"Chancengerechtigkeit von Anfang an - Plädoyer für eine profilierte evangelische Elementarbildung" - Vortrag bei der 1. Bildungswerkstatt von McKinsey in Berlin

Wolfgang Huber

Die Kirche bildet

„McKinsey bildet.“ Unter diesem Titel stand eine Initiative des Jahres 2000, die zu der in der edition suhrkamp erschienenen Doppelpublikation: „Die Zukunft der Bildung“ und „Die Bildung der Zukunft“ führte. Zu den Konsequenzen aus dieser Initiative gehört die heutige „1. Bildungswerkstatt“, die sich dem Thema der Chancengerechtigkeit widmet. Ich bin dankbar für den Anstoß, den McKinsey gegeben hat. Und ich bin auch dankbar dafür, zu diesem wichtigen Thema etwas beitragen zu dürfen.

McKinsey bildet also. Aber dies tut bekanntlich nicht nur McKinsey. Auch die Kirche bildet. Bildung ist sogar eines ihrer Kerngeschäfte, eine ihrer Hauptaufgaben. Die christliche Kirche, insbesondere in ihrer evangelischen Gestalt, ist ihrem Wesen nach eine Bildungsinstitution. Dabei meint Bildung nicht einen auf das Kognitive begrenzten Prozess des Wissenserwerbs, sondern ein ganzheitliches Geschehen der Persönlichkeitsbildung, das sich an der Einsicht ausrichtet, dass der Mensch als Gottes Ebenbild geschaffen ist. Bildung heißt, um eine von der Mystik Meister Eckarts über die Theologie Martin Luthers bis hin zu zeitgenössischen Autoren reichende Tradition aufzunehmen, die Ausrichtung des inneren Menschen an der Entsprechung zu Gott. Bildung in diesem Sinne ist zuerst und zuletzt „Herzensbildung“. Es ist spannend wahrzunehmen, dass ein solcher Hinweis heutzutage schon nicht mehr als so altväterlich und überholt angesehen wird wie noch vor wenigen Jahren. Der ganzheitliche Zugang zum Verständnis von Bildung gewinnt vielmehr wieder an Resonanz. Ganzheitliche Bildung aber schließt neben den kognitiven auch affektive und voluntative Aspekte ein.

Auch wenn ich im Folgenden den christlichen Beitrag zu einem zeitgenössischen Bildungsverständnis pointiert aus einer evangelischen Perspektive beschreibe, geschieht das aus einer ökumenischen Grundhaltung heraus. Für den Bereich der Elementarbildung gilt ganz besonders, dass die beiden großen christlichen Kirchen in Deutschland positionell sehr nahe beieinander liegen. Ich begrüße das sehr. Nicht nur die evangelische Kirche bildet eben - die christliche Kirche bildet. Die evangelische Pointierung nehme ich im Folgenden also nur deshalb vor, weil die evangelische Kirche von ihrem Ursprung und ihrer Aufgabe her für das konstruktive Verhältnis von Glauben und Bildung eine besondere Verantwortung trägt.
Aber was heißt dabei Bildung?

Um welche Bildung geht es?

Um welche Bildung geht es? Was ist mit Bildung gemeint, wenn im christlichen Verständnis von ihr die Rede ist? Das christliche Verständnis von Bildung ist nicht primär ein kognitives oder kumulatives, das auf die Anhäufung und Addition von Bildungsgütern setzen würde. Vielmehr geht es um ein lebendiges Geschehen der Persönlichkeitsentwicklung, genauer gesagt, um die Orientierung des Menschen an seiner Entsprechung zu Gott im Kernbereich seiner Existenz. Bildung heißt, dieser Entsprechung zu Gott zu folgen, also bestimmungsgemäß zu Gottes Ebenbild zu werden. Martin Luther schreibt in seiner für diesen Zusammenhang, aber auch über ihn hinaus zentralen Schrift „Von der Freiheit eines Christenmenschen“ im Jahr 1520:

„Darum soll das billig aller Christen einziges Werk und einzige Übung sein, dass sie das Wort und Christus wohl in sich bilden, um solchen Glauben stetig zu üben und zu stärken. Und kein anderes Werk kann einen Christen machen.“

Im nahezu zeitgleich entstandenen „Sermon von den Guten Werken“ heißt es bei Luther:

„Sieh, so musst Du Christus in Dich hineinbilden und sehen, wie in ihm Gott dir seine Barmherzigkeit vorhält und anbietet, ohne alle deine zuvor kommenden Verdienste. Und aus solchem Bild seiner Gnade musst du den Glauben schöpfen und die Zuversicht der Vergebung all deiner Sünden.“

Im Christsein als einer durch Freiheit gekennzeichneten Existenzform kommen nach Martin Luther drei Faktoren zusammen: Die christliche Freiheit lebt aus Christus, bildet sich im Glauben und befähigt zur Liebe. Darin liegt die christliche Begründung und Entfaltung der Bestimmung des Menschen zu einem mit Würde ausgestatteten Wesen – einer, wie Theodor Heuß sich ausdrückte, im weltlichen Zusammenhang „nicht interpretierten These“, die aber doch dringend auf Interpretation angewiesen ist. In diesem Sinn versucht Bildung im christlichen Verständnis dazu beizutragen, dass Menschen die Gründe kennen, um deretwillen sie ihre eigene Würde wie die Würde anderer achten.

In meinem Verständnis gehört es in diesen Horizont, wenn der Konstanzer Philosoph Jürgen Mittelstraß zwischen Orientierungs- und Verfügungswissen unterscheidet. Er schreibt dazu: „Verfügungswissen ist ein Wissen um Ursachen, Wirkungen und Mittel; es ist das Wissen, das Wissenschaft und Technik unter gegebenen Zwecken zur Verfügung stellen. Orientierungswissen ist ein Wissen um gerechtfertigte Zwecke und Ziele; gemeint sind Einsichten, die im Leben orientieren (z.B. als Orientierung im Gelände, in einem Fach, in persönlichen Beziehungen), aber auch solche, die das Leben orientieren (und etwa den 'Sinn' des eigenen Lebens ausmachen).“

Ich bin davon überzeugt, dass von Bildung in einem gehaltvollen Sinne nur dann die Rede sein kann, wenn damit nicht nur Verfügungswissen, sondern auch und sogar vorrangig Orientierungswissen gemeint ist. Über Mittelstraß hinaus erinnere ich aber auch an den Ursprungssinn des Wortes „Orien-tierung“: Es bedeutet die Ausrichtung nach dem Orient, also nach dem Osten, nach Jerusalem hin. Als das Wort entstand, meinte es die Ausrichtung der menschlichen Existenz im Hinblick auf Jerusalem, die Stadt im Osten, den Ort von Kreuz und Auferstehung Jesu Christi. Das Wort „Orientierung“ erinnert von diesem Ursprung her daran, dass Glaubenswissen einen nicht zu vernachlässigenden Bestandteil des Orientierungswissens bildet. Das gehört unerlässlich dazu, wenn wir von einem ganzheitlichen Bildungsverständnis sprechen wollen.

Christliche Bildung geschieht von Anfang an

Bildung bestimmt und prägt die menschliche Existenz von Anfang an. Es ist durchaus damit zu rechnen, dass es auch schon vorgeburtliche Bildungsprozesse gibt. Wenn ein ungeborenes Kind im Bauch seiner Mutter daran teilnimmt, wie sie Musik hört, darf man vermuten, dass hier ein pränatales Bildungserlebnis im Spiel ist. Mich hat das Beispiel des „Stuttgarter Babys“ besonders beeindruckt, das im Leib einer klinisch toten Mutter heranwuchs. Die Musiktherapeutin der Klinik, in der das geschah, versuchte das Heranwachsen des Kindes im Leib der Mutter, deren Organtätigkeiten künstlich aufrecht erhalten wurden, durch Musik zu begleiten. Dieses Beispiel zeigt, dass der Respekt vor der Würde schon der ungeborenen Menschen in einem sachlichen Zusammenhang mit der Anerkennung ihrer Bildungsfähigkeit wie ihrer Bildungsbedürftigkeit steht.

In jedem Fall steht deshalb fest, dass ein Mensch spätestens mit seiner Geburt in den Raum der Bildung eintritt. Von daher hat die Taufe von Neugeborenen ihre anthropologische Begründung. Weil die christliche Kirche die Praxis der Kindertaufe kontinuierlich seit zwei Jahrtausenden praktiziert, versteht sie Kinder als bildungsfähige, aber auch bildungsbedürftige Menschen. Sie plädiert von daher für eine Bildung von Anfang an, für Bildung im Elementarbereich, für Elementarbildung.

Vor dem Hintergrund antiker Philosophien und Weltanschauungen stellte das christliche Verständnis vom Wert jedes Kindes als Geschenk Gottes eine geistige und kulturelle Revolution dar. Jesus, so erzählt die Bibel, segnete die Kinder, legte ihnen die Hände auf und küsste sie. Er empfahl den Erwachsenen, zu werden wie die Kinder, denn nur so, mit dem Eingeständnis ihrer Bedürftigkeit und ohne den Aufweis eigener Verdienste, könnten sie das Reich Gottes erlangen. In diesem Zusammenhang ist auch der Taufauftrag wichtig, der am Ende des Matthäus-Evangeliums überliefert ist (Matthäus 28,19f). Dieser Auftrag verknüpft das sakramentale Zeichen der Taufe eng mit Erziehung und Bildung; das Lehren und das Taufen gehören zusammen.

Die christlichen Kirchen haben im Laufe der Jahrhunderte auf dieser Grundlage ein umfassendes Ensemble von Bildungseinrichtungen aufgebaut. Ihre älteste und wichtigste Bildungsinstitution, die in unterschiedlicher Form für alle Altersstufen offen steht, ist der Gottesdienst. Weitere Einrichtungen der Bildung, speziell auch des Lehrens und Lernens sind im Laufe der Zeit hinzugekommen, etwa der Katechumenat, die Konfirmandenarbeit, christliche Schulen, der Religionsunterricht an allgemein bildenden Schulen.

Die Reformatoren, allen voran Martin Luther und Philipp Melanchthon, haben den engen, unauflöslichen Zusammenhang von Glaube und Bildung betont, der vom Anfang des Lebens bis zu seinem Ende besteht. Was damals noch nicht in einer gesonderten Weise in den Blick kam, war der Bereich der Elementarbildung; denn sie gehörte in den Bereich des Hauses und war an den Zusammenhang der Familie gebunden. Dass Familien auch in dieser Phase auf Unterstützung angewiesen sind, ist eine vergleichsweise neue Einsicht. Christliche Kindertagesstätten, in denen 3 bis 6 Jahre alte Kinder erzogen, betreut und gebildet werden, gibt es der Idee nach erst seit knapp zwei Jahrhunderten und in größerer, nennenswerter Anzahl erst seit dem 19. Jahrhundert.

Christliche Kindertagesstätten als Orte der Bildung von Anfang an

Erste Anfänge der Kindergartenidee findet man bei den so genannten "Mährischen Brüdern", bei Johann Friedrich Oberlin (1740-1826) im Elsass, bei Theodor Fliedner (1800-1864) in Kaiserswerth sowie bei Johann Heinrich Pestalozzi (1746-1827) und Friedrich Wilhelm August Fröbel (1782-1852). Fröbel formulierte als erster eine ausführliche pädagogische Grundlegung für die Arbeit in Kindergärten, die diese nicht als bloße Bewahr- oder Betreuungsanstalten definierte, sondern sie als Orte der individuellen altersgemäßen Bildung für Kinder verstand. In Verbindung mit dem missionarischen Diakoniekonzept von Johann Hinrich Wichern (1808-1881) breiteten die Kindergärten sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in allen evangelischen Landeskirchen aus. Schon der damals häufig verwandte Begriff "Kleinkinderschule" deutet an, dass der Bildungsgedanke mindestens von ebenso großer Wichtigkeit war wie der soziale Aspekt der Betreuung.

Heute gibt es in der Evangelischen Kirche in Deutschland rund 9.000 Kindertagesstätten, in denen fast 62.000 Beschäftigte arbeiten, darunter 35.000 Vollzeit- und 26.900 Teilzeitbeschäftigte. In den evangelischen Kindertagesstätten gibt es mehr als 540.000 Plätze für Kinder. Rund 50 % aller Kindertagesstätten in Deutschland sind heute in kirchlicher Trägerschaft (21 % befinden sich in evangelischer, 29 % in römisch-katholischer Trägerschaft). Demgegenüber kommen die kommunalen und staatlichen Träger auf 26 %, die Arbeiterwohlfahrt auf 1 %, das Rote Kreuz auf 1 % und sonstige freie Träger dieser Einrichtungen auf insgesamt 22 %.

Christliche Kindertagesstätten sind Orte der Bildung von Anfang an. Dennoch sind sie keine Selbstverständlichkeit und teilweise in ihrer Existenz sogar umstritten. Dies hat nicht selten finanzielle Gründe.

Konkrete Ermutigung dieser wichtigen Arbeit ist die Hauptabsicht der Erklärung des Rates der EKD vom vergangenen Jahr „Wo Glaube wächst und Leben sich entfaltet: Der Auftrag evangelischer Kindertageseinrichtungen“.

Chancengerechtigkeit als ein Ziel christlichen Bildungshandelns

Gerade aus der Sicht des christlichen Glaubens geht es darum, durch die Arbeit der christlichen Kindertagesstätten einen Beitrag zur Chancengerechtigkeit zu leisten. Ausgehend von dem Gedanken, dass jedem Menschenleben der gleiche Wert und die gleiche Würde vor Gott zukommen, engagiert sich die Kirche in ihrem Bildungshandeln dafür, dass Menschen im Alltag ihres Lebens auch tatsächlich gleiche Chancen erhalten. Das Hinwirken auf die gleichen Lebenschancen kann nicht als Reparaturbetrieb irgendwann in der Mitte eines Lebens begonnen werden. Es kommt vielmehr darauf an, dass von Anfang an und konsequent versucht wird, etwas zur Chancengerechtigkeit beizutragen. Chancengerechtigkeit ist eines der wichtigsten Ziele des christlichen Bildungshandelns. Sie betrifft generell das Handeln aller kirchlichen Bildungsinstitutionen, besonders derjenigen, die den Anfang, den Start in das menschliche Leben explizit bearbeiten. Der Kindergottesdienst, die kirchlichen Krabbelgruppen und Miniclubs sind dabei von großer Bedeutung. Aber ebenso sind es die Kindertagesstätten.

Chancengerechtigkeit anstreben, heißt zum Beispiel im Hinblick auf das Geschlechterverhältnis Jungen und Mädchen auf je individuelle Art und Weise zu fördern, also gerade in diesr Altersstufe ein „Gender Mainstreaming“ zu praktizieren. Chancengerechtigkeit muss ferner einschließen, behinderte Kinder noch besser als bisher in solche Einrichtungen zu integrieren. Die gemeinsame Erziehung behinderter und nicht behinderter Kinder ist nicht nur ein gesellschaftlicher Auftrag, sondern vor dem Hintergrund des christlichen Menschenbildes auch eine besondere Verpflichtung für Kirche und Diakonie. Die EKD vertritt in diesem Sinne ein „integratives diakonisches Bildungsverständnis“. Grundsätzlich gilt: Die Integration von behinderten Kindern ist machbar. Sie muss auch künftig finanzierbar bleiben.

Chancengerechtigkeit muss sich weiterhin konkretisieren an der Qualität der Begegnung zwischen unterschiedlichen Nationen, Religionen und Kulturen, die sich in der alltäglichen Praxis vieler Kindertagesstätten auf vielfältige Weise vollzieht. Ein evangelisches Bildungsverständnis schließt den Respekt vor anderen Religionen ein. Für evangelische Kindertagesstätten können Kinder, die in ihrem Leben prägende Erfahrungen mit Migration gemacht haben, eine Herausforderung, aber auch eine Bereicherung sein. Oft ist die Sicht leider durch Defizitzuschreibungen bestimmt. Dem sollte der Blick auf die von diesen Kindern erworbenen Fähigkeiten im Umgang mit kulturellen Herausforderungen gegenüber gestellt werden. Leistbar ist diese Aufgabe nach meiner Überzeugung freilich nur, wenn verkraftbare Proportionen gewahrt werden. Für evangelische Einrichtungen im Elementarbereich muss deshalb nach meiner Überzeugung gelten, dass es einen ausreichenden Anteil von Kindern aus christlichen Familien gibt, dass diese Familien die christliche Prägung der Kindertageseinrichtung unterstützen, und dass die Begegnung mit Kindern anderer kultureller Prägung gemeinsam als ein Teil dieser christlichen Prägung selbst gemeinsam bejaht wird.

Die Bildungsstudien der vergangenen Jahre (PISA, IGLU) haben gezeigt, wie wichtig die frühe Förderung von Kindern in Kindertagestätten ist und wie sehr sie der Integration von benachteiligten Kindern dienen kann. Dabei wurde insbesondere die Problematik der Sprachdifferenzen und der unterschiedlichen Entwicklung von Sprachfähigkeiten in den Blick genommen. Deutlich ist, dass nicht erst in der Schule mit der Sprachförderung begonnen werden darf und dass dies erst recht nicht einfach den einzelnen Familien überlassen werden kann. In den Kindertagesstätten ist vor diesem Hintergrund ein Akzent auf die Förderung von Sprachentwicklung zu legen. Diese muss eine der grundlegenden Bildungsaufgaben solcher Einrichtungen sein. Durch sie werden auch die Bildungschancen von Kindern aus Familien mit Migrationshintergrunde oder aus sozial schwachen Familien deutlich verbessert.

Aber hier ist noch ein ganz anderes Argument von Bedeutung: Bereits seit Martin Luther weiß die evangelische Kirche, dass die Sprachen die Scheiden sind, in denen das Messer des Geistes steckt. Luther maß deshalb der Sprachförderung in der Schule erhebliche Bedeutung zu. Heute muss auf vergleichbare Weise elementar angesetzt werden, weil sehr oft die Kenntnis und das Beherrschen der deutschen Sprache nicht vorausgesetzt werden kann. Die im April 2003 veröffentlichte IGLU-Studie hat belegt, dass die Leseleistungen von Kindern mit der Dauer der Kindergartenzeit ansteigen. Luther trat auch für die soziale Chancengleichheit im Bildungssystem ein, indem er forderte, die Obrigkeit müsse durch Stipendien oder auch mit Hilfe von Kirchengütern Kindern aus schwachen sozialen Verhältnissen helfen, eine Schulausbildung absolvieren zu können. „Ist der Vater arm, so helfe man mit Kirchengütern aus.“ Die Pfründen und Zinsen der Stiftungen und Klöster seien dazu bestimmt, tüchtigen Kindern aus armen Familien zum Bildungserwerb zu verhelfen, meinte Luther.

Was er damit beschrieb, ist zur Aufgabe der ganzen Gesellschaft geworden. Es geht darum, die Chancengerechtigkeit zu verbessern. Dies muss in verschiedenen Hinsichten und Dimensionen geschehen. Es geht um gleiche Chancen für Jungen und Mädchen, für behinderte und nicht behinderte Kinder, für Kinder mit Migrationshintergrund und für Kinder, deren Ursprungs- und Heimatland Deutschland ist, schließlich auch für Kinder aus allen sozialen Schichten der Bevölkerung. Aus evangelischer Sicht besteht das Ziel von Elementarbildung darin, dass Glaube wachsen und Leben sich entfalten kann.

Abschließend sei betont, dass die Herstellung von Chancengerechtigkeit auch nicht erst im Kindergarten beginnt, sondern sehr viel früher einsetzen muss. Wenn die Bundesfamilienministerin nach der Veröffentlichung der neuen PISA-Studie Ende vergangenen Jahres gefordert hat, alle Kinder sollten vom Alter von 12 Monaten an sollten einen Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz erhalten, so klingt das plakativ. Man wird einer solchen Forderung entgegenhalten, dass es in vielen Fällen wünschenswert ist, die Eltern könnten selbst – gewiss in einer neuen Rollenverteilung zwischen Frauen und Männern – Zeit für Kinder in den ersten Lebensjahren erübrigen. Aber wann immer sich das mit der beruflichen Situation, der Ausbildungssituation oder der persönlichen Lebensplanung nicht vereinbaren lässt, sollten qualitätvolle Angebote nicht nur für Betreuung, sondern auch für Bildung in der frühesten Lebensphase zur Verfügung stehen. Es gibt kaum eine gesellschaftliche Investition, von der man so sicher voraussagen kann, dass sie sich lohnt, wie die Elementarbildung, die „Bildung von Anfang an“.

Auch einem pragmatischen Argument will ich in diesem Zusammenhang nicht ausweichen: Im Hinblick auf die sich abzeichnende demographische Entwicklung lässt sich voraussagen, dass der Bestand der evangelischen Kindertageseinrichtungen künftig nur dann gehalten werden kann, wenn diese für Kinder anderer Altersgruppen geöffnet werden. Es sollte darüber nachgedacht werden, zumindest dort, wo vor Ort nicht mehr genügend 3-6-jährige Kinder vorhanden oder erreichbar sind, die Kindertagesstätte für Kinder zu öffnen, die jünger als 3 oder aber älter als 6 Jahre sind und entsprechend Krabbel- oder Hortgruppen einzurichten.

Für Qualität stark machen

Ein Bildungssystem, das konsequent danach strebt, Chancengerechtigkeit herzustellen, braucht durchgängige Bemühungen um Qualität.  Ich will das an einigen Beispielen erläutern.

a) Erzieherinnen und Erzieher, die religiöse und kulturelle Erziehungs- und Bildungsanliegen haben, müssen eine entsprechende religionspädagogische Befähigung durch Aus- und Fortbildung haben. Religionspädagogik muss daher zu einem festen Bestandteil kirchlicher Aus- und Fortbildung von Erzieherinnen und Erziehern werden. Diese orientiert sich inhaltlich an einer doppelten Perspektive: an den berufspraktischen Aufgaben religiöser Erziehung einerseits und an der Klärung des eigenen Standorts in Glaubensfragen andererseits. Daher sind eine religionspädagogische Grundbildung und die Vermittlung von berufspraktisch relevanten und religionspädagogisch elementaren Inhalten unverzichtbar. Die Ausbildung muss Erzieherinnen und Erzieher grundsätzlich befähigen, mit den religiösen Fragen der Kinder und ihrer Familien kompetent umzugehen.

 b) Auch für die gemeinsame Erziehung von behinderten und nicht behinderten Kindern bedarf es einer besonderen Qualifikation und ständiger Fortbildungsmöglichkeiten für Erzieherinnen und Erzieher. Das integrative diakonische Bildungsverständnis im Alltag einer Kindertageseinrichtung umzusetzen und dauerhaft zu behaupten, muss gelernt, eingeübt und in der Praxis bewährt werden.

c) Der Umgang mit Kindern aus unterschiedlichen sozialen Schichten und mit Kindern mit Migrationshintergrund muss ebenfalls gelernt werden. Die plurale Zusammensetzung von Kindergartengruppen stellt Erzieherinnen und Erzieher vor gravierende Probleme, die sie aus eigener Kraft nicht beheben oder lösen können.

d) Auch die Stärkung von Elternkompetenz ist eine Aufgabe, die oft den Erzieherinnen und Erziehern zugeordnet wird. Aber sind diese darauf vorbereitet? Familien brauchen heutzutage ein umfangreiches und differenziertes Angebot zur Unterstützung ihrer Erziehungsaufgaben. Erzieherinnen und Erzieher müssen auf die Kommunikation mit anspruchsvollen oder auch schwierigen Eltern und Familien vorbereitet sein. Sie müssen damit kompetent umgehen können.

e) Die Sicherung und Weiterentwicklung der Qualität von Kindertageseinrichtungen ist ein notwendiger Bestandteil der Arbeit von Trägern und Einrichtungen. Die qualifizierte Wahrnehmung  des Bildungs-, Erziehungs- und Betreuungsauftrags erfordert eine kontinuierliche und systematische Fortbildung für Erzieher/Erzieherinnen und Träger von Tageseinrichtungen für Kinder.

Alle diese Beispiele zeigen: Qualität ist notwendig. Kirchen wie andere Träger müssen sich für sie stark machen. Die Stärkung eines Bildungssystems in seinen Fundamenten, nämlich in den Tageseinrichtungen für Kinder als der ersten Stufe im Bildungssystem, kann nur mit Hilfe eines modernen und effizienten Ausbildungssystems für die dort tätigen Fachkräfte gewährleistet werden. Deshalb ist eine umfassende und nachhaltige Reform zu Gunsten der Professionalisierung der Fachkräfte zu fordern. Was ich damit meine, lässt sich leicht verdeutlichen: Der Ende des vergangenen Jahres veröffentlichte OECD-Länderreport zur frühkindlichen Bildung, Betreuung und Erziehung in Deutschland hält zwar fest, die Kinderbetreuung in den neuen Bundesländern sei eines der am besten ausgebauten Systeme der Welt; doch derselbe Bericht vermerkt zugleich, die Erzieherinnen- und Erzieherausbildung in Deutschland befinde sich im internationalen Vergleich auf einem durchaus unzureichenden Niveau. Da hierzulande Erzieher und Erzieherinnen nicht an Universitäten oder Fachhochschulen ausgebildet würden, fehle es auch an Forschung über frühkindliche Bildung. Die OECD empfiehlt daher, Erzieherinnen und Erzieher an Hochschulen auszubilden, da die Bildungsverantwortung an frühkindlichen Bildungs- und Erziehungseinrichtungen nicht geringer sei als an  Schulen. Deutschland wird nahe gelegt, mehr in die vorschulische Bildung zu investieren. Dies gehe nur in einer gemeinsamen Kraftanstrengung der Verantwortlichen im Bund, in den Ländern und Kommunen. Ich füge hinzu: Diese Kraftanstrengung fordert auch uns Kirchen und die anderen freien Träger, aber auch Eltern und Familien und die Gesellschaft insgesamt.

Eine bessere Ausbildung von Erzieherinnen und Erziehern ist nötig. In Qualität muss investiert werden. Dem stehen in den Zeiten allgemeiner Sparzwänge und der Ressourcenkonzentration Widerstände entgegen, denn ein höheres Ausbildungsniveau der in den Kindertagesstätten tätigen Fachkräfte zieht höhere finanzielle Aufwendungen nach sich. Es könnte aber doch sein, dass die Qualität einer Volkswirtschaft und die Stabilität einer Gesellschaft wesentlich von den Bildungsanstrengungen abhängig sind, die diese Gesellschaft zu erbringen bereit ist.

"Wenn dein Kind dich morgen fragt ..."

So lautet das Motto des Deutschen Evangelischen Kirchentages, der in diesem Jahr vom 25. bis zum 29. Mai in Hannover zu Gast sein wird. Was werden unsere Kinder oder unsere Enkel uns einmal fragen? Werden Sie von uns wissen wollen, ob wir uns für Chancengerechtigkeit eingesetzt haben? Werden sie uns fragen, ob wir ausreichend dafür gesorgt haben, dass Glaube wachsen und Leben sich entfalten kann? Ich kann nur dazu raten, die vorhandenen Institutionen der Elementarbildung zu pflegen, zu erhalten und zu stärken, wo immer dies möglich ist. Wir sollten nicht in die Situation kommen, unseren Kindern und Nachkommen auf ihre Frage „Was habt ihr für die Elementarbildung getan?“ antworten zu müssen: „I beg you pardon, I never promised you a kindergarten.“

Stattdessen sollten wir sagen: Wir haben Bildung und Chancengerechtigkeit von Anfang an verwirklicht.

Diese Antwort würde ich Kindern und Enkeln gern geben können. Dazu will die evangelische Kirche ihren Beitrag leisten.