Grußwort zur Eröffnung des Deutschen Pfarrerinnen- und Pfarrertags in Magdeburg am 27. September 2004

Wolfgang Huber

Vor fünfundzwanzig Jahren habe ich zum ersten Mal an einem Pfarrertag mitgewirkt. Es war in Emden, wo sich der Pfarrertag der „Kirche als Raum und Anwalt der Freiheit“ widmete. Das war ein evangelischer Ton, an den ich auch heute gern anknüpfe – einem meiner biblischen Leitworte folgend: „Der Herr ist der Geist, wo aber der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit.“

Manche Begegnungen auf Pfarrertagen schlossen sich seitdem an, in Fulda etwa, wo wir über das Pfarrerbild nachdachten und uns fragten, ob es wohl eher am Bild des Priesters oder an dem des Propheten zu orientieren sei, oder vor zwei Jahren in Kiel, wo wir Orientierung in dem sich wandelnden Verhältnis zwischen Staat und Kirche suchten. Zum ersten Mal darf ich Sie in diesem Jahr als Vorsitzender des Rats der Evangelischen Kirche grüßen. Ich freue mich darüber, dass der Pfarrerinnen- und Pfarrertag in eine der östlichen Gliedkirchen der EKD gekommen ist. Als Sie sich gestern auf diese Reise eingestellt oder schon auf den Weg gemacht haben, da haben Sie sich, so hoffe ich, an das neutestamentliche Wort für den gestrigen Tag gehalten und sich den Kämmerer aus Äthiopien zum Vorbild genommen, von dem es heißt: „Er aber zog seine Straße fröhlich.“ Und diese Tage in Magdeburg werden, wie es schon durch die Predigt von Bischof Axel Noack vorgezeichnet ist, nach meinem Wunsch von einem Grundton geprägt sein, den man kaum treffender kennzeichnen kann als mit der alttestamentlichen Losung für den gestrigen Tag: „Aber ich will mich freuen des HERRN und fröhlich sein in Gott, meinem Heil.“

Diese Worte setzen einen Impuls der Zuversicht. Sie können wir landauf landab gut gebrauchen. Sie ist ein knappes und kostbares Gut; wir können nicht gerade behaupten, wir hätten von ihr einen allzu großen Überschuss. Weder in unserer Gesellschaft, noch in unseren Kirchen und Gemeinden. Denn wir leben in einer Zeit des Wandels. Keine Landeskirche, die nicht intensiv über ihre Gestalt in den kommenden Jahrzehnten nachdenkt; kein Kirchenkreis, der nicht schon durch eine Phase der Umorientierung gelaufen ist; kaum eine Gemeinde, die nicht die Notwendigkeit tief greifender Reformschritte erkennt. Da kann leicht eine Stimmung der Selbstmarginalisierung um sich greifen. – Dann jene Unruhe, die sich in unserer Gesellschaft in den letzten Wochen und Monaten breit gemacht hat: Wie viele auch von Ihnen haben da in der Sorge um Schwache und Arme Wort und Partei ergriffen in jenem umfassenden Prozess der Reform unserer Sozialsysteme, in welchem wir uns in Deutschland gerade befinden. - Und das alles innerhalb einer säkularen Großwetterlage, in der gerade die kirchliche Stimme an manchem Ort nicht mehr selbstverständlich wahrgenommen wird.

Dieses Bewusstsein und die Unsicherheiten, die sich mit ihm verbinden, die Auseinandersetzungen, die zu führen sind – und zwar im Widerstreit der Meinungen nicht nur in den Gemeindekirchenräten, den Kreissynodalvorständen oder Kirchenleitungen, sondern eben oft genug auch im Ringen und Abwägen in der eigenen Person – all dies kostet Kräfte und Anstrengungen in einem nicht zu unterschätzenden Maß. Und denen gegenüber wirkt die Aufbruchsstimmung des äthiopischen Kämmerers aus dem 8. Kapitel der Apostelgeschichte ungemein heilsam. Sie schürt die Zuversicht, dass die Kräfte, die im Wortsinne zu investieren not-wendig sind, und die Anstrengungen, ohne die der Weg auf dem wir uns befinden, nicht zu meistern ist, dass die sich lohnen.

Meine These ist, dass wir unsere Kirchen zuversichtlich daraufhin ansehen können, dass sie sich gleichsam als derjenige Arm Jesu Christi verstehen, der das Evangelium vom barmherzigen Gott in der modernen, aufgeklärten Welt zu bezeugen hat. Natürlich, das will ich auch hier gar nicht verschweigen, auch wir, unsere Kirchen müssen immer wieder neu lernen, all die modernen Erfindungen wie Freiheit, Individualität und Autonomie, wie die Trennung von Staat und Kirche, von Politik und Religion, von Glaube und Bürgerrechten als eigene, selbstständig gewordene Kinder zu erkennen. Und natürlich machen manche dieser Kinder auch uns als Kirche enormen Kummer, denn was ursprünglich als Autonomie in die Welt trat, ist heute nicht selten ein radikaler Ich-Trip ohne Verantwortlichkeit und Bindung. Und was als Trennung von Staat und Kirche begann, ist heute oftmals ein Laizismus, der alle religiöse Überzeugung aus dem öffentlichen Raum eliminieren möchte. Aber eben auch das Umgekehrte gilt es auch festzuhalten: Eine Kirche, die sich zuerst auf Wort und Glaube konzentriert, die setzt in allem Kräfteeinsatz und unter allen Anstrengungen einen sichtbaren und befreienden Zuversichtsimpuls frei. Von diesem Impuls der Zuversicht sollten auch die Bemühungen um Strukturreformen in unserer evangelischen Kirche bestimmt sein.

Zuversichtlich schaue ich in diesem Zusammenhang nicht nur auf Entwicklungen in unseren Landeskirchen, beispielsweise auf die Neubildung der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz oder auf den Verbund zwischen der Kirchenprovinz Sachsen, in der wir zu Gast sind, und der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Thüringen, der in diesen Tagen durch die Bildung der gemeinsamen Kirchenverwaltung einen wichtigen Schritt voran kommt. Sondern ich denke auch an die erfreuliche Entwicklung in den Gesprächen zwischen der Union Evangelischer Kirchen in der EKD, der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche in Deutschland und der EKD, für die in der vergangenen Woche wichtige Weichen gestellt werden konnten. Kernpunkt der beabsichtigten Reformen ist es bekanntlich, dass innerhalb der EKD so viel Gemeinsamkeit wie möglich bei so viel Differenzierung wie nötig verwirklicht wird. Die Kräfte sollen gebündelt, die Kommunikation gefördert und die Willensbildung gestärkt werden. Kirchenleitende und synodale Aufgaben sollen im Verbund wahrgenommen werden. Das Kirchenamt der EKD wird in Zukunft auch den gliedkirchlichen Zusammenschlüssen für die Erfüllung ihrer Aufgaben zur Verfügung stehen; dafür werden innerhalb des Kirchenamts jeweils Amtsstellen von UEK und VELKD eingerichtet. Die Mitglieder der Generalsynode der VELKD sollen ihre Landeskirchen zugleich in der EKD-Synode vertreten. Dienste, Werke, Ausschüsse, Kommissionen und Kammern sollen, so weit das möglich ist, gemeinsam genutzt werden. So weit Doppelungen bestehen, soll die Zusammenführung geprüft und vorangetrieben werden. Mit dem Entwurf der dafür nötigen Verträge haben die beteiligten Kirchen und gliedkirchlichen Zusammenschlüsse Gestaltungskraft gezeigt; der gemeinsame Wille ist unverkennbar, Profil und Präsenz des Protestantismus in Deutschland zu stärken. Ich freue mich darüber sehr und danke denen von Herzen, die in den letzten Wochen und Monaten die Hauptlast der Verhandlungen getragen haben. Für die EKD war dies vor allem der stellvertretende Ratsvorsitzende Bischof Kähler, für die UEK der Vorsitzende des Präsidiums, Landesbischof Fischer, und für die VELKD der Leitende Bischof, Bischof Knuth.

Profil und Präsenz des Protestantismus zu stärken: unter gesellschaftlicher wie unter ökumenischer Perspektive ist das eine wichtige Aufgabe. Ich bin der festen Überzeugung, dass unsere Kirche die besondere Berufung hat, in bewusster, wenn auch keineswegs unkritischer Nähe zur modernen, säkularen und wissenschaftsoffenen Welt Gott zu bezeugen. Darin liegt eine der Aufgaben, die sie sowohl stellvertretend für die ganze christliche Ökumene, stellvertretend für die eine, weltweite Kirche Jesu Christi, wie auch im Zeugnis für die Menschen in unseren Dörfern und Städten  wahrzunehmen hat. Das Gewicht dieser Aufgabe geht keineswegs zurück; sie nimmt vielmehr zu, wie der Blick auf gegenläufige Entwicklungen zeigt. Solche gegenläufige Entwicklungen zeigen sich ja nicht nur bei „wiedergeborenen“ Christen in den USA oder pfingstlerischen Kirchen in Lateinamerika. Sie zeigen sich auch in manchen Strömungen in der östlichen Orthodoxie wie im westlichen Katholizismus. Sie werden für uns greifbar in allen Diskussionen, die sich dem Phänomen des Fundamentalismus und der wieder erstarkten Bedeutung der Religionen widmen – seien diese in den Bibelstunden, auf Elternabenden in Kindergärten, im Religionsunterricht oder im Bekanntenkreis.

Doch diese Offenheit für Freiheit und Mündigkeit, für Säkularität und Wissenschaft schließt die Einsicht in das gerade heute notwendige Grenzbewusstsein ein. Das eine Licht Jesu Christi soll auch gesehen und bezeugt werden in einer diesseitig gewordenen, wissenschafts-, wirtschafts- und machbarkeitsorientierten Welt, die die Sinnressourcen, die sie braucht, selbst nicht herzustellen vermag. Der Protestantismus ist in meinen Augen der stellvertretende Weg, einen aufgeklärten Glauben bzw. eine gläubige Aufklärung unter den Bedingungen der modernen Welt zu bezeugen.

Der Kämmerer aus Äthiopien hat das auf seine Weise vorgemacht. Selbständig hat er im Buch des Propheten Jesaja gelesen und sich die Frage stellen lassen: „Verstehst du auch, was du liest?“ Dieser erste afrikanische Christ ermutigt uns, Glauben und Verstehen, Christentum und Bildung auch heute zusammenzuhalten und unsere Straße in allen Anstrengungen fröhlich zu ziehen. Und mit einzustimmen in den Lobgesang des Habakuk: „Aber ich will mich in allem freuen des HERRN und fröhlich sein in Gott, meinem Heil.“

Herzlichen Dank, dass Sie alle hier sind – und einen gesegneten Verlauf dieser Tage in Magdeburg!