„Protestantismus - Abgesang oder Zukunftsmodell?“

Wolfgang Huber

Dietrich-Boenhoeffer-Haus in Münster

I.
Die Protestanten in Münster feiern zweihundertjähriges Jubiläum. Eine  evangelische Gemeinde erinnert sich ihrer Geschichte, der erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts eine eigenständige Existenz möglich wurde. In jener Zeit neu gegründete evangelische Gemeinden mussten sich in aller Regel in einem vorwiegend katholischen Umfeld verwurzeln; sie haben deshalb besonders intensive Erfahrungen mit zunächst schwieriger und dann in wachsendem Maß gelingender Ökumene gemacht. Sie standen immer wieder vor der Aufgabe, die Notwendigkeit ihrer eigenen Existenz zu erklären und das besondere Profil zu verdeutlichen, das sie als evangelische Gemeinden in das ökumenische Miteinander einbringen wollen.

Gemeinden, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts eine eigenständige rechtliche Gestalt annehmen konnten, sind sodann dadurch geprägt, dass ihnen ein gewachsenes Verständnis für die individuelle Freiheit der Religion zu Gute kam. Die Vorstellung, dass der Landesherr auch über die Religion bestimmt, löste sich im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert schrittweise auf. Die freie Entscheidung für und auch gegen eine Konfession gewann an Boden. Sogar der Wechsel der Konfessionszugehörigkeit wurde möglich.  Protestanten haben von ihrer eigenen Geschichte her zu dieser Zunahme an persönlicher Freiheit ein positives Verhältnis.

Gemeinden, die vor zweihundert Jahren gegründet wurden, entstammen dem Zeitalter der Aufklärung. Sie stehen von ihrer Geschichte her für das protestantische Bündnis von Glauben und Vernunft; sie stehen für die bleibende Aufgabe, Religion und Bildung miteinander  zu verknüpfen. Dem geben Sie hier in Münster auch dadurch Ausdruck, dass Sie Ihr Jubiläum in Gestalt einer Vortragsreihe begehen. Ein Bildungsangebot, eine Anregung zum Nachdenken und zur eigenen Orientierung prägt Ihre Festveranstaltungen. Ich beteilige mich daran gern und überbringe Ihnen auf diese Weise  die Glückwünsche des deutschen Protestantismus in seiner Weite und Vielfalt.

Der selbstbewusste Umgang mit Pluralität, das mutige Einstehen für die Freiheit des Glaubens  und ein gepflegtes Verhältnis zwischen Glauben und Bildung: so lassen sich die drei Leitlinien bezeichnen, die ein solches Jubiläumsdatum nahe legt. Im dreifachen Ja zur Ökumene, zur Freiheit eines Christenmenschen  und zum Kulturauftrag der Kirche kann man die Konsequenz sehen, die aus einem solchen Jubiläum für die Zukunft zu ziehen ist. Doch einer solchen frohgemuten Zukunftsgewissheit stehen heute erhebliche  Zweifel und Bedenken entgegen. Ist der Protestantismus wirklich noch ein Zukunftsmodell? Erleben wir nicht eher einen Abgesang des christlichen Glaubens – gerade auch in seiner evangelischen Gestalt?  So fragt der Titel meines heutigen Vortrags.

II.
Nun mag man einem solchen Titel zunächst eine Gegenfrage entgegen halten: Wer singt denn da? Wer komponiert den Abgesang,  auf welcher Tonhöhe und mit welcher Melodie? Einer allzu wohlfeilen Rede vom Abgesang gegenüber wird man zunächst feststellen müssen: Die lautesten „Absänger“ sind mittlerweile heiser geworden oder ganz und gar verstummt. Man kann dies ohne alle Häme oder Schadenfreude, ohne  falschen „triumphalistischen Ton“ nüchtern sagen: Die sogenannten Groß- oder Metaerzählungen der Neuzeit, die das Ende des Christentums vorausgesagt, angekündigt und nachgewiesen hatten, beherrschen die geistige Szenerie nicht mehr.

Ob Sie nun an den neuzeitlichen Fortschrittsoptimismus denken mit seiner These, mit der Zeit werde Gott und Glauben schlicht überflüssig werden, oder an den Anspruch der Wissenschaften, die Welt wissenschaftlich auch ohne die Hypothese „Gott“ erklären zu können: inzwischen ist die Fraglichkeit der einen wie der anderen Position offenkundig geworden. Ob Sie sich an die Utopie einer klassenlosen Gesellschaft erinnern und an ihre Voraussage, die Religion als „Opium des Volkes“ werde sich von allein erledigen, wenn denn nur die Verhältnisse gerecht geworden seien, oder ob Sie an die pseudowissenschaftlich-darwinistische  Weltanschauung der Nazi-Zeit denken mit ihrem Ziel, mit der Kraft der arischen Rasse nicht nur das Judentum auszurotten, sondern auch den schwächlichen Geist des Christentums: solche totalitären Ideologien haben sich selbst widerlegt. Um die Großerzählungen der letzten Jahrhunderte ist es still geworden, es hat ihnen im wahrsten Sinne des Wortes die Stimme verschlagen.

Dieses Ende der Meta- oder Großerzählungen, welches die Philosophie der Postmoderne beispielsweise in Gestalt ihres Vordenkers Lyotard beschrieben hat, trifft jedoch auch die christliche Großerzählung, denn auch Gott und Glaube, Jenseits und Hoffnung haben erheblich an allgemeiner Plausibilität verloren. Der Glaube hat in einem zweihundert Jahre andauernden Säkularisierungsprozess gerade in Europa seine Selbstverständlichkeit verloren. Auch in den Kirchen selbst finden sich oft nur noch rudimentäre, patchwork-ähnliche Formen von Glaubenswissen. Die Auflösung der modernen Metaerzählungen findet in Europa die Kirchen in einem Zustand, den man ohne Übertreibung als einen Zustand der Glaubenskrise bezeichnen kann. Insbesondere die evangelischen Kirchen haben sich im Sog eines allgemeinen Säkularisierungsprozesses Tendenzen zur Selbstsäkularisierung ausgeliefert. Es fehlt ihnen häufig an der Konzentration auf das, was allein sie vertreten können: die Orientierung an der Wirklikchkeit Gottes und das Vertrauen auf seine Zukunft.

Doch zugleich – und daraus erklärt sich die innere Spannung unserer Zeit – erleben wir eine neue Zuwendung zur Religion. Das neue Fragen nach einem verlässlichen Halt und Sinn für das eigene Leben adressiert sich oft nicht sogleich an die Kirchen; zu stark ist der Zweifel vieler Menschen daran, dass sie von den Kirchen hilfreiche Antworten zu erwarten haben. Aber immer stärker richten sich solche Fragen auch an die Kirchen. Die Erschütterungen durch neue Formen eines religiösen Fundamentalismus, die wir seit dem 11. September 2001 erlebt haben, sind für viele zum Signum einer neuen Epoche geworden. Ein neuer Totalitarismus zieht am Horizont auf; er trägt nun nicht mehr die Maske der Religionskritik, sondern der Religion. Immer deutlicher spüren wir: Auf diese neue Herausforderung mit religiösem Analphabetismus zu antworten, ist unzureichend. Klarheit über die eigene religiöse Identität ist gefragt. Wie ein Glaube aussieht, der für die Unantastbarkeit der menschlichen Würde und des menschlichen lebens einen verlässlichen Halt bietet, wird heute gefragt. Es ist an uns, auf solche Fragen Antworten zu geben.

III.
Ohne selbstkritische Prüfung geht das nicht ab. Deshalb sollten wir uns nicht damit beruhigen, dass die großen Theorien über das Ende der Religion der Vergangenheit angehören. Der Abgesang aufs Christentum ertönt auch heute. Auf zwei Formen, in denen er jüngst laut wurde, will ich besonders aufmerksam machen.

Zuerst will ich den fundamentalphilosophischen Abgesang auf das Christentum nennen, eine Art des prinzipiellen Abschieds vom Christentum. Besonders laut wurde er im Sommer 2000 von dem Berliner Philosophen Herbert Schnädelbach in der ZEIT gesungen. Sein Resümee hieß: „Der letzte Dienst, den das Christentum unserer Kultur nach 2000 Jahren zu leisten vermag, sei sein Verlöschen!“ Denn solche Selbstaufhebung ist nach Schnädelbachs Auffassung die einzig richtige Konsequenz aus den sieben Geburtsfehlern dieser alt gewordenen Weltreligion. Die sieben Geburtsfehler - in ihrer Stückzahl entsprechen sie natürlich den traditionellen sieben Totsünden - sind diejenigen Fehler, die „nicht trotz, sondern wegen des Christentums geschehen“ sind: „Die Täter haben dabei nicht gegen dessen Prinzipien verstoßen, sondern nur versucht, sie durchzusetzen.“ Diese sieben genetischen Schäden sammeln alle klassischen Einwände der Religionskritik gegen das Christentum:

Die Erbsündenlehre sei im Kern menschenverachtend, die Rechtfertigungslehre ein verquaster Blutkult, die Mission nur die Verbrämung eines prinzipiellen Toleranzverbotes. Der christliche Antisemitismus sei der direkte Zubringer zum Holocaust und die christliche Eschatologie lediglich die Begründung eines apokalyptisches Terrorregimes des Guten gegen alles vermeintlich Böse. Die unsachgemäße Integration des Platonismus ins Christentums und der unredliche Umgang mit der historischen Wahrheit runden das Bild einer durch Geburtsfehler unbrauchbar gewordenen Weltreligion ab. Entsprechend fällt die „kulturelle Bilanz des Christentums“ vernichtend aus; die berühmte „Kriminalgeschichte des Christentums“ von Karlheinz Deschner nimmt sich im Vergleich mit Schnädelbachs Bilanz  geradezu wie ein Poesiealbum aus.  Denn Schnädelbach erhebt die schrecklichen Irrwege und die beschämenden Schuldverstrickungen in der Geschichte des Christentums zum Prinzip. Aus diesem Prinzip heraus darf es freilich für ihn positive kulturelle Wirkungen des Christentums grundsätzlich nicht geben. Diese undifferenzierte Beurteilung der vermeintlich ausschließlich „gnadenlosen Folgen des Christentums“ (Carl Amery) hat natürlich heftige Kritik auf sich gezogen; sie ist in dieser Einseitigkeit auch unhaltbar. Die These von den unheilbaren Geburtsfehlern des Christentums verstellt den Blick auf die segensreichen Wirkungen des Christentums; genau deshalb erschwert sie aber auch die notwendige kritische Auseinandersetzung mit den Irrwegen der Kirchen, statt sie zu befördern.

Neben diesen prinzipiellen Einwänden gegen das Christentum gibt es eine zweite Gattung von Abgesang, die eher historisch als prinzipiell ansetzt. Sie konzentriert sich auf das geschichtliche Argumentat, dass das Christentum früher vielleicht einmal eine wichtige Rolle gespielt haben mag, aber in der heutigen Welt und im modernen Europa ausgedient habe und funktionslos geworden sei. Diese These wurde zuletzt im Jahre 2003 eindrücklich von Burkhard Müller in der Süddeutschen Zeitung unter dem Titel „Wir sind Heiden“ vertreten. Sein Artikel hat gleichsam eine ganze Kakophonie von Stimmen freigesetzt, die sich alle auf seine kritische These bezogen, dass sich das zukünftige Europa nicht auf christliche Werte berufen könne, da das Christentum bestenfalls eine Art „kosmische Hintergrundstrahlung“ eines längst vergangenen geistigen Urknalls sei, heute jedoch alle Kraft und Wirkung verloren haben und nur noch museales Interesse verdiene. Denn nüchtern - so Müller - müsse man doch feststellen: „Alles, was heute als Freiheitsrecht des Individuums gilt, musste mit Gewalt gegen die Christen durchgesetzt werden.“ Das Christentum sei also eine Art „tote Voraussetzung“, deren man mit einer gewissen „Pietät“ gedenken könne; aber eine aktuelle Dankespflicht bestehe nicht. Das Christentum gleiche einem alten Korallenstock, auf dem ein neuer Palmenhain gewachsen sei. Europa habe „die Nabelschnur zur Religion, die es durch die tausendjährige Schwangerschaft des Mittelalters getragen hat, endgültig getrennt.“ Europa ist „der gottlose Kontinent“ par excellence und wir sind Heiden.

Mir kommt es so vor, als wäre eine solche Zeitdiagnose vor der Wende vom 20. zum 21. Jahrhundert stehen geblieben. Sie lebt von der Vorstellung, als könne allein Europa als Kontinent sich Religion, das Megathema des 21. Jahrhunderts, vom Hals halten. Sie ignoriert die Tatsache, dass Tod und Leben, Schuld und Versöhnung auch für Europäer grundlegende Themen des persönlichen Lebens bleiben, die sich nicht länger mit einer fortschrittsoptimistischen Handbewegung bei Seite wischen lassen. Dass es in einer solchen Situation gute Gründe für ein differenzierteres Urteil gibt, lässt sich beispielhaft daran ablesen, dass ein so ausgewiesener Verfechter der Projekts der Moderne wie Jürgen Habermas, der sich dezidiert als „religiös unmusikalisch“ bezeichnet, die säkulare Gesellschaft dazu ermahnt, der „schleichenden Entropie der knappen Ressource Sinn“ entgegenzuwirken. Er sieht den Lösungsweg darin, dass man die religiöse Sinnsprache durch „rettende Formulierungen“ in säkulare Einsichten transformiert. Angesichts der großen Herausforderungen durch die modernen Lebenswissenschaften tritt Habermas dafür ein, den Glaubensgemeinschaften zumindest ein aufschiebendes Veto zuzuerkennen, damit die Gesellschaft prüfen kann, ob nicht in diesem Veto ein Wissen um das Geheimnis des Menschen aufbewahrt ist, das auch im Umbruch wissenschaftlicher  Möglichkeiten gewahrt werden soll. Und auch im Blick auf die heute notwendigen Religionsdialoge  werden wir heute gemahnt, die evangelische Kirche möge doch ihr protestantisches Prinzip in die Waagschale  werfen, um einen Beitrag zur „Entfundamentalisierung des Religiösen“ zu leisten. Im Gegensatz zu Burkhard Müllers These von der Religion, nach der niemand mehr fragt, lässt sich geradezu feststellen, dass so manches Mal die Fragen klarer sind als die Antworten.

Allerdings steht im Herzen der Argumentation von Burkhard Müller eine Beobachtung, mit der viel schwerer umzugehen ist als mit der prinzipiellen Argumentationsweise Herbert Schnädelbachs. Denn Müller begründet seine Sicht mit dem Hinweis auf die innere Schwäche des Christentum, auf seine fehlende Kraft, auf mangelnde Ausstrahlung und ermüdete Glaubensglut. Müller macht diese innere Erschöpfung an unseren großen Kirchen anschaulich, die „nicht nur schwach besuchte, sondern auch kleinmütige, leise Veranstaltungen“ beheimateten, denen „der Schwung, der Nachdruck“ fehle. Die prachtvollen, pathetischen Kirchengebäude in bester Lage der Städte wirkten heute wie Riesen-Parkhäuser auf Helgoland, wie Einkaufszentren in der Sahara.

IV.
Ich gebe zu, dass mir diese These von der inneren Erschöpfung des Christentums in Europa deswegen sehr zusetzt, weil diese Ermüdungserscheinungen ja tatsächlich kaum zu leugnen sind. Wir haben es mit einer Tendenz zur Selbst-Säkularisierung und Selbst-Musealisierung zu tun. In weiten Teilen unserer Kirche nehme ich ein zögerliches, vorsichtiges, suchendes Sich-Ausstrecken nach Gott wahr, das lange nicht mehr die Gottesgewissheit zu erreichen vermag, die in den Liedern und Texten unserer Väter und Mütter aufscheint. Bin ich ungerecht, wenn ich sage: Jedenfalls in Mitteleuropa leben wir heute in einer eher „glaubenschwachen Zeit“? Glauben in Zeiten einer Gottesfinsternis, müsste so unsere Partitur heißen? Hat Gott sich von diesem rational-aufgeklärten und wirtschaftstaumeligen Großraum Europa abgewandt? Jedenfalls sind uns doch viele Glaubensgewissheiten abhanden gekommen, Glaubensinbrunst und Glaubensstärke sind kleinlauter als früher. Nicht wenigen fröhlichen Christenmenschen zerfließt der Glaube zwischen den Fragen wie der Sand zwischen den Fingern. Manchmal denke ich, wir erleben – übrigens durchaus in ökumenischer Gemeinsamkeit – als Kirche eine Glaubenskrise, wie viele Menschen sie auch individuell aus ihrer persönlichen Biographie kennen.

Eben aus solchen persönlichen geistlichen Krisen kann man auch erahnen, was getan werden kann, um nicht weiter zu vertrocknen. Der Glaube muss sich auf seine innere Mitte konzentrieren, muss sich vergewissern über seinen „Markenkern“. Als Protestanten tun wir gut, uns die zentralen Einsichten der Reformation zu vergegenwärtigen, damit wir wieder Kurs aufnehmen und die richtige Liedstrophe für die Zukunft finden können.

Was also ist der ursprüngliche Glutkern des Protestantismus? Was können wir einbringen in das geistige Kräftespiel der modernen Welt und den Dialog der Religionen?  Unter der Vielzahl der möglichen Antworten greife ich eine heraus, die an ein aktuelles Ereignis anknüpft.

In diesen Tagen erhält der „Lutherfilm“ von Eric Till die „Goldene Leinwand“, weil er es in seiner kurzen Laufzeit bereits auf mehr als  drei Millionen Besucher gebracht hat. In diesem Film findet sich eine zwar vermutlich unhistorische, aber doch sehr eindrückliche Szene. In einem unvergesslichen Bild veranschaulicht sie den Kern der reformatorischen Einsicht. Der junge Mönch Martin Luther beerdigt einen Selbstmörder, und predigt einer ängstlichen Gemeinde aus Totengräbern und zufälligen Zuhörern von Gottes unendlicher Barmherzigkeit, die größer ist als all unser weltliches Urteilen. Hier ist die reformatorische Entdeckung der freien Gnade Gottes in ein knappes Bild gefasst; Dieses Bild veranschaulicht den entscheidenden reformatorischen Durchbruch, der zur Triebfeder für den Aufbruch aus dem Mittelalter wurde. Jedem Menschen wird von Gott eine ebenso unverdiente wie unantastbare Würde zugesprochen. Weil diese Würde in der Beziehung Gottes zu seinen Geschöpfen wurzelt und nicht in den Leistungen des Menschen selbst ihren Grund hat, kann der Mensch sich zu ihrer Unantastbarkeit bekennen. In dieser unantastbaren Würde des Menschen sind die Gewissensfreiheit und der Glaubensmut verankert, für welche die Reformation ein unvergessliches – und nun zugleich historisches – Symbol geschaffen hat. Ich meine natürlich Martin Luther auf dem Reichstag in Worms 1521, der sich vor Kaiser und Reich zur freien Erkenntnis des Glaubens nach bestem Wissen und Gewissen bekennt:  Hier stehe ich, ich kann nicht anders. Gott helfe mir. Amen. 

Die reformatorische Grunderkenntnis ist der entscheidende Maßstab für den kritischen Umgang mit den geschichtlichen Irrwegen der Kirche, übrigens die Irrtümer des Reformators Martin Luther selbst eingeschlossen. Nicht erst, wenn man den Abschied vom Christentum verkündet hat, ist man zu einer solchen kritischen Auseinandersetzung im Stande; sie ist vielmehr unausweichlich, wenn man den christlichen Glauben selbst, gerade auch in seiner reformatorischen Gestalt, ernst nimmt. Die Kirche hat ihre eigene Schuld zu bekennen, wo immer sie die Gleichheit der Menschen vergessen, die Verletzung der Gerechtigkeit verschwiegen, die königliche Freiheit der Kinder Gottes verachtet hat. In der Kirche wie jenseits ihrer Grenzen wird sich kein Maßstab finden, der für solche selbstkritische Aufklärung eine radikalere Basis abgäbe als die Botschaft von Gottes freier Gnade selbst. Die kritische Betrachtung des Weges der Kirche führt deshalb nicht vom Evangelium weg; sie führt vielmehr tiefer in das Evangelium hinein.  Ich sage dies zunächst im Blick auf die evangelische Kirche. Doch ich wage es, diese Einsicht auch ökumenisch auszuweiten: Wir haben in den Kirchen eine beschämend lang dauernde Lerngeschichte hinter uns bringen müssen, bis wir mit dem reformatorischen Freiheitsimpuls im eigenen Bereich konstruktiv umzugehen und auch seine gesellschaftlichen Folgen zu bejahen vermochten. Jetzt aber wollen wir festhalten, was uns an Erkenntnis zugewachsen ist.

Oft ist die reformatorische Erkenntnis in dem vierfachen Allein gebündelt worden: allein Christus, allein die Schrift, allein die Gnade, allein aus Glauben. Vor siebzig Jahren hat die Bekennende Kirche in der Barmer Theologischen Erklärung diese Erkenntnis neu zur Sprache gebracht. Allein Christus bildet das organisierende Erkenntnisprinzip reformatorischer Glaubenserkenntnis. In Barmen ist das vor siebzig Jahren programmatisch so aufgenommen worden, dass Jesus Christus allein als das Wort Gottes bekannt wird, „das wir zu hören, dem wir im Leben und im Sterben zu vertrauen und zu gehorchen haben.“ Allein die Schrift verweist auf das kritische Prinzip, das den christlichen Glauben davor bewahren soll, neben der heiligen Schrift andere, gleichrangige Erkenntnisquellen anzuerkennen. Dem gemäß hat die Barmer Theologische Erklärung die falsche Lehre verworfen, „als könne und müsse die Kirche als Quelle ihrer Verkündigung außer und neben diesem einen Worte Gottes auch noch andere Ereignisse und Mächte, Gestalten und Wahrheiten als Gottes Offenbarung anerkennen.“ Allein die Gnade verweist darauf, worin der Glaube an Gott sein Wesen hat: nämlich darin, dass wir uns ganz und gar Gottes grundloser Barmherzigkeit anvertrauen und deshalb, um wieder Barmen zu zitieren, „die Botschaft von Gottes freier Gnade ausrichten an alles Volk.“ Allein aus Glauben verweist auf das Bild vom Menschen, dessen Menschlichkeit nicht daran gemessen wird, in welchem Maß er mit Vernunft begabt ist und wie er seine eigenen Präferenzen zum eigenen Nutzen durchsetzt; vielmehr wird seine Menschlichkeit darin begründet und dadurch geschützt, dass Gott ihn als sein Ebenbild anredet und ihm die Fähigkeit verleiht, auf diese Anrede zu antworten. In diesem vierfachen Allein haben wir es bis heute mit einer Mitte, einem Kern, einer Glut zu tun, die vielleicht unter mancher Asche verborgen ist, die aber nach wie vor ein beträchtliches Feuer zu entfachen vermag.

V.
Es liegt nun auf der Hand, dass von diesem rechtfertigungstheologischen Glutkern aus und von der Kirche des Wortes, die sich um diese Glut herum gesammelt hat, die Errungenschaften der modernen Welt in ein ganz eigenes Licht treten. Weder wird man behaupten wollen oder können, dass diese moderne Welt unter Einschluss all ihrer Schatten und Ambivalenzen prinzipiell nichts mit dem reformatorischen Aufbruch zu tun habe (wie Schnädelbach behauptete), noch wird man sagen wollen oder können, dass die reformatorische Einsicht lediglich „der Schoß sei, der nun unfruchtbar“ geworden ist (wie Burkhard Müller meinte). Denn die Errungenschaften der Moderne sind weder Gegner oder Feinde des Glaubens noch sind sie Bastarde oder missratene Zöglinge, sondern sie sind „Fleisch von unserem Fleisch und Bein von unserem Bein“, wenn auch in verwandelter Gestalt und frei gelassener Form. Natürlich, auch die Reformationskirchen mussten immer wieder neu lernen, all die modernen Erfindungen wie Freiheit, Individualität und Autonomie, wie die Trennung von Staat und Kirche, von Politik und Religion, von Glaube und Bürgerrechten als ihre eigenen, selbstständig gewordenen Kinder zu erkennen. Und natürlich machen manche dieser Kinder auch uns als Kirche enormen Kummer, denn was ursprünglich als Autonomie in die Welt trat, ist heute nicht selten ein radikaler Ich-Trip ohne Verantwortlichkeit und Bindung. Und was als Trennung von Staat und Kirche begann, ist heute oftmals ein Laizismus, der alle religiöse Überzeugung aus dem öffentlichen Raum eliminieren möchte.

Aber das Umgekehrte gilt es auch festzuhalten: Eine Kirche, die sich zuerst auf Wort und Glaube konzentriert, hat einen institutionskritischen Grundimpuls in sich, der einen starken religiösen Individualismus freisetzt, sich aber auch in vollständige Institutionenfremdheit verselbständigen kann. Eine Kirche des Wortes legt großen Wert auf das Verstehen des Glaubens, sie schließt Bündnisse mit Humanismus und Bildung und geht einen freundschaftlichen Pakt ein mit der frei gewordenen Wissenschaft. Das kann dazu verführen, vom Geheimnis des Glaubens gering zu denken und „Gott als Geheimnis der Welt“ gering zu schätzen. Es gab Phasen in der Geschichte des Protestantismus, in denen er sich selbst einem Fortschrittsoptimismus auslieferte, der auf die Errungenschaften der Wissenschaften größere Hoffnungen setzte als auf die Wirklichkeit Gottes. Demgegenüber haben wir wieder zu einer nüchternen Einschätzung der modernen Wissenschaft mitsamt ihren bisweilen anmaßenden oder auch leichtsinnigen Folgen finden müssen. Und doch bleibt es eine Stärke des Protestantismus, dass das Evangelium von Gottes Barmherzigkeit weder den freien Geist noch die Neugier der Wissenschaft zu fürchten braucht. Daraus erklärt sich das produktive Verhältnis, das der Protestantismus zur geistigen Entwicklung in der Neuzeit entwickelt hat – sei es dass er sie intiiert, sei es dass er sie kritisch korrigiert hat. Gewiss haben Protestanten auch manche Zeitgeistkatastrophe mitvollzogen; aber das soll uns doch nicht blind machen für die Einsicht, dass es gerade auch die evangelischen Kirchen waren, die das Evangelium Gottes gegenüber dem philosophischen und wissenschaftlichen Diskurs einer jeweiligen Generation bezeugt und vertreten haben. Die Reformationskirchen haben das Projekt der Aufklärung nicht nur beklagt oder verdrängt, sondern auch aufgenommen, ihm Einlass in ihr eigenes theologisches Denken gewährt und es vor Gott zu verantworten gesucht. Die großen Theologen der zweihundert Jahre, auf die Sie hier in Münster zurückblicken, von Daniel Friedrich Ernst Schleiermacher bis Karl Barth, von Ernst Troeltsch bis Rudolf Bultmann, von Adolf Harnack bis Dietrich Bonhoeffer, nach dem dieses Haus heißt: sie alle stehen für die Bereitschaft des evangelischen Glaubens, die Aufklärung nicht auszugrenzen, sondern Glauben und Aufklärung vor Gott und dem Evangelium zusammen zu denken. Natürlich hat die evangelische Kirche bisweilen auch antiaufklärerisch und antimodernistisch agiert; aber aufs Ganze gilt es festzuhalten, dass der Glutkern der Reformation eine besondere Nähe zu dieser modernen Welt hat, die auch unsere Kirchen in besondere Herausforderungen und Aufgaben stellt.

VI.
Diese Überlegung zur besonderen Nähe der reformatorischen Kirchen für das moderne Europa bildet nun auch die Basis für die Beantwortung der Frage, was sie denn zukünftig beizutragen haben zur Zukunftsfähigkeit der Welt, in der wir leben. Meine These lautet: Die aus der Reformation hervorgegangenen Kirchen sind darin ein Zukunftsmodell, dass sie sich gleichsam als derjenige Arm Jesu Christi verstehen, der das Evangelium vom barmherzigen Gott in der modernen, aufgeklärten Welt zu bezeugen hat. Unsere Kirche hat die besondere Aufgabe, gleichsam die Berufung, in größter, wenn auch keineswegs unkritischer Nähe zur modernen, säkularen und wissenschaftsoffenen Welt Gott zu bezeugen. Darin liegt eine der Aufgaben, die sie stellvertretend für die ganze christliche Ökumene, stellvertretend für die eine, weltweite Kirche Jesu Christi wahrzunehmen hat. Das Gewicht dieser Aufgabe geht keineswegs zurück; sie nimmt vielmehr zu, wie der Blick auf gegenläufige Entwicklungen zeigt. Solche gegenläufige Entwicklungen zeigen sich ja nicht nur bei „wiedergeborenen“ Christen in den USA oder pfingstlerischen Kirchen in Lateinamerika. Sie zeigen sich auch in manchen Strömungen in der östlichen Orthodoxie wie im westlichen Katholizismus.

Doch diese Offenheit für Freiheit und Mündigkeit, für Säkularität und Wissenschaft schließt die Einsicht in das gerade heute notwendige Grenzbewusstsein ein. Das eine Licht Jesu Christi soll auch gesehen und bezeugt werden in einer diesseitig gewordenen, wissenschafts-, wirtschafts- und machbarkeitsorientierten Welt, die die Sinnressourcen, die sie braucht, selbst nicht herzustellen vermag. Der Protestantismus ist in meinen Augen der stellvertretende Weg, einen aufgeklärten Glauben bzw. eine gläubige Aufklärung unter den Bedingungen der modernen Welt zu bezeugen.  Doch das schließt die Aufgabe ein, die „Aufklärung der Aufklärung“ zu betreiben und die Grenzen des Machbaren zu erinnern. Wenn wir Menschen Gott nicht mehr als unser Gegenüber haben, wenn wir Gott nicht als Begrenzung unseres Seins als ‚homo faber’, unseres Machermenschentums und unseres Menschenmachertums ansehen können, dann müssen wir alle anderen als Helden überragen, als Tugendhelden, Wirtschaftshelden, Politikhelden, immer aber und auf  jeden Fall als Heldinnen und Helden. Wenn uns das Hören auf Gottes Wort erst einmal abhanden gekommen ist, bleibt uns Menschen nicht viel anderes übrig, als die Befreiung der Welt zu gerechten Strukturen allein von uns selbst zu erwarten und uns eben damit hemmungslos zu überfordern.

Der sich allmächtig dünkende Mensch verliert Maß und Mitte. Ihm möchte man das wunderbare Morgenlied von Paul Gerhardt entgegen halten: „Die güldene Sonne voll Freud und Wonne, bringt unseren Grenzen mit ihrem Glänzen ein herzerquickendes, liebliches Licht.“ Da heißt es nicht: "bringt unseren Stärken mit ihrem Glänzen ein herzerquickendes, liebliches Licht." Von unseren Grenzen ist vielmehr die Rede. Gottes Geist versöhnt uns mit unseren Grenzen, er ist kein Steigerungsmittel, kein Leistungsverdoppler, kein Medaillenspiegeloptimierer. Sondern „deinen Grenzen schafft er Frieden“, wie es im 147. Psalm heißt. In einer Zeit, in der das Klonen von Menschen wieder so sehr in greifbare Nähe gerückt wird, erlaubt schon jenseits des Kanals, diskutiert auch in unserem Land, fehlt es nicht an praktischen Beispielen, an denen die Bedeutung eines solchen Grenzbewusstseins deutlich gemacht werden kann.

Im Blick auf die ökumenische Situation in unseren Breiten bleiben wir dabei, dass wir einer aufgeklärten, kritikfähigen und offenen Kirche das Wort reden. Deswegen werden wir auch in Zukunft im Dialog mit der römisch-katholischen und den orthodoxen Kirchen daran festhalten, dass es beim Mühen um die sichtbare Einheit der einen Kirche Jesu Christi zuallererst um die gegenseitige Anerkennung legitimerweise unterschiedlicher Glaubenseinsichten und kirchlicher Lebensformen geht. Es wäre ein großer ökumenischer Fortschritt, wenn wir uns nicht gegenseitig als defizitäre Formen des Christseins betrachten, sondern als legitime Vielfalt innerhalb der einen Wahrheit Jesu Christi, die zu besitzen - Gott sei Dank - niemanden gegeben ist. Deswegen bleibe ich dabei, dass die jüngste ökumenische Schrift des Rates der EKD „Kirchengemeinschaft nach evangelischen Verständnis“ ein weiterführender Ansatz ist, weil er uns dazu ermutigt, die unleugbaren Unterschiede zwischen den christlichen Kirchen zu achten, ohne sie zu voreilig als Gegensätze zu deklarieren. Dass uns hier noch spannende Schritte bevorstehen, wurde mir bei dem Besuch in Rom deutlich, zu dem Kardinal Kasper mich vor kurzem eingeladen hat – bei jenem Besuch, bei dem ich auch Papst Johannes Paul II. begegnen konnte. Ein Gespräch über die vermeintlichen oder wirklichen Unklarheiten unseres evangelischen Amtsverständnisses mit Kardinal Kasper veranlasste mich zu dem Hinweis, dass auch ein besser geklärtes evangelisches Amtsverständnis die Ordination von Frauen mit großer Gewissheit einschließen werde. Spätestens an dieser Stelle war deutlich, dass wir auch nach einem solchen Klärungsprozess mit Unterschieden in der Amtsfrage werden leben müssen. Zur wechselseitigen Anerkennung und Achtung, so bin ich überzeugt, gibt es keine Alternative.   

Auch in den Dialog der Religionen haben wir – ganz gewiss ohne Überheblichkeit – diesen Ton protestantischen Grenzbewusstseins einzubringen. Denn die Befriedung der Religionen hängt auch daran, dass wir ein aufgeklärtes, selbstkritisches und lernbereites Verständnis von Religion nicht nur bei uns entwickeln, sondern auch von anderen einfordern. Die Trennung von Staat und Kirche, von Politik und Religion, von Zeugnis und Gewalt muss zur Grundbedingung für jede Religion werden. So sehr uns manche dieser Religionen auch an Glaubenskraft und Zeugnisbereitschaft überlegen sein mögen, wir müssen die Einsichten, die der christliche Glaube im Laufe seiner durchaus auch beschämenden Geschichte angesammelt hat, weitergeben. Und an dieser Stelle sollten wir auch nicht zu schüchtern oder zu verzagt auftreten, denn es müssen doch hoffentlich nicht alle Religionen alle Fehler und alle Abgründe der Christentumsgeschichte wiederholen, um zu den Grundsätzen einer „aufgeklärten Religion“ zu gelangen. Deshalb werde ich auch nicht aufhören, im Dialog mit dem Islam in Deutschland deutliche Signale  einer überzeugenden Kritik an der religiösen Rechtfertigung von Selbstmordattentaten oder Terrorakten zu erbitten. Denn eine andere Autorität steht im Dialog der Religionen nicht zur Verfügung als allein die Autorität der Bitte.

VII.
Es sind vier Aufgaben, die für die Zukunftsfähigkeit des Protestantismus entscheidende Bedeutung haben:
Erstens leben wir in einer Zeit, in der dem Missionsauftrag der Kirchen ein neuer Sinn zuwächst; ihre Überzeugungsarbeit ist gefragt. Ganz besonders gilt das auch von den Christen im Alltag des Lebens. Denn der Glaube ist in unserer Gesellschaft weithin privatisiert; die eigene Glaubensbindung wird allenfalls noch bei den Übergangsriten des Jahres- und Lebenslaufs öffentlich wahrnehmbar. Die Kluft zwischen privatisierter Religion und öffentlicher Kirche ist in den letzten Jahrzehnten gewachsen. Diese Kluft wieder zu verringern, gehört zu den großen, keineswegs leicht zu lösenden Aufgaben. Glaubenscourage ist nötig, wenn man – ohne Bekehrungspenetranz – auch im öffentlichen Leben, im Beruf oder in den persönlichen Beziehungen sein Christsein erkennbar machen will. In dieser alltäglichen Gegenbewegung gegen die Privatisierung des Glaubens sehe ich eine der wichtigsten Aufgaben bei der Neubestimmung der kulturellen Kompetenz des Christentums.

Ein zweiter Aspekt liegt darin, dass wir die unvermeidliche Kürzungs-, Reduktions- und Einsparungsphase, durch die wir als Kirche gehen, nicht so enden lassen, dass wir uns auf unsere Kerngemeinde und in unsere Kirchenmauern zurückziehen. Um mich an eine berühmte Formulierung Schleiermachers anzulehnen: Der Knoten der Spargeschichte sollte nicht so auseinander gehen, dass die Kirche mit dem Sparen und die Kultur mit der Barbarei der Schulden auseinander gehen. Der Anspruch, dass wir als Kirche selbst mit einer geringeren Zahl an Gemeinden und Gemeindegliedern die ganze Kirche Jesu Christi und die Kirche Jesu Christi ganz repräsentieren, hängt nicht an der Zahl der Mitglieder oder an der Höhe des Kirchensteueraufkommens, sondern an unserem Auftrag, „die Botschaft von Gottes freier Gnade auszurichten an alles Volk“. Gut von Gott zu reden und dem Nächsten Gutes zu tun, diese beiden Grundvollzüge von Kirche bleiben auch dann auf alle Menschen bezogen, wenn die Zahl der Menschen kleiner wird, die diese beiden Grundhandlungen selbst kennen und stellvertretend für andere vollziehen.

Ein dritter Aspekt soll ebenfalls betont werden: Kulturelle Kompetenz und missionarische Öffnung sind die Perspektiven, von denen aus der Weg der Kirchen in der Mitte Europas in den Blick genommen werden muss. Damit wird das Tun des Gerechten nicht zweitrangig. Die Präsenz der Kirche in der Gesellschaft und ihr Handeln zugunsten derer, die nicht für sich selber sprechen können, wird nicht ins zweite Glied gerückt. Immer werde es Menschen geben, die beten, das Gerechte tun und auf Gottes Zeit warten, so hat Dietrich Bonhoeffer im Gefängnis Adolf Hitlers betont. Das Tun des Gerechten hat er damit eingespannt in einen Bogen, der durch die Haltung des Gebets und durch das Warten auf die Zeit Gottes bestimmt ist.

Diese Haltung kann die Christenheit über die Grenzen der verschiedenen Konfessionen miteinander verbinden. Es ist klar, dass wir von Kirche unter Absehen von ihrem ökumenischen Horizont nicht mehr reden können. Der Ökumenische Kirchentag im Sommer 2003 war in dieser Hinsicht eine ermutigende Erfahrung. Das erreichte Maß ökumenischer Gemeinsamkeit ist ein hohes Gut, das zu bewahren und weiterzuentwickeln wir alle miteinander verpflichtet sind. Zugleich ist zu wünschen, dass in Caritas und Diakonie deutlicher zum Leuchten kommt, inwiefern sie eine Ausdrucksform des Glaubens und nicht nur ein Beitrag zum Funktionieren des Sozial- und Wohlfahrtsstaats sind, wenn wir als Kirche das Tun des Gerechten selbst exemplarisch vollziehen. Zu wünschen ist, dass der Zusammenhang zwischen Diakonie und Seelsorge deutlicher spürbar wird. Zu wünschen ist, dass die Diakonie ihren Ort in der missionarischen Situation der Gegenwart bewusst bejaht.

Der vierte und letzte Aspekt heißt so: Unser Beten führt in das Tun des Gerechten; und wo Gerechtigkeit geschieht, ereignet sich ein Vorschein der Zeit Gottes, auf die wir warten. Deshalb ist die Kirche Jesu Christi von Anfang an feiernde, lachende, befreite und getroste Kirche. Durch Konzentration auf das Wesentliche wollen wir das Feuer wieder entfachen, das in der reformatorischen Glut unserer Kirche enthalten ist. Wir wollen die geistliche Substanz wieder frei legen, um die es damals ging und heute geht. Und wir wollen Gottes freie Gnade  verkündigen, damit Menschen ihre Freiheit wahrnehmen und nach ihr leben. In dieser Freiheit können sie Gott Gott sein lassen, weil sie nicht mehr selbst Gott spielen müssen. Sie können menschlich werden und handeln – in Verantwortung vor Gott und den Menschen. Und sie können sich beteiligen  am Leben und am Neuaufbau einer Kirche, die das zum Leuchten bringt, was sie selbst trägt: Ein fröhliches Herz und einen zuversichtlichen Glauben. Denn dann können wir Christen auch eintreten für eine solidarische Gemeinschaft, in der die Wahrnehmung des Fremden so wichtig ist wie das Eintreten für die Schwachen und das Fechten für die Lebensrechte derer, die nach uns kommen.

Für diese Aufgabe können auch wir die Glaubenscourage in Anspruch nehmen, für die Martin Luther stand und aus der heraus er mit aufrechtem Blick sagte: Hier stehe ich, ich kann nicht anders. Gott helfe mir. Amen.