"Familien in sozialer Schieflage? Sozialethische Orientierungen" - Vortrag beim sozialpolitischen Aschermittwoch der Kirchen, Essen

Wolfgang Huber

I.

Familien in sozialer Schieflage? Ganz sicher nicht! Staat und Gesellschaft befinden sich in einer sozialen Schieflage, wenn sie Familien so benachteiligen wie derzeit. Nicht die Familien befinden sich dann in einer sozialen Schieflage, sondern die Gesellschaft im Ganzen. Selbst dort, wo Familien Krisen erleben, wird man nur in ganz seltenen Fällen von einer sozialen Schieflage der Familie selber sprechen können. Auch hier gilt vielmehr: Die soziale Schieflage der Gesellschaft bringt Familien ins Rutschen und löst nicht selten Krisen in den Familien aus.

So also muss das Thema heißen: Die Gesellschaft in sozialer Schieflage - mit dramatischen Folgen für die Familien! Die Gesellschaft ist aus den Fugen geraten, wenn 100 Erwachsene nur noch 63 Kinder und nur noch 39 Enkel haben. Diesen Menschen fehlt die Erfahrung des Glücks eines Lebens mit Kindern. Sich für dieses Glück zu öffnen, fällt vielen Menschen heute schwer. Persönliche Einstellungen sprechen ebenso dagegen wie gesellschaftliche Umstände. Dass Familien benachteiligt werden und Kinder als Armutsrisiko gelten, kommt hinzu. Schwerer noch als die finanziellen Einschränkungen wiegen für junge Familien andere Benachteiligungen: Sie suchen für Kinder geeigneten Wohnraum und erleben, sofern sie ihn überhaupt bezahlen können, dass ihnen Kinderlose vorgezogen werden. Mehrkinderfamilien sind hier sogar extrem benachteiligt. Sie erfahren Benachteiligungen auf dem Arbeitsmarkt, da sie in räumlicher und zeitlicher Hinsicht weniger flexibel sind als andere Arbeitnehmer. Auch der fortlaufende Verlust an gemeinsamer Zeit (etwa durch Schichtarbeit oder Sonntagsarbeit) trifft die Familien besonders hart. Besondere Belastungen treten infolge von Arbeitslosigkeit und Überschuldung auf. Gegen die Wahrnehmung von Elternverantwortung verhalten sich Wirtschaft, Staat und soziale Dienste zwar nicht ablehnend, aber vielfach indifferent. Franz-Xaver Kaufmann spricht von einer „strukturellen Rücksichtslosigkeit gegenüber Familien“.

Noch immer werden die Kosten, die Eltern für das Aufwachsen und die Erziehung ihrer Kinder aufbringen, volkswirtschaftlich nicht einbezogen. Stattdessen reden wir von „Humankapital“ und rechnen dabei nur mit, was Staat und Wirtschaft in Bildung und Ausbildung investieren. Damit bestätigt unsere Gesellschaft bis zum heutigen Tag eine schneidende Feststellung, die der Nationalökonom Friedrich List schon im frühen 19. Jahrhundert im Blick auf die herrschenden volkswirtschaftlichen Vorstellungen seiner Zeit getroffen hat: „Wer Schweine aufzieht, ist ein produktives, wer Menschen aufzieht, ein unproduktives Mitglied der Gesellschaft.“

Deutschland gehört in Europa zu den Ländern mit der geringsten Geburtenrate und dem größten Anteil an Einpersonenhaushalten. Aus einer vor kurzem veröffentlichten Umfrage geht hervor, dass Familien - modern gesprochen - ein Imageproblem haben. Menschen ohne Kinder sind auch so mit ihrem Leben ganz zufrieden und finden die Gründung einer Familie kaum erstrebenswert. Das ist eine beängstigende Tendenz.

Denn: Wer mit Kindern oder Enkeln zusammenleben darf, wird jeden Tag erfüllt von der Freude, Zeuge dieses Gottesgeschenkes in unserer Mitte zu sein. Bei mancher Mühsal des täglichen Lebens wird er immer wieder angesteckt von der Unbeschwertheit, der Neugier, oft auch der heilsamen Infragestellung durch Kinder. Mit Kindern zu leben, heißt ständig herausgefordert zu sein. Mit ihnen zusammen lernt man Dankbarkeit für die ganz kleinen und die ganz großen Dinge im Leben. Wer mit Kindern lebt, begegnet dem Wunder des Lebens und erfährt neu, was für ein Wunder auch das eigene, von Gott gegebene, behütete und geliebte Leben ist. Und wer in einer kinderlosen Straße lebt, wer kindvergessen ist oder wird, dem fehlt diese Glücks- und Segenserfahrung und der wird dadurch auch in seinem Verhalten in der Gesellschaft geprägt.

Eine erste sozialethische Orientierung lautet also: Kinder sind ein Segen und eine kinderarme Gesellschaft ist eine sozial arme Gesellschaft, eine Gesellschaft in Schieflage.

II.

Auch wenn eine kinderarme Gesellschaft eine arme Gesellschaft ist, so kann ein kinderloses Leben eines Menschen und eines Paares ein durchaus erfülltes und sehr gesegnetes Leben sein. „Seid fruchtbar und mehret euch“ heißt eine viel zitierte biblische Verheißung für das menschliche Leben in Ehe und Familie. Eine absolute ethische Verpflichtung, Kinder zu bekommen, ergibt sich daraus nicht. Sowohl eine kinderlose Ehe wie auch ein Leben ohne Ehe und ohne Kinder können den höchsten ethischen Idealen genügen. Das wird nicht nur durch die große, auch in der evangelischen Kirche nach wie vor lebendige, gepflegte und nicht zuletzt ausdrücklich biblisch begründete Tradition der Ehelosigkeit deutlich. Es ergibt sich vielmehr zugleich im Blick auf Paare, die keine leiblichen Kinder bekommen und dies auch nicht durch die Mittel der modernen Reproduktionsmedizin ausgleichen wollen oder können. Auch sie leben nicht etwa in einer unvollständigen oder ethisch kritikwürdigen Lebensform; auch sie können wichtige und gerade aus ihren Situationen heraus ganz eigene Beiträge leisten; beispielhaft kann man nennen, wie sie im Patenamt oder in ehrenamtlichem Engagement in einen weiteren Bereich einbringen, was andere im engeren Bereich der eigenen Familie leisten.

Doch neben die hohe Achtung vor solchen Lebenssituationen und Lebensformen muss die Ermutigung treten, sich für Kinder zu entscheiden. Viele in der Generation der heute Zwanzig- bis Vierzigjährigen fühlen sich jedoch durch die Dreifachbelastung von Bildung und Ausbildung, Beruf sowie Ehe und Familie überfordert. Sie erleben, wie Paul Baltes das genannt hat, einen „Lebensstau“. Die Verschiebung des Kinderwunsches ist eine verbreitete Reaktion. Bei manchen mag auch eine allzu nüchterne Abwägung zwischen Lebensstandard und Kinderwunsch eine Rolle spielen; bei anderen handelt es sich weit eher darum, dass sie mit guten Gründen in Kindern ein Armutsrisiko sehen. Nicht einfach eine individuelle Verweigerung der Verantwortung, die mit dem Aufziehen und Aufwachsen von Kindern verbunden ist, sondern diese Kombination zwischen gesellschaftlicher Zukunftsscheu und persönlichem Lebensstau bewirkt die Fertilitätskrise, die sich in unserer Gesellschaft weit dramatischer zeigt als in vielen vergleichbaren Gesellschaften.

In unserer Gesellschaft haben wir uns auf eine Konzeption im Verhältnis zwischen den Generationen eingestellt, in der die jetzige Generation nur so viel Zukunftssicherheit hat, wie sie auf die nächste Generation bauen kann. Die Weichenstellung dahin ist vor einem halben Jahrhundert durch Konrad Adenauers Rentengesetzgebung erfolgt. Die Folgen werden inzwischen unter dem provozierenden Stichwort eines „Methusalem-Komplotts“ diskutiert. Wird es diese nächste Generation geben? Wird sie zu solchen Leistungen bereit sein? Diese Frage muss die Gemüter erregen.

Eine zweite sozialethische Orientierung lautet also: Auch hinsichtlich ihrer Zukunftsfähigkeit befindet sich eine Gesellschaft in Schieflage, die nicht Kindern und Familien eine viel höhere Priorität einräumt als heute.

III.

Der neue Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung wird erneut ausweisen, dass in Deutschland Armut vererbt wird. Nichts beeinflusst den sozialen Weg eines Menschen so sehr wie seine soziale Herkunft. Dies widerspricht zutiefst unserem christlichen Menschenbild, ist sozialpolitisch ein Skandal und bedeutet für unser auf Kopfarbeit angewiesenes Land eine ökonomische Katastrophe. Genau an der Schnittstelle zwischen Familien-, Sozial- und Bildungspolitik brauchen wir einen sofortigen und radikalen Wandel, der dazu führt, dass alle Kinder nach ihren Fähigkeiten gefördert werden, dass eine Befähigungsgerechtigkeit entsteht, die eine Chancengerechtigkeit überhaupt erst ermöglicht und zu einer Beteiligungsgerechtigkeit beiträgt. Aber auch dann muss gelten, dass Bildung nicht allein an der ökonomischen Nützlichkeit ausgerichtet sein darf. Die Würde des Menschen, nicht nur sein ökonomischer Wert ist der entscheidende Maßstab auch für die Bildung. Sie ist nicht nur dazu da, das „Humankapital“ zu vermehren. Dabei fängt Bildung früh an. Über Studiengebühren mag man diskutieren, wenn sichergestellt ist, dass sie sozialverträglich ausgestaltet werden, die frühkindliche Elementarbildung, der Besuch von Kindergärten muss dagegen gebührenfrei, muss kostenlos sein.

Ich formuliere eine dritte sozialethische Orientierung: Familien-, Sozial- und Bildungspolitik müssen so reformiert und verzahnt werden, dass die soziale Herkunft für die Chancen eines Kindes in den Hintergrund tritt, das Armut nicht mehr vererbbar ist. Und das muss für alle Kinder gelten. Wir dürfen keinen Menschen verloren geben!

IV.

Nun aber zur Sozialpolitik im engeren Sinne:

Es hat sich inzwischen herumgesprochen, dass Familien einen hohen Anteil der Lasten der Allgemeinheit tragen bei gleichzeitig hohen materiellen Verzichten, die durch das Leben in der Familie bedingt sind. Statistische Erhebungen zeigen, dass der Lebensstandard einer Familie mit zwei Kindern erheblich unter dem eines entsprechenden kinderlosen Ehepaares liegt. Die Maßnahmen des Familienlastenausgleichs vermögen im Durchschnitt nicht einmal die unmittelbar durch Kinder bedingten Aufwendungen, geschweige denn das durch den Rückgang der Erwerbsbeteiligung sinkende Haushaltseinkommen auszugleichen. Mehrere Kinder zu haben ist heute zu einem Armutsrisiko geworden. Von einem Familienleistungsausgleich sind wir weit entfernt.

Neben einer Neuverteilung der Lasten von Familien insgesamt ist vor allem eine gezielte Unterstützung von in Armut geratenen Familien notwendig. Kinder, insbesondere mehrere Kinder, sind inzwischen zu einem Armutsrisiko geworden. Es sind vor allem zwei Familienformen, die unsere Gesellschaft mit einem hohen Armutsrisiko belegt: Familien mit mehreren Kindern und allein Erziehende. Darüber hinaus sind auch Familien mit Migrationshintergrund besonders betroffen. Aus dem neuesten Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung, der in wenigen Wochen veröffentlicht werden soll, geht hervor, dass die Anzahl armer Familien in den letzten vier Jahren um 1,3 Prozentpunkte zugenommen hat (auf inzwischen 13,9% aller Haushalte mit minderjährigen Kindern). Insbesondere diese Familien benötigen Unterstützung. Besonders schockierend ist die Situation der Familien, denen nicht einmal Sozialhilfe zur Verfügung steht. Wer es in Deutschland geschafft hat, einen Antrag auf Sozialhilfe oder Arbeitslosengeld II zutreffend auszufüllen und die ihm zustehenden Leistungen pünktlich zu erhalten, befindet sich zwar im Bereich von Armut, aber nicht mehr auf der untersten Stufe der Armut. Dort leben Menschen, die – aus welchen Gründen auch immer – nicht in der Lage sind, ihre Rechte selbständig und erfolgreich wahrzunehmen. Und ihr Zahl wächst in beunruhigender Weise. Die psychosoziale Hilfe, die diese Menschen und ihre Familien wirklich erreicht, muss dringend erhalten und angesichts ihrer wachsenden Zahl ausgebaut werden.

Aber auch mit Blick auf die große Gruppe derjenigen Familien, die zwar oberhalb des Sozialhilfeniveaus, aber unterhalb der relativen Armutsgrenze leben, sehe ich Handlungsbedarf. Damit will ich ausdrücklich diese relative Armutsgrenze, die bei 50% des Durchschnittseinkommens oder 60% des Einkommensmedians liegt, als eine (sicher nicht die einzige!) Definition von Armut unterstützen und möchte dies an einem Beispiel verdeutlichen: Natürlich kann man fragen, ob es eigentlich angemessen ist, dass heute schon Schulklassen vor der Mittleren Reife Klassenfahrten ins Ausland unternehmen. Und wenn ich mir vorstelle, ich müsse diese Frage mit einer Flüchtlingsfamilie im Sudan diskutieren, wird mir dies noch fragwürdiger. Wenn aber bei uns ein Schüler erlebt, dass seine Klasse eine Fahrt unternimmt, an der er nicht teilnehmen kann, weil seine Familie nicht dafür aufzukommen vermag, dann erlebt dieser Schüler auf seine Weise unmittelbar und persönlich Armut, die eine staatliche Hilfeleistung und die Inanspruchnahme von Steuergeldern für Chancengerechtigkeit in diesem Fall rechtfertigen kann.

 Ein Schwerpunkt künftiger Familienpolitik muss also in der Vermeidung von Armut und damit einer gerechten Gestaltung des vertikalen Familienlastenausgleichs liegen. Mit einem existenzsichernden Kindergeld müssen Kinder von Sozialhilfe oder ALG II-Bezug ihrer Eltern unabhängig gemacht werden.

Eine vierte sozialethische Orientierung lautet also: Es ist Pflicht von Staat und Gesellschaft, dafür zu sorgen, dass ihr größter sozialer und emotionaler Reichtum, nämlich Kinder, nicht zu materieller Armut führt.

V.

Zu einem familienfreundlichen Klima tragen aber nicht nur finanzielle Transfers und Umverteilungen bei, sondern auch eine auf die Bedürfnisse von Familien abgestimmte Infrastruktur.

Eine stabile Beziehung von Eltern, die sich als Partner verstehen und konstruktiv mit Konflikten umgehen können, bildet eine günstige Grundlage für die Sicherheit, die Kinder und Jugendliche zu ihrer Entwicklung und Entfaltung brauchen. Von daher ist ein erweiterter Rechtsanspruch auf Beratung in Konflikt- und Krisensituationen auch für Paare, die (noch) keine Kinder haben, sowie eine gleichrangige Förderung von Partnerschafts- und Eheberatung einerseits und Erziehungs- und Familienberatung andererseits unabdingbar.

Familien brauchen bei der Erziehung ihrer Kinder ein soziales und institutionelles Netzwerk, das ihre Erziehungskompetenz unterstützt und Kinder in ihren Entwicklungs- und Lernmöglichkeiten fördert. Dieses Netzwerk muss sowohl familienunterstützende als auch familienergänzende und notfalls -ersetzende Angebote bereithalten.

Familienergänzende und -unterstützende Einrichtungen sind notwendig, damit Eltern ihre Vorstellungen von Erwerbsarbeit und Familientätigkeit verwirklichen können. Diese Vorstellungen können ganz unterschiedlich sein. Die EKD tritt nach wie vor dafür ein und ermutigt dazu, dass Kinder im Rahmen von Ehe und Familie aufwachsen können; sie bestärkt Eltern darin, in ihren biographischen Planungen auf das Aufwachsen von Kindern Rücksicht zu nehmen und sich dafür Zeit zu nehmen. Aber die Kirche sieht zugleich die Notwendigkeit, der veränderten Lebenswirklichkeit gerecht zu werden, in der immer mehr biographische Situationen dazu führen, dass Eltern ihre Kinder nicht im Rahmen der Institution Ehe allein erziehen. Die Ehepartner müssen heute selber entscheiden können, ob einer der beiden ganz oder teilweise zugunsten der Erziehung der Kinder auf Erwerbstätigkeit verzichtet, und diese Entscheidung muss auf neue Weise geachtet werden. Das gilt mit Blick auf Frauen: Das Gerede, eine Frau sei "nur Mutter" muss ein Ende finden. Das gilt ebenso mit Blick auf Männer: Ihre Entscheidung, zugunsten von Familienarbeit auf Erwerbsarbeit zu verzichten, muss geachtet und unterstützt werden. Häufig ist dieser Verzicht aber nicht möglich oder nicht gewollt. Der Betreuungsplatz in einer Kindertageseinrichtung ist für viele Eltern eine unerlässliche Voraussetzung für die Organisation des Familienalltags. Trotz des bestehenden Rechtsanspruchs auf einen Kindergartenplatz ist eine Betreuung der Kinder oftmals nicht gesichert: In zu vielen Fällen beschränkt sich das Angebot auf nur wenige Stunden. Notwendig ist insbesondere eine ausreichende Zahl von Ganztagsplätzen. Dies gilt auch für Kinder unter drei und über sechs Jahren.

Tageseinrichtungen für Kinder sind nicht nur für die Vereinbarkeit von Familien- und Erwerbstätigkeit wichtig. Sie haben auch einen eigenständigen Erziehungs- und Bildungsauftrag. Sie leisten einen entscheidenden Beitrag zur Chancengleichheit im Bildungsbereich und zur Integration von Kindern, insbesondere aus zur Integration von Kindern mit Migrationshintergrund.

Besonders im Bereich der vor- und außerschulischen Angebote zur Bildung und Betreuung von Kindern und Jugendlichen haben die Kirchen ein großes Potenzial, das für die Weiterentwicklung dieses Bereichs eine große Rolle spielen kann und sollte. Hier gilt es gute und durchaus auch neue Modelle zu finden, Angebote zu bündeln, um beispielsweise einen Kindergarten zu einem Haus der Familie weiterzuentwickeln.

Als fünfte sozialethische Orientierung formuliere ich daher: Familien benötigen eine bedarfsgerechte Infrastruktur, noch mehr benötigt aber die Gesellschaft eine familien- und kinderfördernde und insbesondere eine Bildungsdefizite ausgleichende Infrastruktur, auf die der Titel unserer Denkschrift zutrifft: „Wo Glauben wächst und Leben sich entfaltet“.

VI.

Unsere sozialen Sicherungssysteme sind auf Familien angewiesen. Tatsächlich sind hier die Familien auf skandalöse Weise doppelt belastet: durch ihre finanziellen Beiträge zu den Sozialversicherungen und durch die nur von ihnen erbrachten Leistungen mit der Geburt und Erziehung von Kindern. Diese Leistungen sind eine Investition in die Sicherung der nachwachsenden Generation.

Unser gegenwärtiges System sozialer Sicherung ist auf die veränderten gesellschaftlichen Strukturen nicht vorbereitet. Eine wesentliche Ursache der Finanzierungsschwierigkeiten der Sozialhaushalte ist die dauerhaft hohe Arbeitslosigkeit. Durch die Massenarbeitslosigkeit gehen den Sozialversicherungen erhebliche Beitragseinnahmen und den öffentlichen Haushalten entsprechende Lohnsteuereinnahmen verloren, während andererseits die Ausgaben der Arbeitslosen- und der Rentenversicherung steigen. Geringere Einnahmen und steigende Ausgaben führen zu Beitragserhöhungen, die wiederum als Anstieg der Lohnnebenkosten die Beschäftigung beeinträchtigen können.

Über die aktuellen Finanzierungsschwierigkeiten hinaus stellt die Bevölkerungsentwicklung das System der sozialen Sicherung vor zusätzliche Herausforderungen. Eine anhaltend niedrige Geburtenrate und eine deutlich gestiegene durchschnittliche Lebenserwartung führen zu einem zunehmenden Anteil älterer Menschen auf der einen und einem stagnierenden und zukünftig abnehmenden Anteil der erwerbstätigen Generation sowie von Kindern und Jugendlichen auf der anderen Seite. Eine Verschlechterung des zahlenmäßigen Verhältnisses zwischen der Zahl der Rentenempfänger und der Zahl der Beitragszahler führt zu einer deutlichen Verringerung der Höhe der Renten. In Zweigen der Sozialversicherung, deren Stabilität vom Aufwachsen von Kindern abhängt, muss der Tatbestand der Kindererziehung bei der Beitragsfestsetzung berücksichtigt werden. Die Entlastung der Familien mit Kindern im Vergleich zu Kinderlosen muss in der Phase der Kindererziehung erfolgen, also dann, wenn für die Familien hohe Kosten entstehen. Die Anerkennung von Kindererziehungszeiten, die erst im Alter zu höheren Renten führt - so richtig sie ist - , ist nicht ausreichend. Familienpolitische Gesichtspunkte sind daher bei der Neugestaltung der sozialen Sicherungssysteme weit stärker als bisher zu berücksichtigen. Die Einbeziehung aller Erwerbstätigen in diese Sicherungssysteme würde eine wirkliche Solidargemeinschaft überhaupt erst konstituieren.

Der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland und die Deutsche Bischofskonferenz haben in ihrer gemeinsamen Erklärung zur Reform der Alterssicherung in Deutschland „Verantwortung und Weitsicht“ eine eigenständige Sicherung für jeden Mann und für jede Frau gefordert. Eine eigenständige Rentenbiographie für Frauen ist notwendig, denn „Frauen leisten mit der Geburt und Versorgung von Kindern, aber auch mit der Pflege von Angehörigen einen auch gesellschaftlich höchst bedeutsamen Beitrag für die weitere Entwicklung des Gemeinwesens. (...) Dabei ist sicherzustellen, dass in Perioden der Kindererziehung die Beitragszahlung durch den Staat übernommen wird. (...) Der sozialen Einheit in Ehe und Familie entspricht es, wenn die aus Erwerbs- und Familientätigkeit resultierenden Rentenansprüche beiden Partnern für die Dauer ihrer Ehe zu gleichen Teilen gutgeschrieben werden.“

Die Forderung nach einer eigenständigen Sicherung nichterwerbstätiger Ehepartner/innen ist heute weit verbreitet. In der aktuellen Rentenreform ist sie jedoch nicht berücksichtigt worden. Frauen können ihre eigenständige Sicherung nur durch Erwerbstätigkeit erreichen. Damit ist das Alterssicherungssystem nicht neutral in Bezug auf die familiäre Arbeitsteilung, in Bezug auf die Wahl zwischen Familien- und Erwerbstätigkeit. Entscheidet sich z.B. eine Frau gegen die Erziehung von Kindern, erhält sie eine relativ bessere eigenständige Sicherung. Da jedes Alterssicherungssystem auf die Erziehung von Kindern angewiesen ist, hat eine solche Lösung keine Perspektive. Sie genügt nicht dem Gebot der Gerechtigkeit. Das Bundesverfassungsgericht hat festgestellt, dass eine Berücksichtigung der Erziehungsleistung auf der Beitragsseite mindestens für einen Teil der Sozialversicherungssysteme zwingend ist. Die kleine Erhöhung des Beitragssatzes zur Pflegeversicherung um ein Viertel Prozent für Kinderlose bleibt hinter dieser Forderung weit zurück.

Ein junges Paar mit zwei Kindern, bei dem ein Elternteil die Kinderbetreuung übernimmt und das daher von einem Gehalt lebt, wird nach den heute geltenden Regeln gegenüber einem gleichaltrigen und gleich ausgebildeten Paar ohne Kinder und mit zwei Gehältern in dieser Familienphase wesentlich weniger Geld zur Verfügung haben - und zwar auch nach Berücksichtigung aller staatlichen und sozialversicherungsrechtlichen Transfers. Wenn wir nun die Erwartung haben, dass der Lebensstandard beider Paare, also beider Männer und beider Frauen, nicht nur im Alter, sondern bei vergleichbaren Bedingungen auch schon in der Erwerbsphase – und das heißt in dem einen Fall gleichzeitig in der Kinderphase – ungefähr gleich sein soll, so ergibt sich daraus, dass das kinderlose Paar in der Erwerbsphase einen wesentlich kräftigeren finanziellen Beitrag zur Altersvorsorge leisten muss als das Paar mit Kindern. Dem Beitrag, den das Paar mit Kindern durch Versicherungszahlungen und Kindererziehung leistet, muss der Beitrag entsprechen, den das andere Paar nur durch Zahlungen leistet - wie genau das auch immer auszugestalten sein wird.

Die sechste und für diesen Vortrag letzte sozialethische Orientierung könnte ein Zitat aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts sein und lautet: Das Vorhandensein und die Erziehung von Kindern sind ein konstitutiver Anteil und eine Voraussetzung unserer sozialen Sicherungssysteme. Der Beitrag, den Eltern durch ihre Erziehungsleistung für die Nachhaltigkeit dieser Systeme leisten, muss auch in den Systemen in einem angemessenen Maße und in einem konstitutiven Umfang berücksichtigt werden.

VII.

Wir stehen in diesen Fragen ganz am Anfang einer einschneidenden und viele Traditionen unserer Gesellschaft in Frage stellenden Entwicklung. Wir müssen diese Entwicklung aber unbedingt vorantreiben, damit unsere Gesellschaft überhaupt wieder eine Perspektive auf Tradition gewinnt, indem sie Leben weitergibt und so Zukunft, auch eine Zukunft für gute Traditionen ermöglicht. Es ist nach meiner Überzeugung eine zentrale Aufgabe der Kirchen, hier für einen sachlichen Blick zu werben, für gerechte, solidarische und vor allem nachhaltige Lösungen einzutreten, Partei für die Familien, die Kinder und insbesondere die nach uns kommenden Generationen zu ergreifen, dabei falschen ideologischen oder auch nur vermeintlich ideologischen Überhöhungen zu widersprechen und so Verantwortung vor Gott und den Menschen zu praktizieren.

Familien in sozialer Schieflage – nein. Unsere Gesellschaft in sozialer Schieflage – dabei soll es nicht bleiben.