Ansprache bei der Einweihung der Stele für Dr. Friedrich Weißler Gedenkstätte Sachsenhausen

Wolfgang Huber

In dem letzten Brief, der von Friedrich Weißler überliefert ist, schreibt er an seine Frau Johanna: „Arme Frau, arme Mutter, arme Kinder! Gott wird euch trösten, ich kann es nicht. Lest Ps[alm] 27.“

Dort, in Psalm 27, heißt es: „Der Herr ist mein Licht und mein Heil; vor wem sollte ich mich fürchten? Der Herr ist meines Lebens Kraft; vor wem sollte mir grauen?“ Aus dem Psalm spricht eine Zuversicht, die aus der Tiefe kommt. Denn der Psalmbeter ist von Übeltätern, von Widersachern und Feinden umgeben. Es stehen falsche Zeugen gegen ihn auf und tun ihm „Unrecht ohne Scheu“. Sogar Vater und Mutter verlassen ihn.

Friedrich Weißler ging dieser Psalm so nahe, weil er Vergleichbares erfuhr. Zwar nicht von Vater und Mutter, aber von guten Freunden verlassen müsste er sich fühlen. Auch seine Kirche stand ihm in der äußersten Gefährdung nicht so bei, wie sie es hätte tun müssen. Weil man in der vermeintlichen Weitergabe der Denkschrift von 1936 zur Zerstörung des Rechts durch das nationalsozialistische Regime einen „Vertrauensbruch“ sah, hielt man ihm nicht die Treue.  „Von seiner Kirche verlassen“ – so steht es auf dem Mahnmal, das wir heute hier, am Ort seines Todes enthüllen. „Die verlassenen Kinder der Kirche“ – diesen bezeichnenden Titel trägt ein Buch über den Umgang mit Christen jüdischer Herkunft im „Dritten Reich“, in dem auch Weißlers Schicksal dargestellt wird.

Wir tragen als Kirche schwer  an dem, was Friedrich Weißler angetan wurde. Verlassen war er nicht nur von der deutsch-christlichen Reichskirche, die auf Seiten der Nationalsozialisten stand. Auch die Bekennende Kirche, für die Friedrich Weißler gearbeitet hat und als deren Glied er sich fühlte, trat ihm nicht zur Seite. Dazu bekennen wir uns als Evangelische Kirche in Deutschland. Nicht nur in ihren Stärken, sondern auch in ihrer Schwäche stehen wir im Erbe dieser Bekennenden Kirche. Wir bekennen uns zu unserer Geschichte, die in diesem Fall eine Geschichte der Schuld ist.

Im Jahr 1953 wurde in der Krypta des Brandenburger Doms eine Gedenkstätte für die evangelischen Märtyrer eingerichtet, die unter dem Gewaltregime des Nationalsozialismus ihr Leben verloren hatten. Das war ein erster Ort des Gedenkens. 1996 endlich hat eine Ausstellung im Bundesverwaltungsgericht, damals noch in Berlin, an das Schicksal Friedrich Weißlers erinnert. Kurz darauf haben wir an seinem Wohnhaus in Charlottenburg eine Erinnerungstafel angebracht. Heute nun diese Stele. Schritte des Gedenkens, die zugleich Zeichen der Scham sind und vor allem: Erinnerungen an einen mutigen und geradlinigen Menschen.

Wir weihen diese Stele ein sechzig Jahre nach der Befreiung der Konzentrationslager, ja des europäischen Kontinents von der Gewaltherrschaft des nationalsozialistischen Regimes. Deshalb will ich an diesem Ort bekräftigen, was der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland am 27. Januar 2005 aus Anlass des 60. Jahrestages der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz so formuliert hat:

„Allen Formen des Antisemitismus und Rassismus muss widerstanden werden. […] Ein religiös begründeter Antijudaismus ist nicht gleichzusetzen mit einem rassistisch begründeten Antisemitismus, aber wir müssen zugleich feststellen, dass der christliche Antijudaismus auch in der evangelischen Kirche Christen daran gehindert hat, „dem Rad in die Speichen“ (D. Bonhoeffer) zu greifen. Trotz mancher mutiger Taten zur Rettung von Juden fällt auch auf die Kirche ein tiefer Schatten der fehlenden Solidarität mit dem älteren Glaubensbruder Israel. Es ist darum weiterhin unerlässlich, dass die evangelische Kirche, die seit ihrer Erklärung von Weißensee 1950 eine radikale theologische Wende vollzogen und sich eindeutig gegen jede Art von Antijudaismus ausgesprochen hat, nicht nachlässt in der kritischen Aufarbeitung ihrer eigenen Tradition. […] Es [ist] unerlässlich, nicht nur dem beschämenden Verhalten der NPD-Mitglieder im sächsischen Landtag eine klare und deutliche Zurückweisung aller Demokraten zu geben, sondern auch in Zukunft den anhaltenden wiederkehrenden Phänomenen des Antisemitismus und Rassismus gemeinsam zu widerstehen.“

Eine Absage an den Antisemitismus hat in meinen Augen ganz eng mit dem Schicksal Friedrich Weißlers zu tun. Er war getaufter und bewusster Christ, aber nach den rassistischen Maßstäben der nationalsozialistischen Ideologie „Volljude“. Und das hat ihn für seine Peiniger und Mörder als „Nicht-Arier“ zum willkommenen Opfer gemacht. Der erste Märtyrer der Bekennenden Kirche wurde um seines Jude-Seins willen misshandelt und getötet. Der Christ Friedrich Weißler wurde Opfer eines mörderischen Antisemitismus, so wie vor und nach ihm viele Menschen jüdischen Glaubens Opfer dieses Antisemitismus wurden.

Der Anlass für seine Verhaftung, seine Verlegung ins Konzentrationslager, für seine Folterung und Ermordung war die Veröffentlichung der Denkschrift der Bekennenden Kirche im Juli 1936. Diese Protestschrift ist zu Recht als „eine der eindeutigsten und mutigsten Stellungnahme gegen das nationalsozialistische Regime aus Kreisen der evangelischen Kirche“ (Martin Greschat) bezeichnet worden. Eine Denkschrift mit tödlichen Folgen.

Vor diesem Hintergrund bekommt das Bibelzitat auf der Stele für mich eine besonders tiefe Ernsthaftigkeit. Das „Dritte Reich“ hat aufgezeigt, dass es Situationen geben kann, in denen man „Gott mehr gehorchen muss als den Menschen“, wie es im fünften Kapitel der Apostelgeschichte heißt. Gott ist der Herr aller Herren. Friedrich Weißlers Glaubensüberzeugung hieß: Jesus Christus ist nicht nur der Herr der Kirche, sondern auch Herr der Welt. Deshalb hielt er sich mit seiner persönlichen Existenz an die zweite These der Barmer Theologischen Erklärung von 1934, in der es heißt: „Wir verwerfen die falsche Lehre, als gebe es Bereiche unseres Lebens, in denen wir nicht Jesus Christus, sondern anderen Herren zu eigen wären, Bereiche, in denen wir nicht der Rechtfertigung und Heiligung durch ihn bedürften.“

Die Verfasser der Denkschrift der Bekennenden Kirche haben daraus die Konsequenzen gezogen. Friedrich Weißler hat es getan mit tödlichen Folgen. Als Jurist im Dienst der Kirche trat er dafür ein, dass das Kirchenrecht immer an das Bekenntnis gebunden sein muss, ja, dass auch das Recht im Raume des Staates nie die Herrschaft Christi einengen und die Würde des Menschen mit Füßen treten darf. Hier hat er sich an einem Grundgedanken orientiert, der auch für unsere heutige Haltung zu Menschenwürde und Menschenrechten von großem Gewicht ist.

Wir können seiner gedenken im Vertrauen darauf, dass Friedrich Weißler das erfahren hat, auf das er mit den Worten des 27. Psalms gehofft hat: „Der Herr ist mein Licht und mein Heil; vor wem sollte ich mich fürchten? Der Herr ist meines Lebens Kraft; vor wem sollte mir grauen?“ Ein solches Wort wischt die Schrecken und die Furcht der damaligen Zeit nicht weg. Das Erschrecken darüber, wozu Menschen fähig sind, und die Furcht davor, dass so etwas noch einmal möglich sein könnte, bleiben bestehen. Auch deshalb die Erinnerung an einen Menschen, der sich an die Mahnung hielt: „Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen.“ Friedrich Weißler gehörte zu den „verlassenen Kinder der Kirche“, aber als Kind Gottes war und ist er nicht verlassen. Ich bin dankbar dafür, dass diese Stele an ihn erinnert.

Die Evangelische Kirche in Deutschland gedenkt Friedrich Weißlers in Scham und Dankbarkeit.