Religion und Politik in Deutschland und den USA - ein Vergleich

Wolfgang Huber

Atlantikbrücke in Berlin

I.
„Der gespaltene Westen“ heißt der Titel eines Bandes, in dem Jürgen Habermas seine politischen Äußerungen aus der jüngsten Vergangenheit veröffentlicht hat. Der Titel löst bei mir eine innere Abwehr aus. Der Titel zeigt ein Gegenbild zu dem „langen Weg nach Westen“, den Heinrich August Winkler als das wichtigste Signum der deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert herausgestellt hat. Die Beheimatung Deutschlands in der politischen Kultur des Westens und die tragfähige Verbindung zwischen Europa und Nordamerika, die ihre Grundlagen in gemeinsamen Grundüberzeugungen hat, gehört für mich selbst wie für viele Menschen meiner Generation zu den bestimmenden politischen Erfahrungen der letzten fünfzig Jahre. Zu den prägenden Grundorientierungen gehört es deshalb auch, dass die Überwindung der Spaltung Europas nicht eine neue Spaltung des Westens zur Folge haben darf. Die Erweiterung der Europäischen Union, so war jedenfalls die feste Absicht, sollte nicht mit einer Lockerung der transatlantischen Beziehungen erkauft werden. Nicht ursächlich, wohl aber faktisch scheint sich nun beides miteinander zu verbinden. In der gegensätzlichen Beurteilung des Irakkriegs hat die wachsende Entfremdung einen manifesten Ausdruck gefunden.

 Diese wachsende Entfremdung verbindet sich mit religiösen Motiven. Die Situation ist eigentümlich verschränkt. Während die Vereinigten Staaten von Amerika durch eine Verfassungstradition bestimmt sind, der zufolge Staat und Kirche institutionell durch einen „wall of separation“ voneinander getrennt sind, gibt es in Europa neben dem laizistischen Modell Frankreichs unterschiedlich akzentuierte Modelle einer institutionellen Kooperation zwischen Staat und Kirchen. Doch umgekehrt ist auch festzustellen: Während seit der Mitte der siebziger Jahre – nämlich seit Jimmy Carter – jeder Präsident der Vereinigten Staaten von sich sagte, er sei ein wiedergeborener Christ – ein „reborn Christian“ – , weckt es in Deutschland kein besonderes Erstaunen mehr, dass die politisch Verantwortlichen zu einem erheblichen Teil religiös nicht gebunden sind oder doch ihre religiöse Haltung nicht besonders deutlich erkennen lassen. Oder anders gesagt: Während in Deutschland die Bitte des neu gewählten Bundespräsidenten um Gottes Segen für unser Land erstaunte Rückfragen auslöst, würde es in den USA Erstaunen auslösen, wenn ein neu gewählter Präsident bei seiner Inauguralrede auf diese Bitte verzichten würde. Unterschiede der Religionskultur in Europa und in den USA verbinden sich auf eigentümliche Weise mit politischen Entfremdungsprozessen. Der Frage, wie das zu verstehen ist und welche Schritte eines neuen Verstehens und einer neuen Annäherung möglich sind, bestimmt die Überlegungen, die ich Ihnen heute vortragen möchte.

II.
In demselben Jahr, in dem die „Atlantikbrücke“ gegründet wurde, im Jahr 1952, veröffentlichte der aus einer deutschen Familie stammende amerikanische Theologe Reinhold Niebuhr ein Buch über die „Ironie der amerikanischen Geschichte“. Diese Ironie sah er in dem Umstand, dass eine Nation, an deren Beginn eine kleine Schar von Pilgervätern, die im 17. Jahrhundert vor den konfessionellen Auseinandersetzungen in Europa geflohen war, um jenseits des Atlantiks das „verheißene Jerusalem“ zu finden, durch den Gang der Geschichte dazu verleitet wurde, diese Verheißung mit einem globalen Machtanspruch zu verbinden. Während die frühen Siedler in den neuenglischen Kolonien, eher am Rand der damaligen Welt lebend, ihren Zukunftsmut aus der Gewissheit bezogen, in einen unverbrüchlichen Bund Gottes berufen zu sein, verwandelte diese Überzeugung von einer besonderen göttlichen Berufung ihre Bedeutung in dem Maß, in dem sie sich mit einem hegemonialen politischen Anspruch verband.

In dieser Situation warnte Reinhold Niebuhr davor, sich leichtfertig von der christlichen Einsicht in die menschliche Natur zu verabschieden, die er vor allem bei Paulus, bei Augustin und bei Luther ausgeprägt fand: nämlich die Einsicht in die Neigung der menschlichen Natur zum Bösen, die sich auch dann, ja vielleicht gerade dann Geltung verschafft, wenn man meint, Grund dazu zu haben, das Böse nur in einem äußeren Feind zu sehen. Niebuhr hatte die Auswüchse der McCarthy-Ära vor Augen, in der ein militanter Antikommunismus sich mit dem amerikanischen Erwählungsbewusstsein verband, woraus sich eine hexenjagd-ähnliche Atmosphäre entwickelte. Niebuhrs Warnung zielte darauf, auf fundamentale Herausforderungen nicht in einem fundamentalistischen Geist zu reagieren. Stattdessen solle man sich, so fand er, der „Ironie der amerikanischen Geschichte“ bewusst bleiben und das amerikanische Erwählungsbewusstsein gerade nicht in den Dienst weltpolitischer Hegemonialansprüche stellen.

Die religiöse Berufung dazu, eine bessere Welt herbeizuführen, nahm in der jüngeren Geschichte der USA sehr unterschiedliche Formen an. Die Vision, aus dem Geist des christlichen Glaubens eine bessere Zukunft herbeizuführen, bündelte sich beispielsweise im Jahr 1963 in einem einzigen kurzen Satz: „I have a dream – Ich habe einen Traum“. In der Rede, die sich um diesen Satz rankt, beschwor der baptistische Geistliche Dr. Martin Luther King damals seinen Traum von Freiheit und Gleichheit der Menschen. Dieser Traum verband sich nicht mit einem besonderen Herrschaftsanspruch, sondern mit der Forderung nach Gleichberechtigung der bisher Unterdrückten. Die besondere religiöse Berufung, die er geltend machte, mündete auch nicht in eine Rechtfertigung der Gewalt, sondern in den Appell zu gewaltfreiem Widerstand. Eine Vision wurde laut, die die Kontinente, ja sogar die Religionen überspannt. Mahatma Gandhi und Dietrich Bonhoeffer kann man unter die geistigen Vorläufer dieses Traums rechnen.

Deshalb erweist sich dieser Traum auch bis zum heutigen Tag als eine lebendige Brücke über den Atlantik. An kaum einem Punkt gibt es eine größere Nähe zwischen den USA und Deutschland, den USA und Europa. Und es ist sicherlich kein Zufall, dass hier der christliche Glaube in besonderer Weise ins Spiel kommt. Der Gedanke der Gleichheit aller Menschen vor Gott ist der entscheidende Bezugspunkt, aus dem sich der Kampf gegen die Diskriminierung aus Gründen der Rassenzugehörigkeit genauso ergibt wie die Absage an den Einsatz tötender Gewalt als politisches Mittel.

In Martin Luther Kings Version kommt die christliche Prägung des amerikanischen Traums mit besonderem Nachdruck zum Klingen. Sie macht eindringlich deutlich, dass der amerikanische Traum und wie er ein christlicher Traum ist. Die ganze Tradition seit der Mayflower und den Pilgervätern klingt in dieser Rede vom amerikanischen Traum mit. Ein baptistischer Prediger stellt sich im Kampf um die Bürgerrechte der Schwarzen bewusst in diese Tradition.

Zugleich tritt freilich auch eine mögliche Umkehrung in den Blick, die dann sagen würde: Der christliche Traum ist ein amerikanischer Traum. Wo sich eine solche Umkehrung vollzieht, mündet der amerikanische Traum in die Vorstellung einer amerikanischen Überlegenheit im christlichen Namen. Die Ironie der amerikanischen Geschichte wird dann negiert. Das besondere Berufungsbewusstsein dieser Nation wird dann zur Rechtfertigung eines politischen Überlegenheitsanspruchs. 

Gemeinsam mit vielen Amerikanerinnen und Amerikanern wird man dagegen festhalten: Der christliche Traum ist kein amerikanischer Traum. Er wäre aber auch kein deutscher Traum, obwohl das in unserer eigenen Geschichte bisweilen gedacht wurde. Er hat überhaupt keinen nationalen Charakter, sondern überspannt die Menschheit.

III.
Die Rolle der Religion in der amerikanischen Politik hat seit der Rede von Martin Luther King einen tiefen Wandel durchlaufen. Noch vor drei Jahrzehnten war die Rolle der Religion im Verständnis der amerikanischen Politik kein herausgehobenes Thema. Es ist durchaus charakteristisch, dass sich in dem brillanten Standardwerk von Kurt L. Shell aus dem Jahr 1975 über das politische System der USA kein Abschnitt über die Querverbindungen zwischen Politik und Religion findet. Das Politische ist dieser Analyse zufolge ein Reich für sich, ein historisch determiniertes Subsystem der Gesellschaft ohne wesentliche Verbindungen zum Religionssystem. Seit Jimmy Carters Zeit, der 1976 zum Präsidenten gewählt wurde, hat sich das indessen geändert. Die zweite Hälfte der Siebzigerjahre war bekanntlich die Zeit, in der das Phänomen des religiösen Fundamentalismus weltweit neu erwachte. Damit begann für die USA kein völlig neues Kapitel ihrer Geschichte. Erneut erkannte man das Mobilisierungspotential eines religiös konservativen, evangelikal geprägten Protestantismus, wie er insbesondere im „Bible Belt“ der Südstaaten lebendig war. Die religiöse Rechte gab nun der amerikanischen Zivilreligion eine Deutung, die von aller Niebuhrschen Ironie vollständig frei war. Die USA wurden nun als „Shining City upon the Hill“ und als „God’s Chosen Nation“ dargestellt. Das darin begründete Sendungsbewusstsein wurde gegen eine „Religion des säkularen Humanismus“ in Stellung gebracht, die man als den herrschenden Geist der Zeit ansah. Oder anders – und mit einer Formulierung von Jürgen Habermas – gewendet: Die „entleerende Säkularisierung“ hat dem religiösen Fundamentalismus geradezu Raum geschaffen. Ihre Dynamik empfängt die amerikanische Erwählungstheologie aus ihrer endzeitlichen Ausrichtung. Die Rechristianisierung Amerikas gilt als Vorarbeit für die Wiederkunft Christi. Der Kampf um die Übereinstimmung zwischen Moral und Recht dient dazu, das Land auf diese Wiederkunft Christi vorzubereiten.

Schon nach einem Jahrzehnt, um das Jahr 1985, geriet die neue christliche Rechte in eine Krise. Die hohen Hoffnungen der Anfangszeit, die vor allem auch durch die Wahl Ronald Reagans im Jahr 1980 beflügelt worden waren, wurden rasch enttäuscht. Eine Politik, die sich vor allem auf fiskalische, wirtschaftliche und sicherheitspolitische Aufgaben konzentrierte, erfüllte die Erwartungen nicht, die in Deutschland zur gleichen Zeit unter dem Begriff der „geistig-moralischen Wende“ formuliert – und ebenfalls enttäuscht – wurden.

Doch gegen Ende der achtziger Jahre kam es zu einem zweiten Anlauf. Nun änderte sich die politische Agenda der „wiedergeborenen Christen“. Nicht mehr der Kampf gegen den „säkularen Humanismus“, sondern die Wiederherstellung der Rechtskultur, nicht mehr der Kampf gegen Abtreibungsbefürworter, sondern das Eintreten für ein umfassendes Recht auf Leben, nicht mehr eine Kritik der herrschenden Schulcurricula, sondern das Eintreten für die Lehren des Kreationismus im Namen der Lehr- und Lernfreiheit bestimmten nun die Agenda. Diese Strategieänderung trug sehr viel dazu bei, dass die evangelikal geprägten Kirchen eine wachsende Resonanz auch bei bisherigen Anhängern der protestantischen mainline-churches fanden.

In den neunziger Jahren und auch nach der Jahrtausendwende ereignete sich nicht zuletzt quantitativ ein erstaunliches Wachstum amerikanischer Frömmigkeit. Ihr Sinnbild können die neuen evangelikalen Riesengemeinden wie etwa Willow Creek oder Saddleback Mountain sein. Inzwischen entwickeln sich die Megachurches der 90er Jahre (Besucherdurchschnitt bei Gottesdiensten 2.000 Personen) zu sog. "Gigachurches" weiter (Besucherdurchschnitt bei Gottesdiensten 10.000 Personen). Der Zuspruch zu den Mega- und Gigachurches hat sich im Übrigen in den letzten zehn Jahren fast vervierfacht (drei Millionen Gläubige gegenüber 897.000 vor zehn Jahren).

In diese Entwicklung fügt sich die religiöse Rechte ein. Dies ist umso mehr der Fall, als eine weitergehende Radikalisierung dieser christlichen Rechten vermieden werden konnte. Ihre wachsende Rolle im politischen System der USA hatte eher die Wirkung einer gewissen Mäßigung. Zwar kam es auch zu einzelnen bedrückenden Gewalttaten mit religiösem Hintergrund, beispielsweise zu Bombenanschlägen auf Abtreibungskliniken, oder in der jüngsten Vergangenheit der Zerstörung der Bundesbehörde in Oklahoma City 1995, dem Bombenattentat während der Olympiade in Atlanta 1996 oder der Schießerei in einer jüdischen Kindertagesstätte in Kalifornien 1999. Aber aufs Ganze gesehen hatte die Einbindung dieses religiösen Fundamentalismus in das relativ offene politische System der USA auch eine mäßigende Wirkung. Unterschiedliche Bündnispartnerschaften innerhalb der Pluralität gesellschaftlicher Interessengruppen haben dazu ebenfalls beigetragen. Auch die religiöse Rechte nahm diejenigen Grundorientierungen in sich auf, die für die amerikanische Gesellschaft insgesamt prägend sind: insbesondere die Vorstellung von der individuellen Personalität und Freiheit jeder menschlichen Person, die ihren Platz in der Gesellschaft durch eigene Leistung erwerben muss, sowie die Vorstellung von einer demokratischen Lebensform, die aus der aktiven Partizipation vor Ort lebt, wie sie sich vor allem in vielen christlichen Gemeinden Amerikas nach wie vor in beeindruckender Weise zeigt.

Insbesondere in all den Fällen aber, in denen eine Einigung der Nation gegen einen äußeren Feind geboten oder erreichbar erschien, war jedoch regelmäßig eine Verschärfung der religiös-politischen Rhetorik zu beobachten. Im Kampf gegen den Kommunismus war von einem „Kreuzzug“ ebenso die Rede wie im Kampf gegen den Terrorismus. Während Ronald Reagan im einen Fall von einem „Reich des Bösen“ redete, sprach George Bush Jr. im anderen Fall von einer „Achse des Bösen“. Diese Verwendung einer religiös gesteigerten Rhetorik war zuletzt im Zusammenhang des Irakkriegs zu erleben.

IV.
Drei Merkmale lassen sich vor allem nennen, in denen diese skizzenhaft beschriebene Situation sich von der religiösen Landschaft unterscheidet, die wir in Westeuropa und insbesondere in Deutschland beobachten können.

Zum einen wirkt sich in Deutschland bis zum heutigen Tag ein Entkirchlichungsprozess aus, der zum beherrschenden religionssoziologischen Signum der letzten zwei Jahrhunderte geworden ist. Zwar ist diese Entkirchlichung nicht einfach mit einer Entchristlichung gleichzusetzen. Vielmehr stellen wir fest, dass christliche Prägungen von Kultur und gesellschaftlichem Zusammenleben auch dort noch wirksam sind, wo man für sie kaum noch die Kirchen in Anspruch nimmt. Deshalb kann man die Augen nicht davor verschließen, dass die gesellschaftliche Rolle der Kirchen einem Wandel ausgesetzt war, der durch die plötzlich wahrgenommene „Säkularisierung“ in der Folge der deutschen Einigung eine erhebliche Verschärfung erfuhr.

Sodann gibt es keine Parallele zu dem Aufstieg der religiösen Rechten in den USA während der letzten Jahrzehnte. Die Vorstellung, dass sich ein erheblicher Teil unserer Gesellschaft als „wiedergeborene Christen“ verstehen würde, liegt uns fern. Die freikirchliche Tradition, in der diese Vorstellung verwurzelt ist, ist in Deutschland nach wie vor auf Minderheiten beschränkt. Die gleitende Erosion volkskirchlicher Milieus hat noch keine derartige Gegenbewegung ausgelöst. Die kirchlichen Bemühungen um einen missionarischen  Aufbruch kommen nur schrittweise in Gang und haben ein anderes Ziel: Nicht der Anschluss an fundamentalistische Wahrheiten, sondern eine aufgeklärte religiöse Identität ist das Ziel.

Schließlich fehlt die scharf geschnittene, dualistische Entgegensetzung zwischen Schwarz und Weiß, Böse und Gut, dem auserwählten Volk und der Achse des Bösen. Die Vorstellung von einem „Kampf der Kulturen“, die Samuel Huntington 1993 als Orientierungsmuster vorgeschlagen hat, findet in den USA eine weit größere Resonanz als in Europa. Hier stößt eher Gerhard Schröders Aussage, es gehe nicht um einen Kampf der Kulturen, sondern um einen Kampf um Kultur, auf ein positives Echo.

V.
Für die Verbindung zwischen Religion und Politik bei gleichzeitiger institutioneller Trennung verwendet man in der amerikanischen Diskussion den Begriff der „Zivilreligion“. Nach der Prägung dieses Begriffs, der urspünglich auf Jean-Jacques Rousseau zurückgeht, durch den amerikanischen Soziologen Robert N. Bellah meint „Zivilreligion“ die nicht selbst politischen Quellen einer um des gesellschaftlichen und politischen Zusammenlebens willen notwendigen Moralität. Bellah entwickelte seine These ursprünglich an Hand von Reden John F. Kennedys und Martin Luther Kings. Doch der Vietnamkrieg erschütterte Bellahs Auffassung. Er begnügte sich nun nicht mehr damit, das Vorhandensein einer amerikanischen Zivilreligion zu beschreiben. Er fragte nach den Inhalten, die notwendig waren, wenn der Zusammenhalt der amerikanischen Gesellschaft auch in Zukunft gesichert sein sollte. Dafür verstärkte er die normativen Elemente in seiner Vorstellung von Zivilreligion; die normativen Vorstellungen, die er mit dem Begriff eines demokratischen Kommunitarismus verband, wurden nun zum Inhalt der von ihm für wünschenswert gehaltenen Zivilreligion – einer Zivilreligion nämlich, die zum Zusammenleben in einer „good society“ beizutragen vermag.

Die in einer Gesellschaft vorhandene Zivilreligion bildet also eine der Formen, in denen in einer Gesellschaft Religion und Politik miteinander verzahnt sein können und in dieser Koppelung zur Stabilität der Gesellschaft beitragen. Institutionelle Kooperation kann eine andere Form darstellen, die strukturell eine vergleichbare Funktion ausübt. Mit dem ersten Fall haben wir es in den USA, mit dem zweiten Fall dagegen in Deutschland zu tun. Amerika verträgt viel Zivilreligion, aber nur wenig institutionelle Verbindungen zwischen Kirche und Staat. Deutschland verträgt eine starke öffentliche Stellung der Kirchen, aber nur wenig Zivilreligion. So lässt sich vielleicht zusammenfassend sagen: Während in den USA eine breit verankerte Zivilreligion existiert und nahezu keine strukturellen Koppelungen zwischen Religions- und Politiksystem vorhanden sind, ist dieses Verhältnis in der Bundesrepublik Deutschland umgekehrt. Auf der Grundlage einer wechselseitigen Unabhängigkeit von Kirche und Staat existieren beachtliche strukturelle Koppelungen, zugleich gibt es allenfalls eine Art negativer Zivilreligion.

Der deutlichste Hinweis auf die Notwendigkeit dieser Zivilreligion findet sich in einer berühmt gewordenen Formulierung von Ernst-Wolfgang Böckenförde. Von ihm stammt der oft zitierte Satz: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“ In diesem Satz drückt sich in der Tat, da er positive Aussagen meidet, so etwas wie eine negative Zivilreligion aus. Im Blick auf das Verhältnis zwischen Staat und Religion ist mit diesem Begriff einer „negativen Zivilreligion“ insbesondere folgendes gemeint: Der Staat verzichtet darauf, selbst die Voraussetzungen zu definieren, aus denen sich Freiheitsbewusstsein und Verantwortungsbereitschaft erneuern. Aber es kann ihm nicht gleichgültig sein, ob es Institutionen gibt, die sich um den Inhalt und die Weitergabe solcher Voraussetzungen kümmern. Er sieht sich zur Religionsneutralität verpflichtet. Aber er hat gute Gründe dafür, diese Religionsneutralität mit einer die Religion fördernden Haltung zu verbinden – wie dies das Bundesverfassungsgerich in seinem Urteil zum Kopftuch der muslimischen Lehrerin ausdrücklich unterstrichen hat. Seine Religionsneutralität verpflichtet den Staat grundsätzlich dazu, die Freiheit aller Religionen in gleichem Maß zu achten. Aber es kann ihm nicht gleichgültig sein, in welchem Verhältnis die Religionen zu seiner eigenen Verfassung, zur Verfassung des freiheitlichen, säkularisierten Staates selber also stehen.

Insofern hat er eine besondere innere Affinität zu der Unterscheidung zwischen Staat und Religion, die eine unaufgebbare Voraussetzung für die aufgeklärte Säkularität der Rechtsordnung bildet. Diese Unterscheidung zwischen Staat und Religion aber ist in sich selbst ein Erbe des Christentums und ohne ihre christlichen Wurzeln nicht zu denken. Sie beruht auf Augustins Unterscheidung zwischen den beiden Reichen, der civitas Dei und der civitas terrena. Diese Lehre aber entfaltet auf ihre Weise das Wort Jesu: „So gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist.“

Wenn man diese Konstellation beschreibt, ist auch deutlich, warum in den USA und in Deutschland auf die religiös plurale Situation der Gegenwart unterschiedliche Antworten gegeben werden und gegeben werden müssen. In den USA besteht keine Schwierigkeit darin, allen Religionen institutionell die gleiche Stellung einzuräumen. Denn es ist in jedem Fall eine Stellung diesseits des wall of separation; das staatliche Recht hat deshalb zu dieser gleichen Stellung der Religionen ohnehin nur wenig zu sagen. Doch in ihren inhaltlichen Aussagen werden die Religionen höchst wirksam daraufhin geprüft, inwieweit sie sich der herrschenden Zivilreligion einfügen. Religiöse Toleranz meint in dieser Hinsicht keineswegs, dass alle religiösen Haltungen zur amerikanischen Zivilreligion in gleicher Weise beitragen können.

Man konnte das in der großen Trauerkundgebung für die Opfer des 11. September im Yankee Stadium in Harlem exemplarisch studieren. Alle Sprecher, Christen oder Juden, Muslime oder Sikhs, stimmten ein in das Lob Amerikas als der auserwählten Nation, für deren weiteres Geschick sie Gottes Segen erbaten. Angesichts der terroristischen Herausforderung, welche die Nation erlebt hatte, demonstrierten sie die Zugehörigkeit zu einer Zivilreligion, die noch nie in der amerikanischen Geschichte in einer so deutlichen Weise religionsübergreifend formuliert worden war wie an diesem Tag.

In Deutschland dagegen muss die Vorstellung einer gleichen Religionsfreiheit für alle auch institutionelle Gestalt annehmen. Die strukturellen Vorkehrungen des deutschen Staatskirchenrechts sind an Religionsgemeinschaften orientiert, die von sich aus darauf angelegt sind, dass sie auch Körperschaften des öffentlichen Rechts werden können. Mit den organisatorischen Bedingungen, unter denen der Islam gestaltet ist, lässt sich das nur schwer vereinbaren. Aber wichtiger noch ist, dass dem Islam die Unterscheidung zwischen Religion und Politik fremd ist, auf der unser System der Verhältnisbestimmung von Staat und Kirche beruht. Die aufgeklärte Säkularität, auf der die Freiheitlichkeit unseres Gemeinwesens beruht, ist im vorherrschenden Verständnis des Islam und in seinen gegenwärtigen Gestaltungsformen nicht vorgesehen. Die daraus resultierenden Schwierigkeiten ändern nichts daran, dass die Haltung gegenüber dem Islam, die in Deutschland praktiziert wird und praktiziert werden muss, von der Bereitschaft zur Toleranz und dem Willen zur Integration bestimmt ist. Doch dürfen diese Schwierigkeiten nicht ignoriert werden. Und wo die mangelnde Unterscheidung zwischen Religion und Politik sich mit manifest islamistischen Neigungen verbinden, sind auch klare Grenzziehungen unvermeidlich. Auch der Islam, der auf Dauer in Deutschland heimisch werden will, muss daraufhin befragt werden, was er zu den Voraussetzungen beizutragen imstande ist, auf die der freiheitliche, säkularisierte Staat angewiesen ist, ohne sie selbst hervorbringen zu können.

Die beschriebenen Schwierigkeiten lassen sich auch am Beispiel der Türkei verdeutlichen, die zwar auf der einen Seite eine laizistische Tradition hat, auf der anderen Seite aber  ein eigenes Religionsministerium unterhält. Auf der Basis einer Trennung von Staat und Religion ist der sunnitische Islam in der Türkei in die Rolle einer staatlich bevorzugten Religion gerückt; von einer Gleichberechtigung anderer islamischer Richtungen – ich nenne nur die Aleviten – und erst recht von einer durchgeführten Religionsfreiheit für andere Religionen, die christliche Religion eingeschlossen, kann bisher noch nicht die Rede sein.

Welche Folgerungen sich aus der geschilderten Situation für die Stellung des Islam in Deutschland ergeben, ist die schwierige Frage, die gegenwärtig exemplarisch am Thema des Kopftuchs für islamische Lehrerinnen – und damit an einem nicht einmal besonders gut geeigneten Beispiel – diskutiert wird. Nicht nur die Zukunft der Religionsfreiheit, sondern auch die Zukunft der aufgeklärten Säkularität unserer Rechtsordnung steht dabei zur Debatte.

Nur wenn man diese unterschiedliche Problemkonstellation erkennt, kann man auch die unterschiedlichen Debattengänge in den USA und in Europa nachvollziehen. Um Unterschiede handelt es sich dabei, die nichts mit dem 11. September 2001, aber auch nichts mit dem 9. November 1989 zu tun haben. Sie sind in Wahrheit viel tiefer in der Geschichte verwurzelt. Falsche aktuelle Zurechnungen führen an dieser Stelle in die Irre.

Europa sollte seine eigene Auffassung zum Verhältnis von Religion und Politik in diese Debatte selbstbewusst einbringen. Die Europäische Verfassung bietet dazu eine willkommene Gelegenheit. Die Diskussion über deren Präambel hat deshalb eine exemplarische Bedeutung gewonnen. Die Zurückhaltung, die für die Formulierung der Präambel gegenwärtig von vielen Seiten empfohlen wird, halte ich auch unter transatlantischen Gesichtspunkten nicht für den richtigen Weg. Vielmehr wäre Europa gut beraten, die Bedeutung, die der jüdisch-christlichen Überlieferung für seine eigene Identität zukommt, aktiv und selbstbewusst zu benennen. Denn Europa als Kontinent gibt es überhaupt nur, weil es eine kulturelle Größe ist. Und diese kulturelle Größe ist ohne das Christentum unvorstellbar. Einer Europäischen Verfassung wäre zugleich zu wünschen, dass in ihr der Horizont ausdrücklich zur Sprache kommt, in dem politische Verantwortung wahrgenommen wird. Dieser Horizont ist unzureichend bestimmt, wenn der Mensch als letzter Maßstab für den Menschen gilt. Er wird eher dann angemessen beschrieben, wenn ausdrücklich darauf hingewiesen wird, dass politische Herrschaft in Verantwortung vor Gott und den Menschen wahrzunehmen ist. Damit deutlich wird, dass eine solche Formulierung niemanden in seinen persönlichen Glaubensüberzeugungen bevormundet, sollte freilich hinzugefügt werden, dass solche Verantwortung in Respekt vor der Freiheit des Gewissens wahrgenommen wird.

VI.
An dieser Stelle schließt sich der Kreis. Nicht die Abgrenzung von den USA, sondern die selbstbewusste Formulierung der eigenen Position sollte das europäische Konzept für die transatlantischen Beziehungen bilden. Der heute nötige Dialog setzt beides voraus: ein vertieftes Verständnis der amerikanischen Religionskultur, aus der sich die verstärkte Bedeutung religiöser Haltungen für die amerikanische Politik während der letzten Jahrzehnte erklärt, und ein neues Nachdenken über das – anders geartete Verhältnis zwischen Religion und Politik in Europa. Unterschiede der Verhältnisbestimmung zwischen Religion und Politik brauchen die Kluft zwischen den USA und Europa nicht zu vertiefen. Sie können vielmehr in den Dialog einbezogen werden, der gerade heute dringend notwendig ist. Gewiss wird in diesem Dialog die kritische Auseinandersetzung mit amerikanischen Entwicklungen ihren Ort haben. Aber noch wichtiger ist die Formulierung einer eigenständigen europäischen Position zu diesem Thema. An der Diskussion über die Europäische Verfassung wird das exemplarisch deutlich.