Christliche Moral und ökonomische Vernunft - ein Widerspruch?

Wolfgang Huber

Vortrag vor der Industrie- und Handelskammer zu Düsseldorf

I.

„Christliche Moral und ökonomische Vernunft - ein Widerspruch?“, das ist das Thema, das Sie mir gestellt haben. Wie verhält sich beides zueinander: eine Moral, die sich dem christlichen Menschenbild, dem christlichen Glauben verbunden weiß - und ökonomische Vernunft, die sich als auf Effizienz, Rationalität und Rentabilität ausgerichtet versteht?

Ich bin davon überzeugt, dass wir in den zurückliegenden Tagen einen eindrücklichen Anschauungsunterricht dafür bekommen haben, dass und wie beides zusammengehört. Das Seebeben im Indischen Ozean mit seinen erschütternden Folgen hat uns gelehrt, dass wirtschaftliche Beziehungen auch moralische Verpflichtungen entstehen lassen. Die Tatsache, dass wir in einer globalisierten Welt leben, ist uns nicht nur in ihrer ökonomischen Bedeutung vor Augen getreten. Wir haben gemeinsam Anteil an der Verletzlichkeit des menschlichen Lebens. Gemeinsam müssen wir Rücksicht darauf nehmen, dass die Natur uns nicht zur beliebigen Verfügung steht. Besser Vorsorge zu treffen für Naturkatastrophen, die in der jüngsten Vergangenheit immer dichter aufeinander folgten, ist eine gemeinsame Aufgabe. Wenn die Menschen in einer Region der Erde unter ihnen leiden, dann spüren wir das an allen Orten. Wir merken auch, wie problematisch es ist, wenn wir menschliches Leid mit zweierlei Maß messen – je nachdem, wie unmittelbar wir selbst oder unsere wirtschaftlichen Interessen betroffen sind. Mich jedenfalls bedrückt es immer stärker, wie wenig wir uns anrühren lassen von der millionenfachen Flucht und den zehntausenden von Toten, die im Sudan zu beklagen sind; mein Wunsch wäre, dass wir diesem massenhaften Leiden vergleichbare Aufmerksamkeit zuwenden wie den Opfern der Flutkatastrophe im Indischen Ozean. Denn auch den gerade unterzeichneten Friedensvertrag für den Südsudan hat sich an der humanitären Tragödie in Darfur noch nichts geändert.

Immer deutlicher tritt uns vor Augen: Wer global handeln will, muss auch global fühlen. Wir brauchen in unserer Welt nicht nur eine Globalisierung wirtschaftlichen Denkens, sondern auch eine Globalisierung der Solidarität.

Ein solches Beispiel macht deutlich: Die Berufung auf wirtschaftliche Rationalität entbindet nicht von ethischer Verantwortung. Doch richtig ist auch: Der Appell an die Moral macht das Bemühen um wirtschaftliche Effizienz nicht überflüssig. Es ist deshalb auch verfehlt, wenn der christliche Glaube in einer generellen Weise gegen Rationalität und Effizienz in Stellung gebracht wird. Wir leben in einer Welt, in der die Ressourcen, wie wir alle wissen, begrenzter sind, als wir vor Generationen gedacht haben. Wir sind alle darauf angewiesen, dass mit ihnen sinnvoll, und das heißt schonend, umgegangen wird. Nur dann haben wir eine Zukunft auf diesem Planeten. Allein schon von dieser Einsicht her sind Rationalität und Effizienz geboten - aus Nächstenliebe und auch aus ökonomischer Einsicht. So kann eigentlich kein Gegensatz zwischen christlichem Menschenbild und ökonomischer Vernunft aufkommen. Da es in beiden Bezugssystemen letztlich um das Wohl des Menschen geht, müsste von vornherein klar sein, dass eine Orientierung aus dem christlichen Glauben und eine Orientierung an wirtschaftlicher Effizienz in dieselbe Richtung laufen.

Aber Sie merken schon an den Konditionalformulierungen, die ich gewählt habe, dass es offensichtlich so einfach denn doch nicht ist. Trotz der Überlegung, die wir gerade angestellt haben, betreten wir ganz offenkundig ein Spannungsfeld, wenn wir uns auf das Verhältnis zwischen dem christlichen Menschenbild und der Wirtschaft einlassen. Jeder, der als Christ wirtschaftliche Verantwortung wahrnimmt, weiß das aus dem eigenen Leben und Erleben.

Wenn man in die Geschichte dieses Verhältnisses tiefer einsteigt, dann stößt man auf Beispiele dafür, wie dieses Spannungsfeld sich bis zum Konflikt gesteigert hat. Und besonders beeindruckt sind wir von geschichtlichen Gestalten, die für sich selbst diesen Konflikt eindeutig gelöst haben – wie Franz von Assisi beispielsweise, der als Kaufmannssohn zum Begründer einer Armutsbewegung wurde. Zugleich aber ist festzustellen, dass immer dann, wenn die Protagonisten des christlichen und des ökonomischen Wertesystems sozusagen „an einem Strang gezogen“ haben, dies zu überzeugenden Ergebnissen für die Menschen geführt hat. Offenbar ist beides nötig: Menschen, die in großer Radikalität ihrem Glauben Gestalt geben, und überzeugende Modelle dafür, wie sich Nächstenliebe und erfolgreiches wirtschaftliches Handeln miteinander verbinden lassen. Beides werden wir auch in Zukunft brauchen: Menschen, die dadurch zu Vorbildern werden, dass sie ein Leben jenseits der Maßstäbe von wirtschaftlicher Effizienz führen, aber ebenso auch gelingende Beispiele dafür, dass es möglich ist, die Rentabilitäts- und Effizienzkalküle der Wirtschaft grundlegenden Wertorientierungen unterzuordnen. Denn andernfalls entwickelt sich die Wirtschaft zu einem sich nur noch selbst regulierenden System, frei von jeglicher Rechenschaftspflicht. Ich sehe diese Gefahr durchaus in einigen ökonomischen Fehlentwicklungen gegeben, die ich auch ansprechen werde.

II.

Wie verhält es sich aber näherhin mit dem Verhältnis zwischen wirtschaftlicher und christlicher Orientierung? Zunächst einmal wird man festhalten müssen, dass auf einer ganz grundsätzlichen Ebene wirtschaftlich vernünftiges Handeln jedem Christen aufgetragen ist. Wenn Sie in die entsprechenden Orientierungstexte der Bibel und der christlichen Tradition schauen, werden Sie immer wieder feststellen, dass Christen zur Arbeit angehalten werden, weil die menschliche Arbeit Anteil an der Schöpferkraft Gottes gibt und in seinem Auftrag zur Gestaltung der Schöpfung ausgeübt wird. „Die Arbeit gehört zum Menschen wie zum Vogel das Fliegen“ heißt eine Aussage, die sich sowohl bei Martin Luther als auch bei Papst Johannes Paul II. findet.

Die menschliche Arbeit hat aus dieser Sicht eine ganz klare Bestimmung: sie dient vor allem dazu, Lebensmittel in einem umfassenden Sinn des Wortes für sich selbst und für den Nächsten, ja für die ganze Gesellschaft, bereitzustellen. Die Mitarbeit an der Schaffung von Wohlstand und gesellschaftlichem Reichtum ist in diesem Sinne jedem Christen aufgetragen. Die biblische Tradition ist sich völlig klar, dass in dieser Hinsicht jeder Mensch die ihm von Gott gegebenen Gaben und Talente entwickeln können muss, um seinen Beitrag zur gesellschaftlichen Wohlstandsentwicklung zu leisten. Deutlich ist allerdings auch, dass dies nicht zu einer Überforderung der Menschen und zu einer Bevorzugung der besonders Leistungsfähigen führen darf - der Arbeit sind durch den Sonntag und durch andere Regelungen Grenzen gesetzt, die zum Wohle des Menschen einzuhalten sind. Und es ist auch deutlich, dass die Arbeit, eben weil sie eine so hohe Wertschätzung in der christlichen Tradition erfährt, so zu organisieren ist, dass alle an ihr Anteil haben, auch die Leistungsschwächeren. Wirtschaft soll mit allen betrieben werden. Die Ungleichheit, die mit der Gestaltung der Wirtschaft einhergeht und die notwendigerweise den Leistungsfähigeren mehr zukommen lässt als den Leistungsschwächeren, darf nur so groß sein, dass durch die dadurch gesteigerte Produktivität den Schwächeren ein würdiges Leben, das vollen Anteil an der Gesellschaft ermöglicht, möglich gemacht wird. Gerechtigkeit ist auf dieser biblischen Grundlage insbesondere als Befähigungs- und Beteiligungsgerechtigkeit zu verstehen. Eine Gesellschaft, in der so viele Menschen von Arbeitslosigkeit betroffen sind, wie das bei uns gegenwärtig der Fall ist, hat deshalb ein elementares Gerechtigkeitsproblem.

Alle menschliche Arbeit hat mit einem sparsamen und in diesem Sinne wirtschaftlichen und effizienten Umgang mit Ressourcen zu tun. Der Welt der Bibel und insbesondere den Traditionen der protestantischen Ethik ist jede Form von Verschwendung und Luxussucht vollkommen fremd. Sparsamkeit und das kalkulierte zielorientierte Einsetzen von Ressourcen gehören zur Verantwortung des Christen. Man könnte geradezu sagen, dass der - in diesem Sinne - wirtschaftliche Umgang mit Ressourcen aller Art ein Akt der Nächstenliebe ist; denn er ermöglicht es, dass auch andere an diesen Ressourcen Anteil haben können. In diesem Sinn gibt es einen genuin christlichen Zugang zur Zielsetzung von Nachhaltigkeit. Dieser schonende Umgang mit Ressourcen wird in der Bibel auch noch dadurch begründet, dass sie immer wieder vor der Anhäufung von Reichtum als Selbstzweck warnt. Sie kennen die entsprechenden, zum Teil sehr drastischen Beispielgeschichten aus dem Neuen Testament, z.B. das Gleichnis vom reichen Kornbauern, in denen immer wieder davor gewarnt wird, sein Herz an weltliche Güter und in diesem Sinne an Reichtum zu hängen; denn dies kann nicht zu Gelassenheit und Sicherheit im Leben führen, die vielmehr nur der Glaube an Gott stiftet. Die Vorstellung ist hier die, dass mit Geld, Reichtum und irdischem Besitz instrumentell umgegangen werden soll, um etwas für den Nächsten und den gemeinsamen Wohlstand zu erreichen und ihn möglichst gerecht zu verteilen. Man soll Reichtum nutzen - zum Wohle aller. Dass Eigentum sozial verpflichtet, steht nicht nur im Grundgesetz, sondern ist eine der Grundüberzeugungen der gesamten christlichen Tradition. Von daher sind in dieser Sicht auch Kapital und Arbeit als grundsätzlich gleichberechtigt in der Gestaltung der Wirtschaft zu verstehen. Wenn eine dieser Seiten ein Übergewicht bekommt, ist eine wirklich nachhaltige Gestaltung der Wirtschaft gefährdet.

Noch einmal sei es deutlich gesagt: Wirtschaftliches Handeln im Sinne von Effizienz und instrumenteller Rationalität ist vom christlichen Glauben her nicht nur gerechtfertigt, sondern verpflichtend. Zugleich ist deutlich, dass solch ein Handeln nicht im Gegensatz zur Menschlichkeit steht, sondern Menschlichkeit sowohl voraussetzt als sie auch zum Ziel hat. Damit ist aber auch schon gesagt, dass wirtschaftliches Handeln von gesellschaftlich anerkannten und kulturell wertvollen Zwecken her gesteuert werden muss. Der Wirtschaft kommt so wenig wie dem Geld ein Eigenwert zu. Tendenzen dazu, dass sich, wie das heute zu beobachten ist, das ökonomische Denken auf alle Bereiche unseres Lebens, und insbesondere auf die Bereiche der Kultur und der Werte, ausbreitet, ist aus der Perspektive des christlichen Menschenbildes deutlich zu widersprechen.

Menschen müssen mit den Gütern dieser Welt wirtschaftlich umgehen; sie selbst unterliegen aber nicht den ökonomischen Rationalitätskalkülen. Menschen als von Gott geschaffene Wesen erschöpfen sich nicht darin, einen Wert für andere zu haben, der gegen Geld aufgewogen werden kann; sondern sie haben eine eigene Würde, die nach einem wichtigen Wort Immanuel Kants „kein Äquivalent verstattet“. Deshalb muss die Wirtschaft im Dienst des Menschen stehen und nicht umgekehrt – oder in Abwandlung eines Wortes Jesu über den Sabbat: Die Wirtschaft ist um des Menschen willen da und nicht der Mensch um der Wirtschaft willen. Von diesen Gedanken her muss die Kirche allen Tendenzen widersprechen, kulturelle Güter ökonomischen Kalkülen zu opfern – auch dann, wenn über Feiertage abgeschafft werden sollen, um dadurch eine geringfügige Steigerung des Bruttosozialprodukts zu erreichen. So weit dafür eine Verlängerung der Arbeitszeit nötig ist – aller Wahrscheinlichkeit nach übrigens nur jeweils branchenspezifisch und nicht generell - , sind dafür sinnvollere und intelligentere Wege zu suchen als die Abschaffung von Feiertagen. Auch die Auseinandersetzung um den Sonntag ist von daher zu verstehen: Der Sonntag symbolisiert aus biblischer Sicht die Grenze des Ökonomischen - “Ohne Sonntag sind alle Tage Werktage“ - und muss deswegen um der Menschlichkeit des Menschen willen erhalten bleiben.

III.

Das Verhältnis des christlichen Glaubens zu wirtschaftlicher Aktivität hat insbesondere durch die protestantische Reformation im 16. Jahrhundert eine durchgreifende Erneuerung erfahren. Die Entfesselung wirtschaftlicher Dynamik, vor allem im 19. und 20. Jahhundert, ist letztendlich kaum ohne diese wichtigen reformatorischen Entscheidungen zu verstehen. Und wenn ich es richtig sehe, so prägt das, was damals als protestantische Arbeitsethik losgetreten worden ist, bis heute unser wirtschaftliches Geschehen. Luther hat die instrumentelle Sicht auf die menschlichen Arbeit, wie sie schon in der Bibel angelegt ist, in aller Klarheit erneuert und immer wieder betont, dass Menschen arbeiten müssen und in dieser Arbeit verantwortlich vor Gott und für den Nächsten dastehen. Er hat zugleich dieser menschlichen Arbeit alle Heilsbedeutung genommen - nicht durch Arbeit und Wirtschaft erlangt der Mensch den Sinn seines Lebens, sondern dieser wird ihm im Glauben an Gott geschenkt. Die Welt der Arbeit und der Wirtschaft wurde auf diese Weise frei von sie verzerrenden religiösen und sonstigen Durchformungen, und der Weg zu einer rein rationalen, vernünftigen Gestaltung der Wirtschaft wurde geebnet.

Was hier geboren wurde, so hat es Max Weber in seiner berühmten Kapitalismus-Studie vor genau hundert Jahren auf den Begriff gebracht, war der bürgerlich rationale Betrieb. Nicht durch Raub und Gelegenheitskapitalismus, und sei dies auch alles religiös begründet und sanktioniert, könne man Wohlstand und dauerhaften gesellschaftlichen Reichtum schaffen, sondern nur durch eine vernünftige Organisation des Betriebes und in gewisser Hinsicht der gesamten Gesellschaft. In der Folge ist dann die Form des Unternehmens zu der erfolgreichsten Organisationsform zur Erzeugung einer hohen Güterproduktion in der Geschichte der Menschheit geworden - und ist es bis heute. Der bürgerlich-rationale Betrieb ist aber nur durchzuhalten, wenn die Menschen ihr eigenes Arbeitsethos auf ihn einstellen und sich in die große Produktionsmaschine kapitalistischen Wandelns und Handelns einfügen. Genau hierfür sind die Voraussetzungen in der Reformation geschaffen worden. Max Weber hat die „innerweltliche Askese“, wie er diese Triebkraft benannte, drastisch gezeichnet. Ein Ethos der Ernsthaftigkeit und Ehrbarkeit und eine detailliert geregelte Lebensführung sind ihr Kern. Auf diese Weise war es möglich, zu einer großartigen Steigerung der Arbeitsproduktivität zu kommen, vom klar gegliederten Arbeitstag bis zur durchorganisierten Buchführung. Der entscheidende Fortschritt war - und darauf kommt es mir an -, dass hier nicht Profitinteresse als solches, erst recht nicht Gier, Neid u.ä. im Kern des Wirtschaftens angelegt war, sondern Sparsamkeit, Ehrbarkeit, Anstrengung, alles mönchische Ideale, die nun in bürgerlicher Gestalt zum Tragen kamen.

Ich erwähne dies, weil es deutlich macht, dass es ein ursprüngliches Bündnis zwischen christlicher Moral und ökonomischer Vernunft gegeben hat. Es ist nicht so. dass eine erfolgreiche Wirtschaft und ein erfolgreiches Unternehmen vor allem auf der Freisetzung von Gier, Neid und Ehrgeiz beruhen - wie es bisweilen heute nicht nur praktiziert, sondern sogar dreist gerechtfertigt wird. Im Gegenteil führt ein Bündnis zwischen christlicher Moral und ökonomischer Vernunft dazu, dass negative menschliche Charaktereigenschaften, wie Unehrlichkeit, Egoismus und Betrug gerade aus der Wirtschaftsgestaltung ausscheiden, da sie sich in das durch und durch rationale Gefüge einer solchen Wirtschaftsordnung gar nicht einpassen lassen. In dieser Hinsicht ist das Leitbild vom ehrbaren Kaufmann keineswegs überholt. Sobald die Wirtschaftsentwicklung allerdings durch eben diese negativen menschlichen Eigenschaften befördert und angetrieben wird und man dies auch noch propagiert, kommt es im Verhältnis zwischen christlicher Moral und ökonomischer Vernunft zu einem klaren Widerspruch.

IV.

Und genau solche Probleme hat es denn auch zu Beginn des großen Wirtschaftsaufschwungs der Moderne, vor allem in der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert gegeben. Sie kennen aus dieser Zeit alle die berühmten Sätze von Adam Smith, nach denen wirtschaftliches Handeln durch das Interesse der Menschen an wirtschaftlichem Gewinn geleitet sein soll und nicht durch höherwertige Werte, wie z.B. den der Nächstenliebe. Der Bäcker backt nur deswegen für uns gute Brötchen, weil er selbst etwas davon hat, und nicht, weil er dies aus Nächstenliebe für die anderen Menschen tut, so sagt es Adam Smith. Obwohl Adam Smith selbst damit niemals ein Abdanken der christlichen Wertorientierung, sondern lediglich ihre Ergänzung gemeint hat, so sind doch entsprechende Leitsätze leicht und schnell zur Legitimation einer reinen Interessenorientierung, sprich: der Legitimierung von Egoismus, Gier und Neid herangezogen worden. Und es liegt auf der Hand, dass die rationale Maschine eines Unternehmens, angetrieben von solchen menschlichen Wertorientierungen, ganz schnell ohne wirklichen Sinn und Zweck in die Zukunft hinein operiert, und sich von daher dann doch eine völlige Verkehrung der Werte einstellt.

Dann kommt es dazu, dass Geld und Reichtum nicht mehr als Mittel, sondern eben als Selbstzweck in der Wirtschaft gefeiert werden. Seinen Ausdruck findet dieses Denken heute in der Fixierung auf wirtschaftliches Wachstum als solches, das allein die Probleme, vor denen wir stehen, lösen soll. In der Folge dieses Denkens haben sich die Verhältnisse völlig umgekehrt: was früher die innerweltliche Askese und das protestantische Arbeitsethos war, ist heute der Zwang zum Konsumieren, der wirtschaftliches Wachstum immer weiter treibt. Die Frage nach der Sinnhaftigkeit von bestimmten Produkten und Entwicklungen darf nicht mehr gestellt werden, weil sofort der Schrei ertönt, dass dadurch Arbeitsplätze und der Wirtschaftstandort Deutschland gefährdet würden. Wo dies aber so ist, ist die Wirtschaft wirklich zum Selbstzweck geworden und hat sich von qualifizierten gesellschaftlichen Zielvorstellungen verabschiedet. Was auf der Ebene des einzelnen Unternehmens noch völlig rational abläuft, gewinnt auf der Ebene unserer gesamten Gesellschaft fatale Züge, da eine Steuerung im Interesse qualifizierter Zielsetzungen kaum noch möglich ist. Die Frage nach der Sinnhaftigkeit solchen Arbeitens und Wirtschaftens kommt dann gerade bei hochqualifizierten Arbeitnehmern schnell auf.

Im 19. Jahrhundert sind von vielen Vertretern der christlichen Kirchen den entsprechenden Sätzen von Adam Smith immer wieder Argumente entgegengehalten worden, die in die Richtung gingen, dass nicht Eigeninteresse, sondern Nächstenliebe das zentrale Motiv wirtschaftlichen Handelns sein müsste. Nicht, wenn jeder zunächst an sich selbst denkt, entstünde wirklicher gesellschaftlicher Wohlstand, sondern im Gegenteil, wenn jeder zuerst den anderen in den Blick nehme, würde ein qualifizierter Wohlstand entstehen. Diesem Argument ist von Ökonomen immer wieder entgegengehalten worden, dass sich die Ressource „Liebe“ im Gegensatz zur Ressource „Interesse“ kaum vermehren lasse und sie vor allen Dingen auch nicht überall einsetzbar sei. Wer also seine wirtschaftlichen Aktivitäten auf den Wunsch der Menschen nach Nächstenliebe gründe, könne letztendlich keinen wirklichen Gewinn einfahren; wer hingegen seine Aktivitäten auf die egoistischen Interessen der Menschen gründe, könne gut prosperieren.

Man muss, wenn man in unsere gesellschaftliche Realität blickt, zugeben, dass diese Überlegung einen Wahrheitskern enthält. Auch ist das christliche Menschenbild realistisch genug um anzuerkennen, dass Menschen, wenn sie dauerhaft gute Leistungen bringen sollen, durch mehr als nur durch Liebe angetrieben sein müssen. Doch die angemessene Folgerung daraus heißt, dass nach Verbindungen zwischen Gemeinwohl und Eigennutz, zwischen Nächstenliebe und Leistungsmotivation gesucht werden muss. Wir leben jedoch in einer Gesellschaft, die das Eigeninteresse bis zum Exzess kultiviert und daraus Profite zieht; gleichwohl wissen wir, dass eine Gesellschaft, die sich so verhält, die Ressourcen aufzehrt, auf die das gemeinsame Leben – in der Familie, aber ebenso auch im kulturellen Bereich – angewiesen bleib t. Aber auch wirtschaftliches Handeln, die tägliche Zusammenarbeit im Betrieb vornean, kommt ohne Rücksichtnahme, Kooperationsbereitschaft, ja Empathie nicht aus. Das kann man unschwer erkennen, wenn man sich mit den Bemühungen von Unternehmen um ihre Corporate Identity beschäftigt. Da wird oft versucht, im nachhinein wieder zusammenzubinden, was zuvor im Sog gesellschaftlicher Entwicklungen auseinander gerissen wurde.

Es gibt nach meiner festen Überzeugung kein Unternehmen, das nur auf Grundlage des Eigeninteresses der Beteiligten überleben könnte. Unternehmen, die nur auf kurzfristige Gewinnerzielung setzen sind ganz schnell auf der Verliererseite. Und kein Unternehmen in der Welt kann wirklich überleben, wenn es alle schlechten Charaktereigenschaften der Menschen in sich selbst freisetzt oder gar noch kultiviert: dann zerfällt es, weil sich das Vertrauen zersetzt, das für dauerhafte Arbeitsprozesse unabdingbar ist.

Unternehmenskulturen, die von christlichen Werten wie zum Beispiel denen der gegenseitigen Hilfeleistung, einer sinnvollen Leistungsorientierung und auch der Bereitschaft zu Versöhnung und Vergebung ausgehen, müssen durchaus nicht auf der Verliererseite sein, wie viele Beispiele zeigen. Deswegen zeichnet die Evangelische Kirche mit großer Freude Unternehmen mit einer vobildlichen Personalpolitik mit dem Arbeitsplatzsiegel "ARBEIT PLUS" aus.

V.

Sie merken, meine Damen und Herren, dass hinter meinen Überlegungen das Bild einer wertorientierten und wertgesteuerten Wirtschaft steht, die zugleich ökonomische Vernunft in all ihren Facetten zu ihrem Recht kommen lässt. Aber es bleibt dabei, dass ökonomische Vernunft instrumentelle Vernunft ist, die auf bestimmte Ziele und Zwecke gerichtet werden muss und sich nicht selbst zur Herrin im Hause der Gesellschaft und der Kultur aufschwingen darf. Es geht heute nicht um eine Ökonomisierung der Kultur, sondern um eine Kulturalisierung der Ökonomie. Wir müssen dahin kommen, dass wirtschaftliches Handeln wieder als kulturelles Handeln begriffen wird, das durchwoben ist nicht zuletzt von geistigen Entscheidungen, die ihm Sinn und Verstand geben. Wo nur noch gerechnet wird und wo nur noch Zahlen alles dominieren, ist eine sinnvolle Orientierung menschlicher Arbeit nicht mehr möglich. Und ich denke, dass die Krise wirtschaftlichen Handelns in Deutschland auch mit einem Übergewicht solcher Denkweisen zu tun hat.

Wir stehen heute vor gewaltigen neuen Herausforderungen, die Anlass dazu sind, Wertorientierung und wirtschaftliches Denken wieder so miteinander zu verbinden, wie dies die Gründungsgestalten der Sozialen Marktwirtschaft getan haben. Zu diesen Entwicklungen gehört vor allen Dingen die Frage, in welche Richtung sich die Weltwirtschaft in Zukunft entwickeln wird. Wird es so sein, dass sich das europäische und insbesondere deutsche Modell einer sozial verantworteten Wirtschaft, die im Kern nach wie vor auf persönlicher Zurechenbarkeit von Verantwortung, sei es im Kapitalbesitz oder bei Managern basiert, hin entwickelt? Oder wird sich das wirtschaftliche Handeln immer mehr und immer deutlicher als abhängig von den großen, die Welt umkreisenden Finanzkapitalfonds erweisen? Wird es so sein, dass Wirtschaft einen Realbezug zu den Menschen, zu dem Land, zu den Räumen und Zeiten behält, in denen sie sich vollzieht oder wird sie immer abstrakter sein und das Maß des Menschlichen nur als einen Faktor, als ein notwendiges Übel, berücksichtigen? Werden wir weiterhin politisch, kulturell und vom christlichen Glauben her Wirtschaft gestalten können oder werden wir uns von ihr gestalten lassen? Wird Wirtschaft dazu beitragen, ein qualifiziertes Modell gesellschaftlichen Wohlstands zu befördern, oder geht es nur um ein letztendlich leeres „Immer-mehr-Konsumieren“? Werden wir angesichts des demographischen Wandels imm eigenen Land wie angesichts der Globalisierungsprozesse die Kraft aufbringen, die langfristige Vertretbarkeit unseres Handelns zum Maßstab zu machen oder werden wir uns ausschließlich am Maßstab kurzfristiger Erträge orientieren?

Dies sind die Fragen, die uns alle heute bewegen. Es sind dies Fragen, die einer Lösung nur zugeführt werden können, wenn sich die Effizienz unseres Wirtschaftssystems mit einer klaren Werteorientierung paart, und zwar im Bezug auf das gesamte Wirtschaftssystem wie auch auf einzelne Unternehmen und das Berufsethos der einzelnen Mitarbeiter. Wir brauchen eine neue Synthese von Effizienz und Sinn. Das wird nicht nur langfristig klug, sondern auch von Vorteil für alle sein.

In diesem Verständnis wünsche ich Ihnen allen ein gutes und gesegnetes Neues Jahr.