"Kirche - ein Global Prayer" - Ansprache beim Johannisempfang

Wolfgang Huber

Berlin

1.

Denn unermüdlich, wie der Schimmer
des Morgens um die Erde geht,
ist immer ein Gebet und immer
ein Loblied wach, das vor dir steht.

Die Sonne, die uns sinkt, bringt drüben
den Menschen überm Meer das Licht:
und immer wird ein Mund sich üben,
der Dank für deine Taten spricht.

In diesen Liedversen unseres Gesangbuchs ist in bezwingender Einfachheit formuliert, weshalb die Kirche als "global player" zuallererst ein "global prayer" ist. Es ist ihr gemeinsames Gebet, das rund um den Erdball laut wird. Vor allem das Herrengebet, das Vaterunser, schließt die christlichen Beterinnen und Beter zu einer globalen Gemeinschaft des Gebets zusammen.

Die "Kirche - ein global prayer", das ist keine Rückzugsparole, und darf auch nicht als solche verstanden werden. Es ist keine Einladung an die Kirche, sich im Gebet von der Welt abzuwenden und zurückzuziehen. Sondern der Wechsel des nur einen Buchstaben signalisiert: Die Kirche ist nicht einfach ein Mitspieler neben anderen. Sie beteiligt sich an weltweiter Verantwortung auf eine eigene Weise.

Denn aus der Haltung des Gebets heraus nehmen wir teil an den Nöten unserer Welt und mühen uns um unseren Beitrag zu mehr Gerechtigkeit. Aus dieser Haltung des Gebets heraus warten wir auf Gottes Zeit und tragen Verantwortung in je unserer Zeit. Aus der Haltung des Gebets heraus sind wir bis in die letzten Wochen hinein dafür eingetreten, dass der Horizont aller menschlichen Verantwortung auch in die neue Verfassung der Europäischen Union Eingang finden sollte. Dass menschliche Verantwortung besser verstanden wird, wenn sie als „Verantwortung vor Gott und den Menschen“ begriffen wird, ist unsere bleibende Überzeugung. Wir äußern sie in vollem Respekt vor der Gewissensfreiheit und der Gewissensbindung derer, die sich für ihr Verständnis von Verantwortung nicht auf Gott berufen. Aber wir halten daran fest: Für die Menschlichkeit unseres Zusammenlebens ist es gut, wenn wir wissen, dass der Mensch nicht der letzte Maßstab für den Menschen ist.

2.

Beten, das Gerechte tun und auf Gottes Zeit warten: so hat Dietrich Bonhoeffer, einer der Verschwörer des 20. Juli, vor sechzig Jahren die Haltung beschrieben, die Christen dabei hilft, der Gegenwart standzuhalten und für die Zukunft Verantwortung wahrzunehmen. Diese Grundhaltung bestimmt uns auch im Blick auf die Frage, wie wir als Kirche weltweite Verantwortung wahrnehmen. Wenn wir heute mit großer Freude den Generalsekretär des Ökumenischen Rates der Kirchen, Dr. Samuel Kobia, unter uns begrüßen, ist dies ein deutlich sichtbares Zeichen für die weltweit verbundene und weltweit agierende Kirche.

Durch ihre Mitgliedschaft im Ökumenischen Rat der Kirchen weiß sich die Evangelische Kirche in Deutschland mit rund 400 Millionen Christen in mehr als 340 Kirchen der orthodoxen und der reformatorischen Tradition sowie mit unabhängigen Kirchen in allen Kontinenten verbunden.. Mit dem Schatz, der uns hier zugewachsen ist, müssen wir sorgsam umgehen, auch wenn wir wissen, dass der ökumenische Raum größer ist als der Ökumenische Rat der Kirchen. Der besonderen Beziehung zur Römisch-katholischen Kirche sind wir uns gerade hierzulande deutlich und dankbar bewusst. Das Wachstum charismatischer und pfingstlerischer Kirchen in Asien, Afrika und Lateinamerika empfinden wir als große ökumenische Herausforderung. Neue Neigungen zu einem christlichen Fundamentalismus verpflichten uns auf besondere Weise dazu, das ökumenische Gespräch fortzuführen. Denn es genügt nicht, alte Gräben zu überwinden; es kommt auch darauf an, neue nicht entstehen zu lassen.

Miteinander müssen wir eintreten für die segensreiche Rolle von Religion; um ihretwillen müssen wir aber auch dem Missbrauch von Religion entgegentreten. Ihre Verwendung zur Entmündigung von Menschen oder zur Rechtfertigung von Gewalt ist ein solcher Missbrauch. Um der Menschen willen, die unter Gewalt, Krieg und Terror leiden, und um der Glaubwürdigkeit der christlichen Botschaft willen bedarf es einer großen gemeinsamen Anstrengung.

3.

Durch ihre Missionswerke, den Evangelischen Entwicklungsdienst, die Aktion „Brot für die Welt“ und den Katastrophendienst des Diakonischen Werkes leisten die EKD und die in ihr zusammengeschlossenen Landeskirchen zusammen mit den Freikirchen einen Beitrag zu den Bemühungen, in vielen Ländern Not zu lindern, Konflikte zu entschärfen und neue Perspektiven für ein friedliches Zusammenleben zu eröffnen. Ich nenne dafür nur zwei Beispiele.

Auch heute noch, zehn Jahre nach dem Inkrafttreten der neuen Verfassung in Südafrika, wird immer wieder an das Engagement der Ökumene für die Überwindung der Apartheid erinnert. Die Fortsetzung unseres Engagements im südlichen Afrika ist nach wie vor dringend geboten.

An diese Erfahrungen  knüpft der Einsatz für Frieden und Versöhnung im Sudan an. In der Region Darfur im Westen des Sudans greifen Hunger und Tod um sich und fordern unser unmittelbares Eingreifen heraus. Aber die Bevölkerung im Süden des Landes muss wenigstens keine Bombenangriffe der eigenen Regierung mehr fürchten. Über Funk haben Gemeindepfarrer im Sudan jahrelang jeden Bombenangriff und seine Folgen sofort an das ökumenische Forum Sudan gemeldet. Die EKD und andere Kirchen Europas ließen diese Berichte der sudanesischen Kirchen regelmäßig ihren Regierungen und der Europäischen Kommission zukommen. Das hat dazu beigetragen, dass die Lage im Südsudan wenigstens etwas friedlicher wurde. Der Ökumenische Rat der Kirchen und seine Mitgliedskirchen setzen sich auch weiterhin dafür ein, dass die Millionen von Flüchtlingen innerhalb und außerhalb des Landes wieder in ihr Land  zurückkehren können. Beten und Tun des Gerechten gehören zusammen.

4.

Mit Christen in Lateinamerika, in Afrika und Asien sind wir im Gebet verbunden. Das ist der tiefste Grund dafür, dass wir auf ihre Stimmen hören und ihre Stimmen zu Gehör bringen müssen. Von der globalen Vernetzung unserer Welt können wir deshalb auch nicht sprechen, ohne darauf hinzuweisen, dass die gegensätzliche Sicht auf die Globalisierung heute unsere Welt auseinander zu reißen droht. Was den einen als Chance erscheint, sehen die anderen als Gefahr. Das, wovon die einen wirtschaftlichen Fortschritt erhoffen, erfahren die anderen als eine weitere Stufe des Elends.

Viele Christen in der südlichen Hemisphäre sehen in der Globalisierung ein Machtinstrument der westlichen Welt, mit dem diese – neben dem Einsatz politischer und militärischer Mittel – ihre Weltherrschaft festigen und ausbauen will. Diese Sichtweise ist aus europäischer Perspektive nicht leicht zu akzeptieren. Sie ist eher nachzuvollziehen, wenn man sich auf die tatsächlichen Erfahrungen in Ländern der Dritten Welt einlässt und sich vor Augen führt, dass in einer großen Zahl dieser Länder massenhafte Armut und wirtschaftliche Perspektivlosigkeit den Alltag großer Bevölkerungsschichten bestimmen.

Doch richtig ist auch die Feststellung, zu der sich die Synode der EKD im Jahr 2001 ausdrücklich bekannt hat: Mit der Globalisierung wachsen auch die Chancen für ein neues Weltverständnis und ein globales Verantwortungsbewusstsein. Wir sehen im globalen Wirtschaften sowohl Risiken als auch Chancen und ziehen daraus den Schluss, dass die Chancen wahrgenommen und die Risiken tragbar gehalten werden müssen. Als Kirche orientieren wir uns politisch wie wirtschaftlich an der vorrangigen Option für die Armen; so wollen wir einen Beitrag dazu leisten, dass globale Wirtschaft verantwortlich gestaltet wird.

5.

Gemeinsam mit Kardinal Lehmann bin ich vor wenigen Tagen beim Katholikentag in Ulm für eine „Globalisierung der Solidarität“ eingetreten. Wir brauchen eine menschengerechte Entwicklung, die die Armut überwindet und das Los der Menschen lindert, die unter unwürdigen Bedingungen unterhalb oder auch nur am Rande des Existenzminimums leben.

Die internationale Gemeinschaft hat sich durch die Millenniums-Entwicklungsziele dazu verpflichtet, den Anteil der extrem Armen - noch immer verfügen weltweit 1,2 Milliarden Menschen über weniger als einen Dollar täglich! - bis zum Jahr 2015 zu halbieren. Nur mit großen Anstrengungen lässt sich dieses Ziel erreichen.

Dazu nenne ich als erstes die entschlossene Fortführung der Entschuldung. Die Initiative zugunsten hochverschuldeter armer Länder, die vor genau fünf Jahren vom Kölner Gipfel ausging, hat Erleichterungen und Fortschritte gebracht. Sie hat jedoch die selbst gesetzten Ziele noch nicht erreicht. Deshalb sind neben der verabredeten Verlängerung um zunächst zwei Jahre auch weitere Instrumente sehr wichtig wie insbesondere ein faires und transparentes Schiedsverfahren für überschuldete Länder. Es muss sicherstellen, dass die Lebensinteressen der notleidenden Menschen respektiert werden. Wir begrüßen deshalb die Absicht der Bundesregierung, sich für ein solches Verfahren international einzusetzen.

Zweitens wird ohne zusätzliche Finanzmittel das Ziel der Armutshalbierung unerreichbar bleiben. Gewiss muss man dafür auf unterschiedliche Finanzierungsquellen schauen; aber die öffentliche Entwicklungshilfe muss hierfür einen entscheidenden Anteil erbringen. Die deutsche Entwicklungshilfe kann die international zugesagte Quote von 0,33 Prozent des Bruttoinlandsprodukts nur durch eine deutliche Etatsteigerung erreichen. Im Interesse einer solidarischen Welt ist das ein wichtiges Ziel, das nicht aufgegeben werden darf.

Als drittes Handlungsfeld nenne ich schließlich die Gestaltung einer Welthandelsordnung, die geeignet ist, nachhaltige Entwicklung zu unterstützen. Die Entwicklungsländer müssen Zugang zu den Märkten im Norden finden und angemessene Erlöse für ihre Produkte erzielen, wenn die erforderliche Dynamik wirtschaftlicher Entwicklung ausgelöst werden soll.

In diesen Perspektiven setzen wir uns ein für eine verantwortbare Globalisierung, so definieren wir die Spielregeln der "global player": für eine Globalisierung der Solidarität. Als Christen halten wir die Freiheit hoch. Aber wir verstehen unter ihr nicht einfach die Maximierung des eigenen Nutzens, sondern den Einsatz dafür, dass das von Gott zugesagte „Leben in Fülle“ (Johannes 10,10) allen zugänglich wird.

6.

Diese Sicht der Kirchen gründet im Gebet. Durch das eine, weltumspannende Gebet, das Vaterunser, sind die Christinnen und Christen miteinander verbunden. Zweiundsechzig Worte umfasst dieses Gebet in unserer deutschen Sprache. Zweiundsechzig Worte sind es, durch die wir Gott die Ehre geben und auf sein Reich hoffen, durch die wir die Sehnsucht nach einem letzten Sinn verbinden mit der Bitte um das tägliche Brot.

Wenn wir das Vaterunser beten, setzen wir unsere Hoffnung nicht auf unsere unzulängliche menschliche Kraft, sondern auf Gott, den Schöpfer des Himmels und der Erde. Aber unsere Bitte um die Bewahrung vor dem Bösen bewegt uns zu dem uns möglichen Guten. Unsere Bitte um Vergebung der Schuld ruft uns in die Verantwortung. Unsere Bitte um das tägliche Brot weist uns an den, dem dieses Brot fehlt. Jemand, für den wir beten, kann uns nicht gleichgültig sein. Ohne das Gebet füreinander, ohne die Fürsorge für den Nächsten dagegen ginge unsere Gesellschaft zugrunde.

Dorothee Sölle hat dies einmal so formuliert: „Wo das Ich sich nur Gott gegenüber weiß, da hat es gut beten, fromm sein, loben und danken. Je tiefer es sich aber einlässt auf diese Welt mit ihrem Hunger, ihren Verkrüppelungen und Ängsten allerorts, umso mehr wird das Gebet dem Gebet Jesu ähneln, nämlich Bitte sein. Nur die, die beten, bleiben der Erde treu, nämlich ihren Schmerzen, nicht die Fluchenden und nicht die Stummen.“

Deshalb sind wir als „global player“ zuerst ein „global prayer“. Unsere erste Pflicht ist es, der Erde und den Menschen fürbittend treu zu sein.