"Die Religionen und der Staat" - Vortrag auf Einladung der Friedrich-Ebert-Stiftung in Bonn

Wolfgang Huber

I.

Das Verhältnis von Religion und Staat, von Religion und Politik ist neu zum Thema geworden. Denn die Religion selbst hat sich auf der öffentlichen Bühne zurückgemeldet. Heute geschieht das so, dass wir die Pluralität von Religion wahrzunehmen haben. Nicht mehr „Religion und Staat“ oder „Kirche und Staat“, sondern eben „die Religionen und der Staat“ drängen sich heute als Thema auf.

Auf der weltpolitischen Bühne treten Verbindungen zwischen Religion und politischer Machtausübung auf, die man aus einer europäischen oder genauer: einer europazentrischen Perspektive als längst überwunden angesehen hatte. Die islamistische Verbindung zwischen Religion und Macht ist dafür ebenso ein Beispiel wie der wieder erstarkte Hindunationalismus in Indien. Die neue Nähe zwischen Religion und Politik, die sich in Amerika unbeschadet des von der Verfassung vorgesehenen „wall of separation“ entwickelt hat, weist ebenso in diese Richtung wie die neue Nähe zwischen Kirche und Staat in manchen orthodox geprägten Ländern. „Die Religionen und der Staat“ ist nicht nur ein europäisches Thema; und die Frage danach, wie dieses Verhältnis bestimmt und geordnet werden kann, stellt sich nicht nur im Horizont des christlichen Glaubens. Wir sind dazu herausgefordert, kritisch zu prüfen, inwieweit die europäische Entwicklung zu einem auf Dauer tragfähigen Modell geführt hat, und ob wir dieses Modell auch für andere als verbindlich ansehen können. Lässt sich der Verzicht der Religion darauf, sich mit den Mitteln staatlichen Zwangs Anerkennung zu verschaffen, mitsamt der dazu gehörigen Vorstellung vom säkularen Charakter der staatlichen Ordnung auch für andere religiöse Traditionen als verpflichtend zur Geltung bringen? Taugt die Zusammengehörigkeit von Demokratie, Religionsfreiheit und säkularem Staat als Modell? Ist sie womöglich sogar eine unentbehrliche Voraussetzung für den Frieden zwischen den Religionen wie auch für den Frieden zwischen den Staaten?

Die Inanspruchnahme von Religion zur Legitimierung von tötender Gewalt hat diese Frage noch einmal verschärft. Wir kennen diese Inanspruchnahme auch aus der europäischen Tradition. Kein Nachdenken über das Verhältnis der Religionen zum Staat kommt an einer Stellungnahme zur gedanklichen Figur des gerechten Krieges vorbei. Die Kirchen in Europa haben sich zu einer allmählichen Distanzierung von dieser Denkfigur durchgerungen. Sie halten heute eher den „gerechten Frieden“ als den „gerechten Krieg“ für einen Leitgedanken der politischen Ethik. Doch in den USA beispielsweise ist unter Christen eine Denkweise im Vordringen, die den Einsatz militärischer Gewalt – auch in Gestalt eines preemptive strike – mit der Lehre vom gerechten Krieg begründen möchte. Zuletzt hat sich dies in der Auseinandersetzung um den Irakkrieg gezeigt. Aber wir werden noch einmal in ein ganz anderes Feld versetzt, wenn wir uns damit konfrontiert sehen, dass Selbstmordattentate oder terroristische Gewaltanwendung mit religiösen Motiven begründet und gerechtfertigt werden. Immer deutlicher spüren wir, dass es einen interreligiösen Dialog ohne eine offene Auseinandersetzung mit solchen Entwicklungen nicht mehr geben kann. Auch das muss man im Blick haben, wenn man den Plural verwendet: „Die Religionen und der Staat“.

II.

Mit jeder Religion verbindet sich ein umfassender Anspruch. Grundsätzlich gilt für jede Religion, dass das gesamte Verhalten an ihr auszurichten ist. Es gibt keine Religion, die ohne Konsequenzen für die Lebensführung bleibt. Insofern hat jede Religion auch eine politische Dimension. Sie betrifft nicht nur das private, sondern auch das öffentliche Leben. Die offene Gesellschaft westlicher Prägung lebt von der Vielfalt von Basisorientierungen, Meinungen, Lebensvorstellungen, Weltanschauungen und Religionen, deren Beziehungen zueinander im Prozess der zivilgesellschaftlichen Öffentlichkeit auf der Grundlage gegenseitiger Toleranz gestaltet werden müssen. Die Erfahrungen der Religionskriege in Deutschland haben gelehrt, Toleranz als das Komplementärprinzip zur Religionsfreiheit zu begreifen. Toleranz meint dabei nicht: alles für richtig zu halten und jedem Recht zu geben. Wenn alles gleich gültig ist, wird alles gleichgültig. Das Verbindliche wird dann beliebig und verliert gerade an Bindungskraft. Religiöse Toleranz in einem ernsthaften Sinn meint das Aushalten und Austragen von Differenzen in Anerkennung der Verbindlichkeit von religiösen Überzeugungen. Eine freiheitliche Gesellschaft, in der religiöse Überzeugungen ernst genommen werden, braucht eine wache, selbstbewusste Toleranz, die den Dialog einfordert, um Antworten auf die für alle wichtigen Fragen zu suchen.

Spätestens die Terrorakte der jüngsten Vergangenheit haben deutlich gemacht, wie unausweichlich beides zusammengehört: der Dialog, der die Überzeugungen des anderen ernst nimmt, und eine klare Haltung im Blick auf die Bedingungen dieses Dialogs. Wechselseitiger Respekt und das Bekenntnis zur klaren Scheidung zwischen Religion und Gewalt bilden entscheidende Voraussetzungen für das friedliche Zusammenleben in einer pluralen Gesellschaft und für den Frieden zwischen Völkern, Kulturen und Religionen. Diese Voraussetzungen zu erhalten ist Aufgabe aller Religionen. Nur wenn diese Voraussetzungen im Zentrum stehen, hat die Rede von einem „Projekt Weltethos“ einen guten und überzeugenden Sinn.

Die Entwicklung religiös begründeter Parallelgesellschaften – wie dies auch in unserem Lande in Bezug auf den Islam in vielen Städten zu beobachten ist – bildet einen Nährboden des Fundamentalismus. Niemand kann das Recht haben, unter Berufung auf religiöse Regeln oder auf kulturelle Traditionen aus seinem jeweiligen Herkunftsland andere Menschen gewaltsam zu bedrängen, zu verletzen oder zu töten. Gesellschaft, Staat und Religionsgemeinschaften sind heute in besonderem Maße gehalten, ihr Verhältnis zu einander im Bewusstsein solcher gemeinsamer Grundüberzeugungen zu bestimmen und die Rahmenbedingungen der Religionsfreiheit in der freiheitlich demokratischen Grundordnung unseres Gemeinwesens so zu entwickeln, dass religiöser Fanatismus darin keinen Platz hat und haben kann.

III.

Die Grundlage des gesellschaftlichen Zusammenlebens in Deutschland ist die freiheitliche demokratische Grundordnung unseres Staatswesens. Das Zusammenleben in einem Gemeinwesen verlangt von allen Gliedern der Gesellschaft, dass die elementaren Grundlagen, auf denen das Ganze beruht, von jedermann akzeptiert werden. Im demokratischen Rechtsstaat gibt es das Recht auf Unterschiede, aber kein unterschiedliches Recht. Die damit verbundene Problematik ist durch das Entstehen der religiös pluralen Gesellschaft deutlich hervorgetreten. Der freiheitliche Staat ist darauf angewiesen, dass er von Bürgerinnen und Bürgern getragen wird, die sich ihrer Freiheit bewusst sind und diese Freiheit verantwortlich wahrnehmen. Die Bereitschaft dazu ist den Menschen nicht angeboren, sondern muss erlernt werden. Die Einstellung zum Gemeinwesen wird bei aller Pluralität maßgeblich von Elternhaus, Kindergarten, Schule und den Religionsgemeinschaften geprägt, denen Eltern und Kindern angehören. All diese Sozialisationsinstanzen haben es heute weit schwerer als früher; sie konkurrieren zugleich mit „heimlichen Erziehern“, unter denen die Massenmedien eine beherrschende Rolle einnehmen. Es hat keinen Sinn, vor dieser Situation zu kapitulieren, sie muss vielmehr aktiv angenommen werden. Die Kirchen stellen sich deshalb gerade heute ihrem Bildungsauftrag auf neue Weise. Es kommt nicht von ungefähr, dass die Kirchen zu den größten Trägern von Kindergärten gehören und dass evangelische wie katholische Schulen sich einer größeren Nachfrage gegenüber sehen, als sie an Schülerinnen und Schülern aufnehmen können. Die von ihrem christlichen Gewissen geleiteten Bürger und Bürgerinnen sind es, die in freier Entscheidung christliche Werte in Staat und Gesellschaft vertreten. Die Kirchen stehen zu ihrer öffentlichen Verantwortung. Sie sehen diesen Staat in seiner Weltlichkeit nicht als etwas Fremdes, ihrem Glauben Feindliches an, sondern als die Chance der Freiheit, die zu erhalten und zu realisieren auch ihre Aufgabe ist.

IV.

Die Evangelische Kirche in Deutschland hat sich 1985 in der Denkschrift „Evangelische Kirche und freiheitliche Demokratie. Der Staat des Grundgesetzes als Angebot und Aufgabe“ eingehend mit dem Verhältnis der Evangelischen Kirche zur Bundesrepublik Deutschland befasst. Sie kommt zu der zutreffenden Feststellung, dass nur eine demokratische Verfassung auf der Grundlage einer klaren Unterscheidung von Staat und Religion der Menschenwürde entsprechen kann. Die Kirchen träumen also nicht von einem christlichen Gottesstaat. Sie stehen auf dem Boden der freiheitlichen Gesellschaftsordnung. Demokratie setzt in einer offenen Gesellschaft den Dialog voraus, der den Dialog mit den Religionsgesellschaften wie unter ihnen einschließt.

Diese Grundhaltung gilt nicht mit der gleichen Selbstverständlichkeit für andere Religionen. Ein unkritisches Sympathisieren mit dem Konzept einer multireligiösen Gesellschaft ist vor diesem Hintergrund naiv. Demokratie setzt zwar Pluralismus voraus; dieser ist jedoch auf gemeinsame Grundlagen angewiesen und an gemeinsam anerkannte Grenzen gebunden. Dies ergibt sich schon daraus, dass in der freiheitlichen Demokratie nicht eine Wahrheit alle anderen Überzeugungen verdrängen kann. Die Freiheit des einen darf nicht zur Unfreiheit der anderen werden. Um der Freiheit der Menschen willen erfährt die Pluralität ihre Grenzen an den Menschenrechten, die den Menschen in seiner unantastbaren Würde respektieren und ihn zum Gebrauch seiner Freiheit befähigen.

Die grundrechtlich geschützte Freiheit hat nicht aus sich heraus Bestand. Sie ist ein Angebot an zur Freiheit berufene und befähigte Bürger und Bürgerinnen, für das geworben und eingetreten werden muss. Hieraus ergeben sich zwangsläufig Anfragen an die Religionsgemeinschaften. Wie stehen sie

- zum Einsatz von Gewalt,

- zum Andersgläubigen – versagen sie ihm seine Würde und sehen ihn als Schädling an – ,

- zur Gleichheit von Mann und Frau in Familie und Gesellschaft,

- zur Wahrnehmung demokratischer Rechte und Übernahme von Verantwortung

- und schließlich zu den Menschenrechten und damit auch der Religionsfreiheit.

Spätestens seit der Konfrontation mit dem gewaltbereiten religiös verbrämten Fundamentalismus ist es unausweichlich, die Kraft zur kritischen Unterscheidung als Anforderung an alle Religionen ernst zu nehmen und beispielsweise von ihnen zu fordern, dass sie sich von Hasspredigern trennen und Indoktrinationen, die sich gegen die freiheitliche offene Gesellschaft richtet, verhindern. Religiöse Frömmigkeit und religiöser Fanatismus sind klar voneinander zu trennen; aber im wirklichen Leben liegen sie manchmal nicht weit auseinander. Der Lackmustest besteht in der Frage: Wie können Menschen miteinander leben, die ganz unterschiedliche Glaubensinhalte für wahr und richtig halten und manches tun, wozu die jeweils anderen sich nicht verstehen können? Damit das Zusammenleben gelingt, brauchen Christen und Muslime einen Dialog, der ihnen hilft, einander besser zu verstehen, Unterschiede und Gegensätze zu respektieren und von einander zu lernen. Dieser Dialog als Suche nach der Wahrheit schließt den Streit um die Wahrheit ein. So stärkt er die Fähigkeit, abweichende Überzeugungen auszuhalten und zuzulassen, schärft aber zugleich die gemeinsame Anerkennung der Bedingungen ein, ohne die das Zusammenleben der Verschiedenen nicht möglich ist.

V.

Das öffentliche Wirken der Religionsgemeinschaften berührt die staatliche Rechtsordnung. Denn es geht dabei auch um die Frage, inwieweit ihnen das staatliche Recht Raum gibt, sie fördert oder behindert. Die Grundlagen und die Einzelheiten des Verhältnisses des Staates zu allen Religionsgemeinschaften regelt das Grundgesetz in seinen Artikeln 4 und 140. Die Verfassung privilegiert dabei nicht in einer ausschließenden Weise die christlichen Kirchen, sondern behandelt seiner grundsätzlichen Absicht nach alle religiösen Überzeugungen und alle Religionsgemeinschaften gleich. Der Artikel 4 des Grundgesetzes garantiert die Religionsfreiheit, ein Grundrecht, das auch für die Religionsgemeinschaften gilt; denn Religionsausübung ist auf die Gemeinschaft mit anderen angewiesen, hat also eine individuelle wie eine kollektive Seite. Der Artikel 140 des Grundgesetzes konkretisiert die kollektive Religionsfreiheit durch institutionelle Festlegungen, indem er die staatskirchenrechtlichen Bestimmungen der Weimarer Reichsverfassung (Art. 136 – 139 und 141 WRV) in das Grundgesetz übernimmt.

Diese Bestimmungen beginnen mit der klaren Feststellung, dass Staat und Kirche voneinander getrennt sind. Das Staatskirchentum, indem insbesondere die evangelischen Kirchen verhaftet waren, ist beendet. Doch die Kirchen sind nach wie vor Körperschaften des öffentlichen Rechts. Dennoch sind sie weder in den Staatsorganismus integriert noch unterliegen sie – wie die anderen Körperschaften des öffentlichen Rechts – einer Staatsaufsicht. Das Besondere dieser Regelung besteht darin, dass sie die wechselseitige Unabhängigkeit von Staat und Kirche damit verbindet, dass der Öffentlichkeitsauftrag der Kirchen anerkannt wird. Religionsfreiheit kann keineswegs nur – wie das französische Modell des Laizismus annimmt – dadurch verwirklicht werden, dass die Religion auf den Bereich des Privaten beschränkt wird. Man kann vielmehr die religiöse Neutralität des Staates akzeptieren und zugleich die öffentliche Dimension von Religion respektieren. Die besondere Bedeutung des deutschen Modells liegt gerade darin, dies beides miteinander zu verbinden.

Nur der religiös neutrale Staat kann die volle Religionsfreiheit verfassungsrechtlich sichern. Ein religiös gebundener Staat, der sich einer Religion gegenüber in besonderer Weise verpflichtet weiß, läuft dagegen Gefahr, diese gegenüber anderen Religionen in seinem Staatsgebiet zu privilegieren. Unterdrückung von Menschen wegen ihrer religiösen Überzeugung gehört auch heute in vielen Ländern zur politischen Realität. Der Staat, der anerkennt, dass der Mensch frei und mit unantastbaren Rechten ausgestattet ist, kann ihn nicht einer vorgegebenen Religion zuweisen oder ihn direkt oder indirekt zu bestimmen versuchen, sich für eine Religion zu entscheiden oder Religion ins Private abzudrängen. Der moderne, freiheitliche und demokratische Staat legitimiert sich nicht von Gott her, sondern allein von den Menschen, die in diesem Gemeinwesen miteinander verbunden sind, auch wenn diese in Verantwortung vor Gott stehen, wie es die Präambel unseres Grundgesetzes zu Recht formuliert. Daher fehlt es an einer Rechtfertigung dafür, dass der Staat eine Religion von sich aus zur verbindlichen Grundlage des gemeinsamen Zusammenlebens seiner Bürger erklärt. Religiöse Neutralität setzt eine klare institutionelle Trennung von Staat und Religionsgemeinschaften voraus. Aber es wäre ein Missverständnis von staatlicher Religionsneutralität, daraus eine Gleichgültigkeit des Staates gegenüber dem Wirken der Religionsgemeinschaften abzuleiten. Vielmehr gibt es eine Pflicht des Staates, die Religion als Bestimmungskraft für das Leben vieler seiner Bürgerinnen und Bürger  wahrzunehmen und sie ohne falsche Parteinahme zu fördern. Mit dem Begriff der „fördernden Neutralität“ hat das Bundesverfassungsgericht dies – wie ich meine – zutreffend charakterisiert.

Die Trennung von Staat und Kirche bedeutet nach deutschem Verfassungsrecht nicht, dass das Religiöse aus dem öffentlichen Bereich verbannt wird. Vielmehr erkennt der freiheitliche demokratische Staat die große Bedeutung der Religion im Prozess der Wert- und Überzeugungsbildung an. Er braucht bei aller Säkularität und religiösen Neutralität ein sozialethisches Fundament. Er lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht schaffen kann. Jede Gesellschaft verfügt nur dann über eine innere Stabilität, wenn sie eine Wertordnung hat, der gegenüber sich die einzelnen Bürgerinnen und Bürger verpflichtet wissen. Die Verfassungsordnung erwartet von den Religionsgemeinschaften, dass sie sich in den notwendigen gesellschaftlichen Diskurs einbringen. Die freiheitliche demokratische Grundordnung ist auf den offenen Meinungsaustausch angewiesen. Dazu gehört auch die Stimme der Kirche. Die Kirchen sind –und darin unterscheiden sie sich grundlegend von Parteien und anderen gesellschaftlichen Großorganisationen – nicht in den Prozess gesellschaftlicher Produktion, Reproduktion und Erhaltung eingebunden. Die von Sachzwängen geprägte Lebenswirklichkeit braucht Kräfte, die in Freiheit und Unabhängigkeit am gesellschaftlichen Willensbildungsprozess mitwirken und dabei den Sprachlosen Stimme verleihen. Die Aufgabe der Kirchen ist es nicht, wie Richard von Weizsäcker einmal formuliert hat, Politik zu machen, aber sie sollen Politik möglich machen. Gesellschaft und Staat sind darauf angewiesen, dass an dem Dialog zwischen den gesellschaftlichen Gruppen auch solche beteiligt sind, die kein Eigeninteresse haben. Daher ist das Verhältnis des Staates zu den Kirchen nicht durch Laizismus oder eine Verbannung der Religionen aus dem öffentlichen Leben angemessen zu gestalten. Vielmehr gibt die Verfassung den Kirchen und Religionsgemeinschaften den notwendigen Raum, in der Öffentlichkeit zu wirken. Die Grundmarkierungen der deutschen Verhältnisbestimmung zwischen Staat und Religionsgemeinschaften bedeuten nicht, dass der Staat sie nur unbeteiligt machen lassen will, sondern sie enthalten auch die Erwartung in sich, dass sie sich aktiv in die Willensbildung der Gesellschaft einzubringen, dass sie ihren Beitrag in Gesellschaft, Bildung, Medien, Wissenschaft, Kultur und Diakonie leisten.

Um dem Anspruch seiner Bürger und Bürgerinnen auf positive Religionsausübung gerecht werden zu können, ist der Staat in seinen Einrichtungen auf ein Zusammenwirken mit den Religionsgemeinschaften angewiesen, so in der staatlichen Schule beim Religionsunterricht, in der Seelsorge in Krankenanstalten, in Haftanstalten oder in der Bundeswehr, in Polizei und Grenzschutz, bei theologischen Fakultäten und kommunalen Friedhöfen. Religiöse Neutralität bedeutet nicht, dass der Staat sich von jeder Förderung von Religion oder jedem Zusammenwirken mit ihr fern zu halten hat. Denn er erkennt ihre öffentliche Bedeutung an und drängt sie deshalb nicht ins Private ab. Die These von der Religion als Privatsache gehört in die Gedankenwelt des 19. Jahrhunderts; das sollte man nie vergessen, wenn sie zu Beginn des 21. Jahrhunderts unversehens wieder auftaucht.

Die positive Förderung der Religionsausübung durch den Staat verstößt nicht gegen das Prinzip der religiösen Neutralität des Staates, solange der Grundsatz der Gleichheit auch im Blick auf die Religionsgemeinschaften gewahrt bleibt. Gleichheit bedeutet allerdings bekanntlich, Gleiches gleich und Ungleiches ungleich zu behandeln. Religiöse Symbole, religionsbestimmte Handlungen und religiöse Überzeugungen werden deshalb vom Staat legitimerweise unter dem Gesichtspunkt ihrer Nähe zu den Grundüberzeugungen des freiheitlichen demokratischen Staats betrachtet. Zu Recht wird in den Blick genommen, mit welchen politischen oder gesellschaftlichen Haltungen sie sich verbinden. Es ist deshalb ein Irrweg, der leider vom Land Berlin unlängst eingeschlagen wurde, die Absicht, einer muslimischen Lehrerin das Tragen des Kopftuchs zu untersagen, auf dem Weg zu verwirklichen, dass alle religiösen Symbole verboten werden. Das ist eine Haltung, die gegen das Übermaßverbot verstößt; sie setzt zudem eine möglicherweise religiös bestimmte Handlung – das Tragen eines Kopftuchs – und religiöse Symbole umstandslos gleich. Dieselbe Pflicht zur Unterscheidung gilt auch im Blick auf gewaltbereite oder gar gewalttätige Neigungen in Religionsgemeinschaften, religiösen Gruppen oder bei religiös motivierten Einzeltätern. Auch hier darf die Pflicht zu entschlossener Gegenwehr nicht in eine generelle Aktion gegen die Religionsgemeinschaften münden, übrigens auch nicht gegen den Islam.

Die christlichen Kirchen treten für die gleiche Religionsfreiheit und deshalb auch für die Gleichbehandlung der Religionen im Staat ein. Sie tun dies, obwohl sie zugleich darauf hinweisen müssen, dass in anderen Staaten Christen keine oder nur eine sehr eingeschränkte Religionsfreiheit eingeräumt wird oder Staaten tatenlos zusehen, wie Christen von Angehörigen anderer Religionen bedrängt und unterdrückt werden. An dieser Haltung orientieren wir uns um unseres eigenen Freiheitsverständnisses willen. Dennoch würden, worauf Altbundespräsident Rau in seiner Rede zur Religionsfreiheit am 22. Januar 2004 zu Recht mit Nachdruck hingewiesen hat, sich „viele Menschen bei uns leichter an den Anblick von Moscheen gewöhnen können, wenn Christen in islamischen Ländern das gleiche Recht hätten, ihren Glauben zu leben und auch Kirchen zu bauen.“ Denn obwohl die Religionsfreiheit zum Kernbestand der Menschenrechte gehört und durch internationale Abkommen gewährleistet scheint, gehört die Unterdrückung von Menschen wegen ihrer religiösen Überzeugung heute in vielen Ländern zur politischen Realität. Die Evangelische Kirche in Deutschland hat in einer Studie zur Lage der Religionsfreiheit aus dem Jahr 2003 diese Unterdrückung im Einzelnen festgestellt. An den zum Teil bedrückenden Beispielen zeigt sich: Die Religionsfreiheit wird zur Nagelprobe für die Einstellung des Staates zur menschlichen Freiheit überhaupt.

VI.

Das Eintreten für die Religionsfreiheit als Menschenrecht gründet in der christlichen Glaubensgewissheit, um deretwillen der Mitmensch als Nächster geachtet und in seiner abweichenden Glaubensweise respektiert wird. Reformatorischer Glaube stützt sich auf eine göttlich zugesprochene Anerkennung der menschlichen Person, die unabhängig von ihren Taten und damit auch von ihren Überzeugungen gilt. Daher entspricht es dem Kern christlichen Glaubens, diese Menschenwürde, die Menschenrechte und damit die Religionsfreiheit auch Menschen anderen Glaubens zuzusprechen. Deshalb anerkennen die christlichen Kirchen das Existenzrecht anderer Religionen, einschließlich ihres Anspruchs auf ein Wirken in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit. Dies war nicht immer so. Die Kirchen waren keineswegs Avantgardisten politischer Freiheit und erst recht nicht der individuellen Religionsfreiheit. Die uns heute so selbstverständlich erscheinende Anerkennung der Religionsfreiheit als Menschenrecht ist in den christlichen Kirchen das Ergebnis eines langen historischen und theologischen, bisweilen recht schmerzhaften Entwicklungs- und Lernprozesses.

Die Verwirklichung der Religionsfreiheit als Menschenrecht weltweit ist heute eine unaufgebbare Forderung und ein Anliegen der beiden großen Kirchen in Deutschland. Die Bejahung der individuellen wie der kollektiven, der negativen wie der positiven Religionsfreiheit ist ein Ergebnis eines geistesgeschichtlichen Prozesses insbesondere seit der Reformation. Die Menschenrechte bilden inzwischen einen Schwerpunkt der christlichen Ethik. Heute wird mehr denn je von den Religionsgemeinschaften erwartet, dass sie aktiv mithelfen, Grundstrukturen zur Sicherung der Prinzipien der Zivilgesellschaft in den Ländern zu schaffen, in denen die Menschenrechte noch nicht verwirklicht sind. Hier setzen die Kirchen auf die Zusammenarbeit mit anderen Religionsgemeinschaften, insbesondere dem Islam. Dabei erwarten sie, dass andere Religionen in den Ländern, in denen die Christen in der Minderheit sind, sich ebenso für die freie Religionsausübung der christlichen Kirchen und gegen staatliche Behinderungen einsetzen, wie sie in den Staaten der Europäischen Union die Religionsfreiheit in Anspruch nehmen. Für die Kirchen wird dies auch ein Prüfstein für die Beitrittsverhandlungen der Europäischen Union mit der Türkei sein.

VII.

Die Religionsfreiheit als individuelles Menschenrecht im soeben dargestellten Sinne ist durch den Islam im Ganzen bisher nicht anerkannt worden. Zwar gibt es durchaus differenzierte Zugänge des Islam zur Religionsfreiheit. Doch Grundlage ihrer Gewährleistung ist, wie ich bereits erläutert habe, die Trennung von Religion und staatlicher Rechtsordnung, zu deren Bestandteil die Menschenrechte gehören. Diese Trennung vollzieht der Islam aufs Ganze gesehen nicht. Das ist auch in der Türkei trotz der Anlehnung an das Konzept des Laizismus de facto nicht der Fall. Dies macht schon die Einrichtung einer staatlichen Religionsbehörde deutlich. Hinzu kommt die Abstufung religiöser Freiheitsrechte zwischen dem Islam einerseits und den anderen Religionen, das Christentum eingeschlossen, andererseits.

Für den Islam gilt vielmehr insgesamt: Der Staat ist organisierte Religion. Sein Recht ist religiöses Recht. Seine Quellen findet das Recht in der Religion. Das in der göttlichen Offenbarung gegebene Gesetz ist für Muslime abschließend und verbindlich. Es gilt als Ideal, das alle Aspekte der Lebenspraxis umgreift: das Bekenntnis des Glaubens, die gottesdienstliche Ordnung und rituelle Gebote ebenso wie Grundsätze für das Familien- und Strafrecht, schließlich für das Leben in der Gemeinschaft schlechthin. Zwar haben islamische Länder in ihren Verfassungsordnungen traditionelle Elemente des europäischen Rechtsdenkens aufgenommen; die Türkei hat die Scharia sogar ausdrücklich als Rechtsgrundlage der staatlichen Ordnung außer Geltung gesetzt. Dennoch lebt in der Vorstellung vieler Muslime das Bewusstsein, dass ihr gesamtes Leben und das der staatlichen Gemeinschaft nach Gottes „Rechtleitung“ und damit nach den Vorschriften der Scharia geordnet sein müsse, wie es in der islamischen Urgemeinde der Fall gewesen sei. Die Einheit der Gesellschaft in der islamischen Umma umfasst die politische und religiöse Gemeinschaft.

Der dadurch entstehende Konflikt mit einer modernen europäischen Auffassung ist deutlich. Denn für europäisches Bewusstsein seit der Aufklärung ist das Recht von seiner religiösen Begründung gelöst. Mit dem Erringen der freiheitlichen Demokratie ist die staatliche Bevormundung des Menschen aufgehoben worden. Seine Freiheit wird ihm nicht durch den Herrscher verliehen. Vielmehr wird der Mensch mit einer Freiheit geboren, die ihm gerade nicht vom Staat verliehen wird. Sie macht ihn zum Menschen. Im Islam fehlt der geistesgeschichtliche Umbruch der Aufklärung und damit die Erkenntnis von der Freiheit des Menschen als einer für ihn unverlierbaren Eigenschaft. Daraus ergibt sich ein prinzipieller Unterschied in der Bestimmung des Verhältnisses von Recht und Religion. Denn im Blick auf ein freiheitliches demokratisches Gemeinwesen bleibt festzuhalten: Für das Zusammenleben in der offenen Gesellschaft kann es keinen religiösen Vorbehalt geben, dem alle unterworfen werden. Das friedliche Zusammenleben fordert Anerkennung durch jede Religion und kann um der Freiheit für alle willen nicht zur Disposition gestellt werden.

Zwar hat sich der Islam seit den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts zunehmend auf die Diskussion über die Menschenrechte eingelassen. 1990 verabschiedete die Organisation der Islamischen Staaten in Kairo die „Erklärung der Menschenrechte im Islam“. Allerdings wird die Religionsfreiheit in diesem Dokument nur in einem negativen Sinne berührt, insofern ein Verbot ausgesprochen wird, zu einer anderen Religion als dem Islam zu bekehren oder sich dem Atheismus zuzuwenden. Im Übrigen ordnet die Erklärung die Menschenrechte der Scharia unter. Der hier deutlich werdende Unterschied im Verständnis der Religionsfreiheit muss im Blick behalten werden. Muslime und Christen können also etwas sehr Unterschiedliches meinen, wenn sie von Religionsfreiheit reden. Hier sind Klärungsprozesse dringend vonnöten. Denn der Islam in Deutschland wie in der EU kann – übrigens genauso wenig wie die Kirchen und andere Religionsgemeinschaften – nicht aus der Verantwortung für das Gemeinwohl entlassen werden. Er muss in der öffentlichen Debatte um Menschenrechte und Gewalt Positionen beziehen und den Respekt gegenüber der freiheitlichen Gesellschaftsordnung seinem eigenen Handeln zugrunde legen.

Nach wie vor fehlt es in Deutschland an der ausdrücklichen und eindeutigen Zustimmung zur Religionsfreiheit als Menschenrecht durch führende Vertreter der Muslime. Der Zentralrat der Muslime in Deutschland e.V., ein multinationaler Dachverband, der eine Minderheit von Muslimen vertritt, hat im Januar 2002 der Öffentlichkeit eine „Islamische Charta“ vorlegt, die sich als Grundsatzerklärung zur Beziehung der Muslime zu Staat und Gesellschaft in Deutschland versteht. Es ist zu begrüßen, dass er sich der Aufgabe stellt, eine Auskunft über das Selbstverständnis von Muslimen im Hinblick auf ihren Glauben, zu Grundlagen des deutschen Rechtsstaates, zu Menschenrechten und zum gesellschaftlichen Zusammenleben zu geben. Der Zentralrat sieht eine seiner wichtigsten Aufgaben darin, durch Öffnung und Dialog Vorurteile abzubauen und eine Vertrauensbasis in der deutschen Öffentlichkeit zu schaffen. Es wird auch ausdrücklich als Pflicht jedes Muslims betont, mit anderen gesellschaftlichen Gruppen in einen offenen Dialog über den Glauben, religiöse Überzeugungen und eine religiöse Lebenspraxis einzutreten. Jedoch bleiben kritische Rückfragen, insbesondere im Hinblick auf die Religionsfreiheit, die nach wie vor nicht eindeutig von der Scharia gelöst wird. Die „Islamische Charta“ dokumentiert das Bemühen um Bewahrung der muslimischen Identität bei der gleichzeitigen Absicht, die Integration in die deutsche Gesellschaft zu fördern und eine eigenständige Kontur eines europäischen Islam zu entwickeln. Dies ist ein mutiger Schritt, der Respekt und Anerkennung verdient, aber zugleich zahlreiche Unklarheiten und Widersprüche zurücklässt und wichtige Themen nicht anspricht. Unsere Kirche hat manche Anfragen dazu formuliert, die bisher noch ohne Antworten geblieben sind. Ebenso fehlt es an Stellungnahmen anderer muslimischer Verbände zu den vom Zentralrat bezogenen Positionen und damit zu einem unter Muslimen in Deutschland selbst angestoßenen Dialog. Diese Debatte muss aufgenommen werden. Ich habe mich darum bemüht und werde mich weiter darum bemühen.

Angesichts der Tatsache, dass es islamistische und nationalistische Gruppen gibt, die einer Integration skeptisch gegenüber stehen bzw. diese explizit nicht bejahen, bildet die „Islamische Charta“ eine Herausforderung und einen Anstoß zu einem wichtigen Selbstklärungsprozess. Ich bin daher froh, dass es am 11. Januar dieses Jahres zu einem Spitzengespräch der EKD mit muslimischen Organisationen gekommen ist. Die Begegnung wurde von allen Beteiligten sehr positiv aufgenommen. Der Austausch auf höchster Ebene soll und wird fortgesetzt werden. Neben der grundsätzlichen Vertiefung des interreligiösen Dialogs sollen konkrete Fachfragen der Integration stehen. Dabei stehen die Themen des islamischen Religionsunterrichts und der Ausbildung von Imamen in Deutschland sowie der deutschen Predigtsprache bei den Freitagsgebeten im Vordergrund.

So wichtig und notwendig das Gespräch mit Muslimen in unserem Land ist, so sehr muss man sich bewusst bleiben, dass die Entwicklung des Islam in Deutschland wesentlich von der Politik der Türkei mitbestimmt wird. Sie erkennt nach wie vor die Religionsfreiheit nur sehr eingeschränkt an. Die türkische Republik hat sich zwar die Vorstellung eines säkularen laizistischen Staates zu eigen gemacht. Um das Ziel einer türkischen Nation zu erreichen, setzt die Türkei aber auf das verbindende Band des Islam, dem 99% der Bevölkerung angehören. Er soll der Türkisierung in der Türkei und auch der im europäischen Ausland lebenden Türken dienen. Um dieses Ziel zu erreichen, wurde das Präsidium für Religiöse Angelegenheiten, eine staatliche Behörde mit einer gewaltigen Zahl von Mitarbeitern errichtet. Der Islam in der Türkei untersteht damit der staatlichen Kontrolle. Über das laizistische Staatsverständnis soll die Religionsbehörde verhindern, dass Religion genutzt wird, um politisch gegen den Staat zu mobilisieren. Vom Beginn der Republik an hatte das Religionsrecht einen türkischen Islam im Auge. Andere Religionen werden unter Berufung auf die Laizität ausgegrenzt oder in Grauzonen gedrängt. So werden die christlichen Kirchen nach wie vor massiv behindert. Ihnen wird die Anerkennung als juristische Person versagt, was unter anderem den Erwerb von Eigentum unmöglich macht. Arbeitserlaubnisse werden verweigert, die Ausbildung von Geistlichen wird untersagt.

Wenn die Türkei zur Europäischen Union gehören will – unabhängig davon, ob als Vollmitglied oder durch eine privilegierte Partnerschaft - , muss sie sich auf den gesellschaftlichen Grundkonsens der Mitgliedsstaaten einlassen und dazu nachprüfbare und nachhaltig wirksame Fakten schaffen. Hierzu muss ihre politische Elite bereit sein. Die Ausrichtung der jetzigen türkischen Regierung auf Europa zwingt sie zu einer Neubestimmung des Verhältnisses von Staat und Religion und zu einem liberalen Umgang mit der religiösen Vielfalt in der Türkei. Diesen Reformansatz gilt es aufzunehmen und zu stützen. Aber sein Ergebnis lässt sich nicht schon heute vorwegnehmen.

VIII.

Heute besteht mehr denn je auch eine Furcht vor Religion. Sekten jedweder Couleur, Spiritismus, Psychojugendreligionen und gewaltsamer religiöser Fundamentalismus haben die Menschen verunsichert. Dies ist eine Herausforderung an den Staat wie auch an die  Religionsgemeinschaften. Diese müssen nach ihrem Selbstverständnis als Kommunikations- und Zeugnisgemeinschaften in ihrem öffentlichen Auftreten dafür sorgen, dass Grundfragen des menschlichen Lebens und Handelns auf der Tagesordnung bleiben und dass ihre Stimme im Konzert der Meinungen und Anschauungen Gehör findet. Anstelle von Scheinlösungen ist in einer freiheitlichen und demokratischen Gesellschaft ein öffentlicher Diskurs nötig, der die Relevanz unterschiedlicher Positionen deutlich werden lässt und nach konsensfähigen Regelungen und Rechtsnormen Ausschau hält. Alle Religionsgemeinschaften – und nicht nur die Kirchen – sind aufgefordert, an dieser Willensbildung teilzunehmen und ihre Verantwortung für das Gemeinwesen insgesamt und nicht nur für ihre Mitglieder wahrzunehmen.

Den Religionsgemeinschaften kommt die Aufgabe eines öffentlichen Gewissens zu, indem sie in Lehre, Predigt und öffentlichen Erklärungen die persönliche Verantwortung zu wecken und zu fördern versuchen, also „das Beste der Stadt suchen“, wie es der Prophet Jeremia formuliert. Deswegen besteht ein elementares Interesse an Kenntnissen über andere Religionsgemeinschaften und deren Inhalte und ein elementares Interesse an Transparenz.

Um den inneren Zusammenhalt und Frieden zu erhalten, kommt der Integration ausländischer Mitbürgerinnen und Mitbürgern eine große Bedeutung zu. Die in Deutschland auf Dauer lebenden Muslime müssen einen Weg der Integration und der positiven Mitgestaltung der deutschen Gesellschaft finden. Denn die Abgrenzung von Teilen der muslimischen Bevölkerung in Parallelgesellschaften und Ghettos gefährdet den sozialen Frieden. Wer seinen Lebensmittelpunkt in Deutschland bejaht, die Rechts- und Gesellschaftsordnung anerkennt und sich hier mit seiner muslimischen Identität einbringt, leistet Wichtiges, um Abgrenzungstendenzen entgegen zu wirken. Jedoch wird sich muslimische Identität, gerade wenn sie sich einem offenen Dialog stellt und gesellschaftliche Integration anstrebt, auch selbst weiterentwickeln.

In diesem Zusammenhang spielt neben der unverzichtbaren Spracherziehung der Religionsunterricht eine Schlüsselrolle. Ich will in diesem Zusammenhang für einen Augenblick auf die internationale Diskussionslage hinweisen. In zunehmendem Maße erkennen die Vereinten Nationen die Bedeutung von Bildung und Erziehung für ein religiös tolerantes, verständnisvolles und friedliches Zusammenleben an. Eine UN-Konferenz hat 2001 daher die Empfehlung ausgesprochen, im Schulunterricht das Verständnis für Religionsfreiheit zu stärken. Das ist eine wichtige Bestätigung für die Überzeugung, dass religiöse Erziehung auch in der Schule für eine ganzheitliche Bildung unverzichtbar ist. Die Schule braucht Antworten auf die Frage, wie die Pluralität der Herkünfte, Positionen und Anschauungen in das gemeinsame Lernen integriert werden kann. Die Schule ist dabei auf die Mitwirkung der Religionsgemeinschaften angewiesen, da der Religionsunterricht inhaltlich nach den Grundsätzen der Glaubensgemeinschaften zu erteilen ist. Sich an dieser Aufgabe zu beteiligen, ist für den Islam auf Grund seiner Organisationsstruktur schwierig, aber wie ein Blick über die Grenzen zeigt, auch nicht unmöglich. Daher halten wir als Kirchen trotz aller Schwierigkeiten die Einführung eines islamischen Religionsunterrichts an staatlichen Schulen nicht nur für erforderlich, sondern auch für realisierbar. Eindeutig bestehen wir darauf, dass er in deutscher Sprache und in Verpflichtung auf die Wahrung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung zu erteilen ist. Es muss von den islamischen Gemeinschaften erwartet werden, dass sie sich aktiv an den entsprechenden Bemühungen beteiligen, um die Voraussetzungen für einen islamischen Religionsunterricht zu schaffen, der zu Recht nach unserer Verfassung nur in „Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaft erteilt“ werden kann.

IX.

Die abendländische Zivilisation stellt den einzelnen Menschen in den Mittelpunkt der Gesellschaftsordnung und unterscheidet sich damit von anderen Kulturkreisen. Die Wurzeln hierfür liegen vor allem in dem durch das Christentum bestimmten Menschenbild. Nach dem Alten wie nach dem Neuen Testament ist jeder Mensch Ebenbild Gottes. Er hat sein Leben in eigener Verantwortung vor Gott zu gestalten. Verantwortung setzt Selbstbestimmung und Freiheit voraus. Diese Freiheit verstehen wir als ein dem Menschen angeborenes Recht. Dieses Recht ist dem Staat vorgelagert. Er hat es zu respektieren und zu sichern. Diese Freiheit verleiht der Staat nicht; er findet sie vor. Der Mensch ist nicht für den Staat da, sondern der Staat für den Menschen. Dies ist die Grundlage, auf der die offene Gesellschaft beruht. Zwar ist es dem Staat verwehrt Glaube und Lehre zu bewerten. Dennoch muss er das tatsächliche Verhalten einer Religionsgemeinschaft oder ihrer Mitglieder nach weltlichen Kriterien beurteilen, auch wenn dieses Verhalten letztlich religiös motiviert ist. Alle Religionsgemeinschaften haben den verfassungsrechtlichen Ordnungsrahmen, der auch die Grundlage ihrer eigenen religiösen Freiheit bildet, einzuhalten. Das Nebeneinander der Religionen darf das friedliche Zusammenleben in ein und demselben Gemeinwesen nicht gefährden. Das schließt Überzeugung und Mission nicht aus. Es duldet aber keinen gewaltsamen oder gewaltbereiten Fundamentalismus. Das Gewaltmonopol liegt allein beim Staat.

Aber nicht nur der Staat, sondern auch die Gesellschaft und damit auch die Religionsgemeinschaften sind dazu aufgerufen, der Gewaltbereitschaft Widerstand entgegen zu setzen. Keine Religion hat das Recht zur Gewalt. Insofern muss der Islam sich eindeutig vom Extremismus distanzieren – und zwar unter Einschluss seiner religiösen Begründungen. Um der Freiheit und des inneren Friedens müssen diese Grundlagen von allen Religionsgemeinschaften anerkannt werden.

Die Erinnerung an unsere eigene Geschichte gebietet es zwar, Geduld für die Lernprozesse zu haben, die andere brauchen, wie wir sie selbst gebraucht haben. Doch ohne Wenn und Aber ist es notwendig, dass die individuelle wie die korporative Religionsfreiheit mitsamt der religiösen Neutralität des Staates und der gemeinsamen Verantwortung von Staat und Religion für das Gemeinwesen geachtet werden. Denn darin liegt eine unaufgebbare Basis unserer Zukunft.