, der Demokratie, der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten sowie der Rechtsstaatlichkeit; diese Grundsätze sind allen Mitgliedsstaaten gemeinsam.“ Der Verfassungsentwurf des Konventes weitet den Wertekatalog in seinem Artikel 2 noch aus, indem er auch die „Gleichheit“ aufnimmt und anfügt, „diese Werte sind allen Mitgliedsstaaten in einer Gesellschaft gemeinsam, die sich durch Pluralismus, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und Nichtdiskriminierung auszeichnet“. Dieser Wertekatalog sowie die Grundrechte-Charta spielen eine zentrale Rolle in der zukünftigen Verfassung; das ist eine gute Basis für die politische Kultur in Europa und für das europäische Volk. Aber kann von einem europäischen Volk schon gesprochen werden?

Die Europäische Union ist jedenfalls eine politische Gemeinschaft. Zwar kann auch von einer wirklich europäischen Öffentlichkeit zur Zeit noch nicht die Rede sein, die Meinungsbildung erfolgt in der Regel nach wie vor national; aber das Europäisches Parlament ist nach demokratischen Spielregeln an der europäischen Restssetzung beteiligt. Der Konvent hat den Elementen der repräsentativen Demokratie nun auch Elemente der partizipatorischen Demokratie hinzugefügt. Der Dialog mit der Zivilgesellschaft und den Kirchen hat jetzt eine verfassungsrechtliche Grundlage. Die politische Kultur der EU entwickelt sich fort. Auch wenn viele weiterhin ein Demokratiedefizit der europäischen Institutionen beklagen, sind doch wichtige Weichen gestellt: Die Union ist als politische Einheit geprägt von grundlegenden demokratischen Prinzipien, u.a. des Pluralismus und der wechselseitigen Unabhängigkeit von Staat und Kirche. Das ist für uns mittlerweile eine solche Selbstverständlichkeit, dass wir gar nicht mehr darüber reden. Aber im Vergleich mit islamischen Staaten werden wir uns dieser Grundlagen wieder bewusst; bei einem Blick zurück auf die kommunistische und faschistische Vergangenheit treten sie uns deutlich vor Augen. Alle Diskussionen und Willensbildungen erfolgen unter Beteiligung plural zusammengesetzter gesellschaftlicher Gruppierungen. Und natürlich ist die Religionszugehörigkeit für die politischen Amtsträger der EU-Organe oder für staatbürgerliche Rechte keine Voraussetzung mehr. Kulturelle und religiöse Vielfalt sind Selbstverständlichkeiten der Union. Die europäische Einheit bedeutet Einheit in Vielfalt.

II. Der christliche Beitrag zu Pluralität und Säkularität in Europa

Kulturelle und religiöse Vielfalt, das Prinzip des Pluralismus, waren aber keineswegs immer selbstverständliche Elemente politischer Kultur in Europa. Sie sind ein christliches Erbe. Das Christentum hat wesentlich zur europäischen Pluralität beigetragen und ist auch weiterhin Garant und Prägekraft für die politische Kultur in der EU. Die christliche Mitgift Europas ist gleichzeitig ein wichtiges Unterpfand für Gegenwart und Zukunft. Die christlichen Prägungen sind wesentliche Grundlagen der politischen Kultur auch der Europäischen Union, ob das den Politikern oder den europäisch Handelnden bewusst ist oder nicht, ob sie es wahrnehmen und negieren, ob sie es zur Geltung bringen aus ihrem  Bewusstsein und der Präambel verbannen wollen.

Neben der wirtschaftlichen Funktion des vereinigten Europa müssen die Grundlagen und Voraussetzungen seiner politischen Kultur verstärkt bewusst gemacht und erneuert werden. Aus der Sicht der Kirchen sollte außerdem noch stärker als bisher deutlich werden, dass  die Europäische Union als gemeinsamer geistig-kultureller Raum zu verstehen ist, der mehr sein will als ein politischer Zusammenschluss mit vornehmlich kommerziellen Absichten. Als kultureller Raum aber ist Europa nicht nur durch das Christentum geprägt: Athen, Rom, Jerusalem lassen sich symbolisch als drei Namen für die Pluralität kultureller Prägungen nennen: für die Offenheit gegenüber den Wissenschaften und Künsten, für die rechtliche Gestaltung politischer Herrschaft, für die jüdische und christliche Religion.
 
Auch wenn wir die Umstände, unter denen manche Teile des Kontinents christianisiert wurden, als problematisch empfinden, können wir doch die Augen nicht davor verschließen, dass es kein europäisches Land gibt, das nicht spätestens vor einem Jahrtausend zum Christentum übergetreten ist. Diese Bindung an das Christentum stellt ganz unausweichlich einen wichtigen Bestandteil der europäischen Identität dar. Das Gesicht Europas ist durch das Christentum mitgeprägt. Der Kontinent ist überzogen von Marksteinen christlicher Präsenz, von Kirchen und Klöstern, Schulen und Hospitälern, Wegkreuzen und Kapellen. Der Rhythmus der Zeit trägt eine christliche Gestalt, von der Siebentagewoche, die mit dem Tag der Auferstehung Christi ihren Anfang nimmt, bis zum liturgischen Kalender, der den Jahreslauf bestimmt. Und vor allem: Das Bild vom Menschen ist von hier aus geprägt: das Bild von der menschlichen Person, die aus dem Gegenüber zu Gott ihre unantastbare Würde empfängt.

Aber der christliche Glaube verband sich von Anfang an mit den unterschiedlichen regionalen Kulturen Europas. Er wurde eingebettet in die Lebenswelten der – lateinischen oder keltischen, germanischen oder slawischen – Völker, die zusammen Europa bildeten. Im Westen entstand ein Mosaik benachbarter, aber getrennter Mikro-Christenheiten, wie Peter Brown das genannt hat.
 
Die Entwicklung der westlichen Christenheit war zugleich über lange Jahrhunderte durch die beständige Spannung zwischen einer sich hierarchisch verfestigenden Kirche und sich dagegen auflehnenden Erneuerungsbewegungen bestimmt. Was Petrus Waldus, Urahn der jetzigen italienischen evangelischen Waldenserkirche, oder Jan Hus bereits versuchten, gewann in der Reformation des 16. Jahrhunderts dann weltgeschichtliche Bedeutung. Dabei hatte es die Reformation des 16. Jahrhunderts auch der politischen Konstellation zu verdanken, dass sie nicht wie die Erneuerungsbewegungen des Mittelalters als Ketzerei niedergeschlagen wurde. Als die “Protestanten” auf dem Reichstag in Speyer vor genau 475 Jahren sich einem Mehrheitsbeschluss der Reichsstände in Fragen des Glaubens widersetzten, fügten sie zur abendländischen Unterscheidung zwischen weltlicher und geistlicher Gewalt einen weiteren Baustein für die Entstehung des modernen Verfassungsstaats hinzu. Sie verlangten die Anerkennung der Gewissensfreiheit  und die Selbstbeschränkung der politischen Autorität in Fragen der Religion. Sie ebneten damit den Weg zur Aufklärung ebenso wie zur Anerkennung von religiöser Pluralität. So wurden am Übergang zur Neuzeit weitere wichtige Grundlagen für den christlichen Beitrag zur europäischen Werteordnung gelegt.
Wenn man das sagt, ist freilich ein kritischer Vorbehalt angebracht. Der christliche Glaube hat mehr zum Inhalt als nur kulturelle Werte. Sein Kern ist die Gottesbeziehung und damit eine „wert-lose“ Wahrheit. Wenn nach dem Beitrag der christlichen Tradition zu den christlichen Werten Europas gefragt wird, so ist immer darauf zu achten, dass sich das Verhältnis zwischen der Wahrheit des Glaubens und den Werten, die sich aus ihr ergeben, nicht umkehrt. Wenn das geschähe, würde der Glaube sich selbst scheinbar überflüssig machen. Aber die Werte, die in seinem Namen vertreten werden, würden auch ihre Grundlage einbüßen. Die moralische Bedeutung des christlichen Glaubens hängt unaufgebbar an seinem transmoralischen Kern.

Um welche Werte handelt es sich dabei? Welche Werte und Normen sind im Blick, wenn in Deutschland beispielsweise das Bundesverfassungsgericht davon spricht, dass auch heute die „überragende Prägekraft“ anzuerkennen sei, die dem christlichen Glauben und den christlichen Kirchen für das politische Zusammenleben zukommt? An der Spitze dieser Werte steht die Würde des Menschen, die darin begründet ist, dass der Mensch von Gott geschaffen und im schöpferischen Wort zur Antwort befähigt und berufen ist. Diese göttliche Anrede gilt jedem Menschen in gleicher Weise; daraus ergibt sich die grundsätzliche Gleichheit in der Rechtstellung jedes einzelnen Menschen. Dass keinem Menschen das Recht vorenthalten werden soll, Rechte zu haben, ergibt sich daraus ebenso wie eine Ausgestaltung der Menschenrechte, in der Freiheit und Gleichheit miteinander verbunden sind. Zwar sind die Menschenrechte historisch weithin zunächst gegen die Kirchen oder in Distanz zu ihnen formuliert und durchgesetzt worden; dennoch verdanken sie sich Impulsen, die unlöslich mit dem christlichen Bild von Menschen zusammenhängen.

Ähnliches lässt sich über den Grundsatz der Toleranz sagen. Im christlichen Verständnis hat er seinen Ursprung in der Vorstellung von der „Toleranz Gottes“. Damit ist gemeint, dass Gott den Menschen, der sich in seiner Gottlosigkeit von ihm abgewandt hat, gleichwohl „erträgt“, ihn also nicht seiner Gottlosigkeit überlässt. Da es niemanden gibt, der von dieser göttlichen Toleranz ausgeschlossen wäre, kennt der christliche Glaube einen genuinen Zugang zur Toleranz, der darin gründet, dass jeder Menschen – unabhängig von seinen subjektiven Voraussetzungen, also auch von den Voraussetzungen seines persönlichen Bekenntnisses – im Wirkungshorizont der göttlichen Liebe existiert. Aber auch im Blick auf diesen Grundsatz der Toleranz gilt, dass er in einer innerchristlichen Konfliktgeschichte gegen eine im Namen der Kirche selbst praktizierte Intoleranz zur Geltung gebracht werden musste. In ihr sind Einzelpersonen und christliche Minoritäten den großen Kirchen voran gegangen. Die Befürworter der Toleranz konnten sich dabei mit gutem Recht vor allem auf die christlichen Reformbewegungen berufen, die Reformation des 16. Jahrhunderts eingeschlossen. Luthers These von der Freiheit des in Gottes Wort gebundenen Gewissens hat sich dadurch in besonderer Weise auf die Entwicklung der neuzeitlichen politischen Kultur ausgewirkt.

Zwar sind Luthers eigene Äußerungen – insbesondere über die Juden, die Papisten oder die Bauern – nicht gerade von Toleranz geprägt; und die Reformation insgesamt hat zu äußerst intoleranten Akten – bis hin zur Verbrennung von Dissidenten – geführt. Aber der Ansatz der Reformation enthält in seiner Konsequenz nicht nur die Möglichkeit, sondern auch die Verpflichtung zur Toleranz. Dies ergibt sich aus der Art und Weise, in welcher schon bei Luther Gewissenbildung und Gewissensfreiheit miteinander verknüpft sind. Dies geschieht nämlich in einer Weise, die jeden Gewissenszwang ausschließt. Der Kirche wird aufgetragen, für die Wahrheit des Evangeliums „ohne Zwang, allein durch das Wort“ einzutreten. Im Blick auf den Staat aber stellt Luther klar, dass seine legitime Macht an der Gewissensbindung des Einzelnen seine Grenzen hat; soweit er den Versuch unternimmt, einen Zwang in Glaubensfragen auszuüben, ist man ihm deshalb nicht zum Gehorsam verpflichtet. „Hier stehe ich, ich kann nicht anders“: Es ist nicht illegitim, dass Luthers Aussage vor dem Reichsstag in Worms im Jahre 1521 zum Anknüpfungspunkt für eine Kultur der Gewissensfreiheit und der Toleranz erklärt wurde.
Blickt man auf die spätere Entfaltung des Toleranzgedankens, so kann man in ihm systematisch drei Ebenen unterscheiden, die persönliche, die gesellschaftliche und die politische Toleranz.

Die persönliche Toleranz ist dabei zu verstehen als eine überzeugte, nicht als eine indifferente Toleranz. Denn sonst wäre es keine Toleranz, die aus der Gewissensfreiheit folgt; handelt es sich bei ihr doch gerade um die Freiheit zur Bildung eigener Überzeugung und zur Bindung an sie. Die gesellschaftliche Toleranz, die aus ihr folgt, zielt auf eine wechselseitige Achtung von Überzeugungen und Lebensformen, nicht auf den Verzicht darauf. Die politische Toleranz schließlich hat ihren Sinn darin, solche gesellschaftliche Toleranz zu ermöglichen, also einen gesellschaftlichen Raum zu schaffen, in dem sich Überzeugungen bilden und entfalten können. Dem dient die Gewährleistung der Religionsfreiheit, die eben nicht nur – negativ – die Freiheit von der Religion, sondern ebenso – positiv – die Freiheit zur Religion meint.

Ein solches Konzept von Toleranz legt ein Verhältnis von Staat und Kirche nahe, das – um es zurückhaltend auszudrücken – nicht allein im Laizismus seine adäquate Entsprechung finden kann. Allgemein lässt es sich vielmehr als ein Verhältnis wechselseitiger Unabhängigkeit und staatlicher Religionsneutralität verstehen, das eine staatliche Anerkennung gelebter Überzeugungen und ihrer gesellschaftlichen Bedeutung einschließt. Doch vorausgesetzt ist dabei die Nichtidentifikation des Staates mit solchen Überzeugungen. Das erfordert von den Repräsentanten des Staates Zurückhaltung in der Vertretung und Präsentation ihrer persönlichen Glaubenshaltungen. Um dieses Verhältnis zwischen positiver Religionsfreiheit und Mäßigungsgebot geht es in einer Reihe europäischer Länder gegenwärtig beispielhaft im Streit um das Kopftuch muslimischer Lehrerinnen. In einer sehr spezifischen Weise steht dabei Zukunft der Toleranz auf dem Spiel.

Die Art und Weise, in der Freiheit und Bindung oder, moderner formuliert, Freiheit und Verantwortung durch die Reformation im Begriff des Gewissens miteinander verknüpft wurden, hat dazu beigetragen, dass auch im Blick auf das gesellschaftliche Handeln insgesamt Eigenverantwortung mit Solidarität und Gerechtigkeit verknüpft wurden. Das Bild von Ehe und Familie, all seine Wandlungen eingerechnet, ist davon ebenso geprägt wie das Konzept einer „sozialen Marktwirtschaft“, bei dessen Entstehung christlich motivierte Denker eine erhebliche Rolle spielten. Von daher haben die Kirchen zu der Aufgabe, eine soziale Gesellschaft und einen sozialen Staat zu entwickeln und zu erhalten, eine besondere Affinität. Neben dieser Orientierung an den Aufgaben der sozialen Gerechtigkeit haben die Verantwortung für den Frieden und die Bewahrung der Natur im christlichen Sozialethos der vergangenen Jahrzehnte eine herausragende Bedeutung gewonnen.

Freiheit und Verantwortung gehören in diesem Bild vom Menschen unmittelbar zusammen. Sie miteinander zu verbinden, ist aber ebenso die Grundidee der Demokratie. Nachdem mit dem Ende der kommunistischen Diktaturen in Europa auch das kollektivistische Menschenbild ein Ende gefunden hat, besteht die große Aufgabe darin, ein Menschenbild entwickeln und zu fördern, welches Freiheit und Verantwortung in ihrem Zusammenhang sieht. Daraus, dass der Kollektivismus hinter uns liegt, folgt keineswegs zwangsläufig, dass nun einem isolierten Individualismus das Feld zu überlassen sei. Denn eine Freiheitsauffassung, für welche das Wesen der Freiheit in ihrem willkürlichen Gebrauch besteht, löst sich nicht nur aus der Verbindung mit einem christlichen Begriff der Freiheit, sondern aus der europäischen Tradition überhaupt. Auch die Aufklärung beispielsweise bekennt sich dazu, dass der vernünftige Gebrauch der Freiheit dem gemeinsamen Leben mit anderen nicht entgegen steht. Gerade in ihrer Freiheit ist die einzelne Person auf ihr Zusammensein mit anderen angelegt. Deshalb hebt die Vorstellung von der Autonomie der freien und selbstbestimmten Person die Verantwortung für das gemeinsame Leben nicht auf, sondern begründet sie. In diesem Sinn erwächst die Verantwortung aus der Freiheit.

Schließlich bringt der christliche Glaube auch in die Welt des Rechts, der Ausübung der Macht und der Verfolgung des eigenen Vorteils das Motiv der Nächstenliebe ein. In ihm hat das Ethos der zehn Gebote seine christliche Zusammenfassung gefunden. Zu seinen grundlegenden Impulsen gehört die Aufforderung, eine Situation aus der Perspektive des anderen, des Unterlegenen, des Schwächeren anzusehen. Die Goldene Regel – nach welcher man den anderen so behandeln soll, wie man auch selbst behandelt zu werden erhofft (Matthäus 7, 12) – ist wohl das wirksamste Moralprinzip geworden, das, wenn nicht allein christlichen Ursprungs, doch durch das Christentum vermittelt wurde. Die Kultur des Helfens, die vor allem durch die karitativen Einrichtungen der christlichen Kirchen gefördert worden ist und auch heute durch solche Einrichtungen in großer Breite repräsentiert wird, bildet eine unentbehrliche Stütze für die Humanität in der Gesellschaft.

Wenn man sich an solche tragenden und prägenden Elemente des christlichen Sozialethos erinnert, darf man freilich nicht die Kämpfe und Auseinandersetzungen aus den Augen verlieren, die für den Weg des Christentums gerade in Europa charakteristisch waren. Die Konfessionskriege der nachreformatorischen Zeit, an die man dabei zuallererst denken muss, nötigten zu einer Neukonstruktion eines europäischen Friedens, der nicht unmittelbar auf der Religion beruhte, sondern auch dann Bestand haben sollte, wenn man annähme, dass es Gott nicht gäbe. Insofern nötigte die Unversöhnlichkeit der konfessionell bestimmten Kriegsparteien selbst zu einer Friedensordnung, die auch gegen die Konfessionen durchgesetzt werden konnte.

Daran muss man sich immer wieder erinnern, wenn die These vertreten wird, der Frieden zwischen den Völkern setze den Frieden zwischen den Konfessionen und Religionen voraus: „kein Weltfrieden ohne Religionsfrieden“ (Hans Küng). Gegebenenfalls muss der Frieden – Gott sei’s geklagt – auch gegen Konfessionen und Religionen durchgesetzt werden. Auch das gehört zu den Lehren der europäischen Entwicklung. Die Kirchen selbst müssen ein Interesse daran haben, dass der Rechtsfrieden gegen diejenigen behauptet wird, die ihn gefährden – und sei es unter Inanspruchnahme religiöser Motive. Nordirland ist dafür ebenso ein aktuelles Beispiel wie der Balkan. Erst recht gilt das für den 11. September 2001 und seine Folgen. Gerade die europäische Erfahrung spricht dafür, die Bedeutung der Religion für die Gesellschaft und den weltlichen Charakter der Rechtsordnung deutlich voneinander zu unterscheiden. Diese Einsicht wird insbesondere das Gespräch zwischen Christentum und Islam in Zukunft stärker bestimmen müssen als in der Vergangenheit.

Von der prägenden Bedeutung des Christentums für Europa zu sprechen, bedeutet, die europäische Pluralität anzuerkennen. Denn das Christentum hat auf seine Weise zur Pluralität beigetragen. Die Toleranz gegenüber Glaubensfremden, zuerst in protestantischen Staaten gewährleistet, war dazu ein wichtiger Schritt. Er trug dazu bei, dass sich die staatsbürgerlichen Rechte von der Religionszugehörigkeit lösten. Diese „Bresche“ wurde, wie sich der französische Historiker René Rémond in seiner brillanten Studie  über „Religion und Gesellschaft in Europa“ ausdrückt, in der Französischen Revolution geschlagen. „Niemand darf wegen seiner Ansichten, selbst religiöser Art, bedrängt werden...“ heißt es erstaunlich zurückhaltend in der „Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte“ von 1789. Aber die Einsicht, dass Unterschiede des religiösen Bekenntnisses keine staatsbürgerliche Benachteiligung zur Folge haben dürfen, war weitreichend. Diese Entkoppelung setzte sich schrittweise in ganz Europa durch. Erst der Ausschluss der Juden von der Staatsbürgerschaft im Deutschland der Nazizeit – aber auch im Frankreich der Vichy-Regierung – war eine tragische Abweichung von dem nun errungenen Prinzip. Wer immer heute von Europa als Wertegemeinschaft spricht, wird gerade deshalb dieses Prinzip zu den Werten zählen, hinter die Europa nicht wieder zurück gehen kann. So wie durch die Reformation die Gewissensfreiheit zu einem europäischen Grundwert wurde, so durch die Französische Revolution die staatsbürgerliche Gleichheit. Es gibt jedenfalls in meinen Augen keinen Zugang zum Wertekonsens Europas an diesen beiden Weichenstellungen vorbei.

Die Kirchen haben die Unabhängigkeit des Staatsbürgerrechts von der Religionszugehörigkeit nicht selbst durchgesetzt. Auch deshalb hat dieser epochale Wandel sich in einem Säkularisierungsschub Ausdruck verschafft, der zwei Jahrhunderte – das 19. wie das 20. Jahrhundert – prägte. Nicht nur in überwiegend protestantischen Gegenden – mit ihrer traditionell geringeren Kirchenbindung – , sondern auch in katholischen Regionen löste sich das Deutungsmonopol der Kirchen ebenso auf wie ihr direkter Zugriff auf die Lebensorientierungen der Einzelnen. Glaubensfeindliche Ideologien haben im 20. Jahrhundert die Entkirchlichung weiter Bereiche Europas vorangetrieben. Doch diese Entkirchlichung ist nicht umstandslos mit einer Entchristlichung gleichzusetzen. Sie hat, wie J. Weiler in einer bemerkenswerten Schrift klargemacht hat, die Rede vom „christlichen Europa“ keineswegs gegenstandslos gemacht.

Inzwischen überlagern sich Säkularisierung und religiöse Pluralität. Die Wanderungsbewegungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts führten zu einer verstärkten Präsenz nichtchristlicher Religionen in Europa, allen voran des Islam. Dass Religionsfreiheit auch die Freiheit des Andersglaubenden ist, wird zu einer täglichen Erfahrung. Auch in Europa gibt es viele Anzeichen dafür, dass das 21. Jahrhundert durch eine Wiederkehr der Religion geprägt sein wird. Nicht alle Formen von Religion, die auch in Europa eine wachsenden Bedeutung gewinnen werden, sind durch ein Ja zu der aufgeklärten Säkularität geprägt, die für die neuzeitliche Entwicklung in Europa bestimmend geworden ist. Um so bedeutsamer wird die Aufgabe sein, wichtige Elemente der europäischen politischen Kultur zu bewahren und sorgsam mit den Quellen umzugehen, aus denen sich sie speisen, die christlichen Quellen eingeschlossen.

Denn auch unter veränderten Bedingungen ist an der epochalen Bedeutung des Übergangs zu gleichen Bürgerrechten festzuhalten, die von der Religionszugehörigkeit unabhängig sind. Einem Staat, der diesen Grundsatz leugnet, würden wir heute vorhalten, dass er gegen die europäische Werteordnung verstößt. Europa als Wertegemeinschaft ist durch eine Vorstellung vom Verfassungsstaat geprägt, der die gleiche Würde jedes Menschen und ebenso die Gleichheit vor dem Gesetz unabhängig von der Religionszugehörigkeit respektiert. Denn das gehört zur Unbedingtheit der Menschenwürde. So sehr diese sich einem christlichen Impuls verdankt, so sehr kann sie rechtlich nur in einem säkularen Verfassungsstaat gesichert werden.

III. Die bleibende Prägekraft des Christentums

Wenn wir von der Prägekraft des Christentums für die politische Kultur Europas sprechen, geht es also um die Werte und Normen, die, von Christen und aus christlichen Glaubensgrundsätzen entwickelt, weithin wirkungskräftiges Gemeingut im demokratischen Staat und seiner Gesellschaft sind und bleiben sollen. Ich habe sie in den bisherigen Überlegungen bereits genannt. Es geht um die Würde der menschlichen Person, die als Grenze aller staatlichen Machtausübung, aber auch aller wirtschaftlichen Machtansprüche geltend gemacht wird. Es geht um die elementaren Menschenrechte, die unbeschadet ihrer Wurzeln nicht als europäisches Sondergut betrachtet werden, sondern mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte zu Grundelementen eines universalen Rechtsethos geworden sind. Es geht um eine Kultur der wechselseitigen Achtung, in der sichergestellt wird, dass Unterschiede der Überzeugung nicht mit Gewalt oder Unterdrückung, sondern in einer Atmosphäre der Toleranz und des Respekts ausgetragen werden. Es geht um Rahmenbedingungen wirtschaftlichen Handelns, die den Grundvorstellungen einer sozialen Marktwirtschaft entsprechen. Es geht um eine Atmosphäre des bürgerschaftlichen Engagements, das sich auch in der Mitwirkung und Mitbeteiligung am Aufbau und der Entfaltung der Demokratie zeigt.

Die wirkungsvolle Mitarbeit zahlloser Christen und auch aktiver Kirchenleute am Aufbau und an der Erhaltung der Demokratie in vielen europäischen Ländern entspricht der theologisch und ethisch begründeten positiven Beziehung von Christen zum demokratischen Staat und der Nähe seiner Grundorientierung zum „christlichen Menschenbild“. (Vergleiche für den Bereich des deutschen Protestantismus die Denkschrift „Evangelische Kirche und freiheitliche Demokratie“ 1985). Auch so haben die Christen und ihre Kirchen zum gedeihlichen Zusammenleben der Bürgerinnen und Bürger im demokratischen Staat viel beigetragen und tun es weiterhin.

Kirchliches Leben im Gehorsam gegenüber dem Evangelium und den in ihm begründeten religiösen Bindungen haben sehr viele Menschen während der beiden Diktaturen in Deutschland vor der Unterwerfung unter totalitäre Ansprüche bewahrt. Das mit der Demokratie unvereinbare Übel des Totalitarismus abzuwehren ist für Christen auch heute ein unabdingbar geltendes Gebot.

Solche Erfahrungen haben in Deutschland 1949 zur Aufnahme der „Verantwortung vor Gott und den Menschen“ in die Präambel des Grundgesetzes geführt, die in der Erschütterung über die Schrecken des totalitären NS-Staates und seines Allmachtwahns formuliert worden ist. Die Präambel bringt damit den Horizont für die konkrete historische Verantwortung des Verfassungsgebers zur Sprache; sie macht nicht das Gottesverständnis einer bestimmten kirchlichen Lehre oder Religion für alle Bürgerinnen und Bürger verpflichtend.

Die Rede von der „Prägekraft des Christentums“ bezeichnet also kein Monopol der Kirchen für die Vertretung von grundlegenden Werten und Überzeugungen in der politischen Kultur und gegenüber dem Staat. Aber sie erinnert die Kirchen an ihre Verpflichtung gegenüber dem Gemeinwohl und verpflichtet den Staat zum achtsamen Umgang mit den Voraussetzungen, auf die er selber angewiesen ist, ohne sie jedoch selbst hervorbringen zu können.

Die Verpflichtung des Staates zu religiös-weltanschaulicher Neutralität kann deswegen nicht bedeuten, dem Staat könne es völlig gleichgültig sein, in welcher Weise das Verhältnis von Religion und Staat von Seiten der Religion bestimmt wird. Für den demokratischen Rechtsstaat ist die „Prägekraft des Christentums“ deswegen nicht gleichgültig weil das Christentum als Religion von sich selbst her die Unterscheidung von Staat und Religion betont und für sich selbst als verbindlich anerkennt.

Die kulturelle „Prägekraft des Christentums“ vermittelt der Säkularität des Staates also einen bestimmten inhaltlichen Bezug. Das Christentum bejaht von sich aus die aufgeklärte Säkularität des Staates. Nach evangelischem Verständnis wird der Staat nicht als eine Art „Gottesstaat“ oder als verlängerter Arm der Kirche über seine weltlichen Aufgaben hinaus mit religiöser Autorität ausgestattet. Weltanschauliche Neutralität begründet aber auch keine Autoritätsmacht, die den Staat von jeder Rücksicht auf die Religion freistellt oder zum Herrscher über die in der Gesellschaft prägenden kulturellen Werte und Überzeugungen erhebt. Die so verstandene Säkularität des Staates besagt für das Verhältnis des Staates zu verschiedenen Religionen, dass es unausweislich auf die kritische Prüfung dessen ankommt, welche Stellung die jeweilige Religion zu der Säkularität des Staates einnimmt.

Die kulturelle Prägekraft des Christentums trägt zu dem rechten Verständnis der Säkularität des Staates bei und will sie um der Freiheit des Menschen willen mitverantwortlich unterstützen. Entsprechend hat der Staat gute Gründe, darauf zu achten, ob und in welcher Weise religiöse Überzeugungen dieser Säkularität des Staates in ihrem eigenen Verständnis Raum geben.

Von Bürgern, die ein öffentliches Amt als Beruf wahrnehmen wollen, wird deshalb die klare Unterscheidung zwischen ihrer persönlichen religiösen Überzeugung und ihrem Auftreten in der Ausübung eines öffentlichen Amtes erwartet. Da diese Unterscheidung selbst nicht einfach „neutral“ ist, sondern aus einem bestimmten Verständnis des Verhältnisses von „Religion“ und „Staat“ folgt, kann das angemessene Verhalten schwerlich durch eine allgemeine Gesetzgebung im Sinne einer abstrakten Trennung von „Religion“ und „Staat“ festgelegt werden. Der Staat muss aber von seinen Bürgern erwarten, dass sie in der Wahrnehmung öffentlicher Ämter die Säkularität der Rechtsordnung respektieren.

Was bedeutet nun das bisher Gesagte für das Verhältnis von Christentum und politischer Kultur in Europa im Rahmen des Verfassungsprozesses?

IV. Zur Präambel des Verfassungsvertrages

Die Ergebnisse des Verfassungskonventes enthalten wichtige Richtungsentscheidungen für die Bestimmung des Verhältnisses der Europäischen Union zu den Kirchen und Religionsgemeinschaften. Große Bedeutung dafür hat Artikel 51. Absatz 1 erkennt die Vielfalt staatskirchenrechtlicher Systeme in Europa an. Diese Vielfalt beruht auf unterschiedlichen sozialen, kulturellen und religiösen Verhältnissen. Sie prägen die jeweilige politische Kultur und sind ein tragendes Element dessen, was als nationale Identität bezeichnet werden kann.

Der Absatz 3 des Artikels 51 enthält eine institutionelle Anerkennung der Kirchen und ihrer Bedeutung als gesellschaftlicher Kräfte in einer Demokratie. Artikel 3 legt fest, dass die europäischen Institutionen einen regelmäßigen, transparenten und offenen Dialog mit den Kirchen und Religionsgemeinschaften unterhalten. Die christlichen Kirchen leisten anerkanntermaßen wichtige Beiträge zur gesellschaftlichen Verständigung.

Der Konvent hat einen Hinweis auf die religiösen Überlieferungen für die Präambel vorgeschlagen. Das ist zu begrüßen, bleibt aber zu unpräzise. Die abstrakte Rede von religiösen Überlieferungen, denen die humanistischen Überlieferungen noch betonend nachgestellt sind, relativiert die christliche Prägung Europas allzu sehr. Es entsteht der Eindruck, dass das kulturelle Gedächtnis Europas im wesentlichen auf die Aufklärung und ihre griechische Vorgeschichte reduziert wird.

Zum einen ist also an dieser Stelle eine Präzisierung der Präambel vonnöten. Zum anderen ist die damit keineswegs identische Frage aufzunehmen, ob ein Gottesbezug in der Präambel seinen Ort finden kann. Nicht um eine „invocatio Dei“ würde es sich dabei handeln, sondern um eine Beschreibung des Verantwortungshorizonts, in dem Europa gewachsen ist und Gestalt gewinnt. Dass Menschen ihr Handeln vor Gott verantworten und ihrer Machtausübung dadurch Grenzen gesetzt wissen, ist dabei genauso zu berücksichtigen, wie die Gewissensfreiheit derer zu achten ist, die eine solche Bindung an Gott für sich nicht anerkennen oder aussprechen. „In Verantwortung vor Gott und den Menschen sowie in Achtung vor der Freiheit des Gewissens“ wäre eine Formulierung, in der dies zum Ausdruck kommen könnte. Die Art, in der sich die polnische Verfassung auf „Gott als die Quelle der Werte“ beruft, und dabei denen Respekt zollt, die diese Werte – darunter ausdrücklich die Schönheit – aus anderen Quellen herleiten, wäre ein anderer Weg zu einem solchen Ziel.

Ohne auf die Vor- und Nachteile der einzelnen Vorschläge einzugehen, werden solche Vorschläge insbesondere von Frankreich gern mit der Forderung nach der Aufnahme des Laizismus in die Präambel beantwortet. Frankreich beruft sich darauf, es habe für die Präambel des Verfassungsvertrages bereits mehr zugestanden als für die Präambel der Grundrechte-Charta, nämlich die Aufnahme des Begriffes „religiöse“ Überlieferungen. Doch es ist nicht sinnvoll, weitere Verdeutlichungen mit der Forderung nach einer Verankerung des Prinzips der Laizität zu konterkarieren. Denn dabei handelt es sich um eine der institutionellen Gestalten des Verhältnisses von Staat und Kirche. In der Präambel aber geht es um die Frage nach den geistigen Grundlagen, also nach der Seele Europas. Beide Fragen liegen auf verschiedenen Ebenen. Die eine gehört in die Präambel – jedenfalls in eine so ausführliche Präambel – die andere nicht. Eine Bezugnahme auf das Christentum in der Präambel in der beschriebenen doppelten Weise würde
 - keinesfalls einen besonderen Machtanspruch der Kirchen dokumentieren, sondern in sich die Forderung nach der Unterscheidung von geistlichem und staatlichem Auftrage enthalten,
- keine religiöse Überhöhung staatlicher Macht implizieren, sondern die Grenzen menschlicher Macht erkennbar machen,
- nicht die Bevormundung des Gewissens sanktionieren, sondern für die Freiheit des Gewissens stehen,
- keine religiöse Exklusivität beanspruchen, sondern kulturelle und religiöse Vielfalt anerkennen.

Eine für die Zukunft der europäischen Union wichtige Frage liegt darin, ob eine Bezugnahme auf das Christentum mit der Präsenz des Islam in der Europäischen Union vereinbar ist. Bereits heute leben 15 Millionen Muslime in der Europäischen Union. Können sie sich mit einer Verfassung identifizieren, die auf das christliche Erbe verweist? Die wesentliche europäische Aufgabe, die vor uns liegt, ist die bei uns lebenden Muslime zu integrieren und nicht auszuschließen. Von Muslimen ist nicht zu erwarten, dass sie sich zum Gott der Christen bekennen. Aber es muss von ihnen erwartet werden, dass sie die christliche Prägung Europas respektieren. Die abfällig klingende Rede vom „christlichen Club“ darf über diese Seite der Integration nicht hinweg täuschen. Integration verbindet sich mit Erwartungen an beide Seiten. Gerade angesichts der ambivalenten Entwicklungen im Islam brauchen wir in Europa einen deutlichen Hinweis auf die Unterscheidung von Staat und Religion, ein Prinzip, dessen Verankerung gerade angesichts des wachsenden Fundamentalismus und religiös begründeten Terrorismus in der Europäischen Union nötiger geworden ist als je.

Christen dienen der Gesellschaft, indem sie sich in Politik, Rechtspflege, Verwaltung, Bildung und Wirtschaft für Strukturen einsetzen, die einer ganzheitlichen menschlichen Entwicklung förderlich sind. Da, wo sie sich besonders von Gott aufgerufen fühlen, handeln sie nicht unter Aufhebung allgemein menschlicher Maßstäbe (es gibt keine Suspendierung des Ethischen durch die Religion), sondern sie werden sich über das rechtlich und menschlich Geforderte hinaus einsetzen (Kompetenz und Hingabe). Ein Missbrauch der Religion für nationale und ideologische Zwecke kann nicht ein für alle Mal verhindern werden, aber er widerspricht den Grundeinsichten, denen das Christentum in seiner europäischen Inkulturation folgt. Umgekehrt ist auch der Staat vor Fehlentwicklungen nicht gefeit. Auch er lebt von der lebendig gehaltenen Grundeinsicht in die Grenzen seines Machtbereichs. Beide stehen sich heute mit dem Terrorismus und dem Fanatismus Mächten gegenüber, die solche Grenzen einzureißen suchen, um sich selbst Macht und Gehör zu verschaffen.

Das westliche Christentum hat einen schmerzhaften Lernprozess durchlaufen, nach dem göttliche „Anweisungen“, die nicht mit unseren ethischen Grundnormen und mit der Humanität in Einklang stehen, nicht mehr vorstellbar sind. Dieser Lernprozess sollte auch in der europäischen Verfassung seinen Niederschlag finden. Darum wollte ich mit diesem Vortrag werben, sozusagen im letzen Augenblick.