Diakonisches Handeln zwischen Finanzdruck und christlicher Nächstenliebe - Festvortrag beim Brüdertag der Rummelsberger Brüderschaft

Wolfgang Huber

I.

„Diakonie ist die Umsetzung des christlichen Gebots der Nächstenliebe: In diesem Geiste helfen wir Menschen in leiblicher, seelischer und sozialer Not sowie in sozial bedrängten Verhältnissen. Darin haben wir eine lange Tradition.“ So lauten die ersten Sätze der mit „Tradition“ überschriebenen Seite Ihrer Homepage. Nächstenliebe tritt hier in den Blick als Grund und Ziel diakonischen Handelns, als Grund und Ziel Ihres diakonischen Handelns und Engagements in den weit gespannten Aktivitäten der Rummelsberger Brüderschaft. Das ist in diesem Kreis eine Selbstverständlichkeit. Keineswegs aber ist es in unserer Gesellschaft eine Selbstverständlichkeit. Und so tun wir in der Öffentlichkeit gut daran, diesen Grund und dieses Ziel des gesamten diakonischen Handelns der Kirche immer wieder ausdrücklich zu benennen.

Von Finanzen oder gar Finanzdruck ist auf Ihrer Homepage keine Rede. Immerhin, in Ihren Leitlinien ist schon ausdrücklich vom Sozialstaat die Rede, in den Qualitätszielen werden die Ziele von wirtschaftlicher Betriebsführung und Marktanalyse genannt. Aber der Umgang mit einer sich zuspitzenden finanziellen Situation wird auch dort nicht erwähnt.

Das ist der Befund aus der Selbstdarstellung, gewissermaßen die – ich meine das in einem ganz positiven Sinne – „Hochglanzbroschüre“ der diakonischen Arbeit. Wir bemühen uns um eine Ortsbestimmung der Diakonie unter den Bedingungen des sozialen Wandels. Grund und Ziel unseres Handelns müssen wir immer auf die konkreten, sich wandelnden Bedingungen für dieses Handeln beziehen. Das ist kein Grund für Verzagtheit, sondern für Nüchternheit. Aber wenn man danach fragt, was im Blick auf diesen Wandel heute diskutiert, gearbeitet und beraten wird, muss man zur Nächstenliebe auch den Finanzdruck miteinbeziehen und den Stier bei den Hörnern packen. In den diakonischen Gremien jedenfalls, in denen ich mitarbeiten darf, fällt in letzter Zeit mindestens so häufig das Wort "Finanzdruck" wie das Wort "Nächstenliebe". Dem muss man sich, so glaube ich stellen: nicht in dem Sinn, dass die Nächstenliebe dem Finanzdruck geopfert wird – aber doch so, dass wir uns redlich Rechenschaft darüber ablegen, was es bedeutet, unter enger werdenden finanziellen Bedingungen für die Verpflichtung auf die Nächstenliebe einzustehen.

Mit dieser Fragestellung stehen wir nicht alleine. Unsere gesamte Gesellschaft und unser Sozialstaat finden sich in dieser Spannung zwischen Nächstenliebe und Finanzdruck vor. Es ist ja schon bezeichnend, wenn Sie, Herr Bierlein, sich gezwungen sehen, öffentlich dafür einzutreten, dass „Sozialstaat“ kein Schimpfwort werden darf. Recht haben Sie. Und Recht haben Sie, das in einem Interview auch auszusprechen. Wir leben offenbar unter Bedingungen, unter denen, dies nicht mehr selbstverständlich ist? Deshalb müssen wir aufs Neue fragen: Worin liegt der Ausgangspunkt unseres Staates? Welche Verantwortung hat die Gesellschaft? Wie tragen wir als Kirche und Diakonie zu dieser Verantwortung bei? Wie sieht die Spannung aus, in der wir uns befinden?

II.

„Es war ein Mensch, der ging von Jerusalem hinab nach Jericho und fiel unter die Räuber; die zogen ihn aus und schlugen ihn und machten sich davon und ließen ihn halbtot liegen. Es traf sich aber, dass ein Priester dieselbe Straße hinab zog; und als er ihn sah, ging er vorüber. Desgleichen auch ein Levit: als er zu der Stelle kam und ihn sah, ging er vorüber. Ein Samariter aber, der auf der Reise war, kam dahin; und als er ihn sah, jammerte es ihn; und er ging zu ihm, goss Öl und Wein auf seine Wunden und verband sie ihm, hob ihn auf sein Tier und brachte ihn in eine Herberge und pflegte ihn. Am nächsten Tag zog er zwei Silbergroschen heraus, gab sie dem Wirt und sprach: Pflege ihn; und wenn du mehr ausgibst, will ich dir's bezahlen, wenn ich wiederkomme.“

„Der barmherzige Samariter“ - ein Gleichnis, dass Weltgeschichte gemacht hat im vollen Wortlaut in weniger als eineinhalb Minuten vorgelesen. Dieses Gleichnis ist nicht nur ein gutes Beispiel für die Prägekraft von Bibel und Christentum in Geschichte und Gegenwart. Es ist nach wie vor ein hilfreicher Schlüssel für die Bewertung aktueller Situationen und für den Zugang zu dem richtigen oder zumindest dem besseren unter mehreren sich bietenden Wegen. Und es ist zum Urbild helfender Zuwendung zum Nächsten geworden. Seine Wirkungsgeschichte in unserer Kultur – auch in unserer Rechtskultur - reicht bis dahin, dass die unterlassene Hilfeleistung zu einem Straftatbestand geworden ist. Wenn wir die Bereitschaft zur Dienstleistung von Christen und von der Kirche erwarten, dann haben wir bewusst oder unbewusst dieses Gleichnis im Sinn.

Doch mit welcher seiner Figuren wollen Sie sich identifizieren: mit dem Priester oder dem Leviten, die untätig vorüber gehen? Mit dem Samariter, der das Notwendige tut? Oder mit dem Wirt, der sich seine ja nicht unwichtige Hilfe angemessen bezahlen lässt? Abwegig ist keine dieser Alternativen. So hat es beispielsweise in jüngerer Zeit eine Diskussion darüber gegeben, ob unsere Diakonie nicht allzu sehr zum Wirt geworden sei, der sich seine Dienste bezahlen lässt, und auf den Samariter hofft, der bei Bedarf noch einmal wiederkommt und den zusätzlichen Aufwand bezahlt. Wir haben es uns angewöhnt, auf die Figuren des Leviten und des Priesters im Gleichnis herabzublicken. Aber – das möchte ich hier besonders betonen – der Samariter ist der einzige, der darauf vorbereitet ist, professionell zu helfen. Er hat das dafür Notwendige: Öl und Wein, um die Wunde zu versorgen, ein Tier, um den Verletzten zu transportieren, Geld, um die weitere Fürsorge für ihn zu bezahlen. Professionalität und Nächstenliebe sind keine Alternative! Sondern genau ihre Kombination macht die besondere Prägung, das „Alleinstellungsmerkmal“ der Diakonie aus.

III.

Aber sind Wirt und Samariter wirklich die beiden Personen, mit denen wir uns heute am ehesten identifizieren? Manche halten es für eine „deutsche Krankheit“, sich in der Rolle des Überfallenen zu fühlen und in allen anderen erst einmal zumindest potentielle Räuber zu sehen. Dieses Gefühl, beraubt und allein gelassen zu sein, scheint bei vielen die gegenwärtige Diskussionslage zu bestimmen. Das Gefühl, dass der Wärmestrom gesellschaftlicher Solidarität versiegt, breitet sich aus. Vor allem der Staat versagt nach der Einschätzung vieler Menschen gegenüber der Aufgabe, eine verlässliche und für sie angemessene Versorgung sicher zu stellen. Mit seinem Rückzug von den sozialstaatlichen Aufgaben, so heißt der Eindruck, bestimmen Konkurrenzdenken und wirtschaftliches Profitinteresse das Feld. Der Streit um die Reformpolitik ist untergründig zu einem Streit auch um die Verantwortungsverteilung zwischen Wirtschaft und Staat geworden.

Es erscheint mir als unausweichlich, sich darüber nüchtern klar zu werden: Wenn gegenwärtig die Plausibilität von ergriffenen oder anstehenden Reformmaßnahmen diskutiert wird, dann geht es hintergründig auch um diese Frage einer auf Dauer tragfähigen Machtbalance zwischen Staat und Wirtschaft. Die Wirtschaft kann – davon bin ich überzeugt – diese Diskussion nur dann bestehen, wenn sie sich auf diese Frage wirklich einlässt, und an dieser Stelle auch deutlich erkennen lässt: Ihre Verantwortung geht über den eigenen Bereich hinaus. Unternehmer müssen klar erkennbar machen, an welchen Stellen sie diese wahrnehmen und welchen Ort die Wirtschaft nach ihrer Auffassung im Gesamtgefüge der Gesellschaft hat. So sehr man Wirtschaft als ein selbststeuerndes System betrachten mag, so sehr fragen wir jetzt neu nach einer Verantwortung in der Wirtschaft, die auch daran zu erkennen ist, dass sie auch über den eigenen Bereich hinaus wahrgenommen wird. Dafür gibt es viele Anknüpfungspunkte im wirtschaftlichen Handeln. Aber einzelne Beispiele weisen auch in eine ganz andere Richtung. Die Wirtschaft insgesamt hat noch nicht genug Glaubwürdigkeit gewonnen. Nötig ist ein offener und fairer Diskurs über das Zusammenspiel von sozialstaatlicher Verantwortung und wirtschaftlicher Effizienz. Inhaltlich richtet sich die Frage darauf, ob die Art und Weise, in der wir auf die Erfordernisse der Globalisierung reagieren, mit den Erfordernissen der sozialen Gerechtigkeit vereinbar ist oder nicht. Soziale Gerechtigkeit heißt dabei nicht nur Gerechtigkeit unter den jetzt Lebenden. Sondern sie bezieht sich genauso auf die Generation unserer Kinder. Die Frage der sozialen Gerechtigkeit konfrontiert uns mit der Frage, ob wir den nach uns Kommenden die gleiche Freiheit zuerkennen, die wir für uns selbst in Anspruch nehmen. Sie nötigt uns dazu zu prüfen, ob wir ihnen die gleichen Handlungsmöglichkeiten offen halten, von denen wir einen so selbstverständlichen Gebrauch machen. Die Diskussion über Gerechtigkeit greift zu kurz, wenn sie nicht auch diesen Zeithorizont und damit die soziale Nachhaltigkeit heutigen Handelns in den Blick nimmt. Dann aber hat soziale Gerechtigkeit es nicht nur mit der Frage der Verteilungsgerechtigkeit zu tun, sondern sie muss zugleich als Beteiligungsgerechtigkeit verstanden werden. Mit besonderer Deutlichkeit füge ich hier in Rummelsberg hinzu: Wer Jugendliche nicht beteiligt, wer ihnen keine Möglichkeit eröffnet, an der Ausbildung oder am Erwerbsleben teilzunehmen, rührt an den Kern der sozialen Gerechtigkeit; wer die Jugendhilfe unbedacht kürzt, der geht deshalb an den Nerv des Sozialstaats. Er wird übrigens damit keine Kosten sparen; sondern die versäumte, vielleicht noch rechtzeitige Hilfe, die Beteiligung eröffnet, wird an anderer Stelle neue, vielleicht weit höhere Kosten hervorrufen.

Aber auch das sei in aller Deutlichkeit hinzugefügt: Wenn man soziale Gerechtigkeit als Leitprinzip bewahren will, dann darf man nicht alles und jedes unter diesen Begriff subsumieren. Wenn man den Sozialstaat zukunftsfähig erhalten will, dann muss man sich davor hüten, ihn systematisch zu überfordern. Weder soziale Gerechtigkeit noch Sozialstaat sind deshalb Leitbegriffe für ein pures Besitzstandsdenken. Aber in ihnen drückt sich die Vorstellung von einem politischen Gemeinwesen aus, das einmal auf die kurze Formel gebracht wurde: Die Stärke des Staates bemisst sich am Wohl der Schwachen. Wir dürfen unseren Blick nicht von denen abwenden, die am Straßenrand liegen. Die notwendige Leistungsorientierung darf die ebenso notwendige soziale Sensibilität nicht verkümmern lassen. Deswegen muss sich die Diakonie dafür stark machen, dass der Wärmestrom der Solidarität nicht versiegt. „An der Seite der Menschen zu stehen“ bedeutet, zur Stimme der Überforderten wie der Übervorteilten zu werden.

IV.

Viele Menschen bezweifeln, dass die Belastungen im anstehenden Reformprozess gerecht verteilt sind. Und ich rate dazu, in diesen Sorgen nicht nur Ideologie und nicht nur populistische Kampagne zu sehen. Diese Sorgen sind vielmehr auch dort ernst zu nehmen, wo man ihnen im Ergebnis widerspricht. Menschen spüren zu lassen, dass ihre Sorgen und ihre Ängste wahrgenommen werden, und ihnen dann eine weiterführende Antwort zu geben, ist besser und auch langfristig wirkungsvoller, als ihnen zu unterstellen, dass sie selber nicht glauben, was sie sagen.

Es gibt berechtigte Sorgen beispielsweise über die Entwicklung des Verhältnisses zwischen Ost- und Westdeutschen. Wachsende Irritationen in diesem Miteinander haben auch mit erheblichen Glaubewürdigkeitslücken im politischen und wirtschaftlichen Handeln zu tun. Zu diesen Glaubwürdigkeitslücken zählt beispielsweise, dass die aktuellen Einschnitte in die sozialen Sicherungssysteme mit steuerpolitischen Maßnahmen zusammentreffen, die Wohlhabende günstiger stellen als Menschen mit geringeren Einkünften und zugleich die Einnahmenseite der öffentlichen Haushalte weiter verschlechtern. Die von den damit in Zusammenhang stehenden Kürzungen auf der Ausgabenseite betroffenen Menschen sehen darin ein elementares Gerechtigkeitsproblem. Man sollte diesen Einwand nicht leicht nehmen. Die Abschaffung der Arbeitslosenhilfe bei einer gleichzeitigen Senkung des Spitzensteuersatzes, und, wichtiger noch: bei gleichzeitiger Beibehaltung von Ausnahmetatbeständen, die dazu führen, dass es viele Möglichkeiten gibt, diesen Spitzensteuersatz nicht zu bezahlen - dieses Zusammentreffen lässt die Schere zwischen arm und reich in unserer Gesellschaft weiter auseinander klaffen und schafft ein großes Akzeptanzproblem für diejenigen Schritte, von denen auch ich fest überzeugt bin, dass sie notwendig sind. Zu einem realistischen Bild der sozialen Lage in Deutschland gehört nämlich auch die folgende Feststellung: Ganz unabhängig von der Zusammenlegung von Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe ist seit dem Jahr 2000 die Zahl der Sozialhilfeempfänger in Deutschland gestiegen. Zugleich aber - und das ist mir als Hinweis an dieser Stelle noch wichtiger - wächst die Zahl der Hilfsbedürftigen, die auch in diesem Netz noch nicht zureichend aufgefangen werden. In 380 deutschen Städten gibt es inzwischen Einrichtungen von der Art der Berliner Tafel, Initiativen wie „Laib und Seele“, Suppenküchen oder vielfältige Initiativen der Obdachlosenhilfe; Tag für Tag versorgen sie eine halbe Million Menschen, die sich in einer Notsituation befinden. Solche Hilfe kann gar nicht nachhaltig sein. Immer häufiger stehen an diesen Orten Menschen an, die jäh aus einer bürgerlichen Existenz abgestürzt sind. Und dies ist ein besonderes Drama. Denn diese Menschen benötigen in dieser Situation dringlich psychosoziale Hilfe. Ohne eine solche wird dieser Zustand neue Kosten erzeugen.

Wir brauchen einen klaren und nüchternen Blick auf diese Situation; und wir treten mit Nachdruck für den Erhalt und den Ausbau psychosozialer, diese Menschen erreichender Beratungsangebote und Hilfen ein. Ich halte es für unzureichend, in diesem Zusammenhang nur von der Frage zu reden, welche Transferleistungen wir uns in dieser Gesellschaft noch leisten können. Wir müssen uns auch fragen, welche Zuwendung zum Menschen wir uns in unserer Gesellschaft noch leisten wollen, und welchen Verzicht auf die Zuwendung zu den Menschen wir uns nicht leisten können. Das ist die Frage, die mich zuallererst beschäftigt.

Dies war auch einer der Gründe dafür, dass ich mich Ende September 2004 in einer Grundsatzrede nachdrücklich für eine Ausrichtung der zweifellos notwendigen und noch vor uns liegenden Reformen an der konkreten Lebenssituation der Menschen ausgesprochen habe. Die Reform - so habe ich in diesem Zusammenhang gesagt - ist um der Menschen willen da, nicht die Menschen um der Reform willen. Es ist deshalb ebenso verkehrt, eine Reform an den Menschen vorbei durchzusetzen, wie es verkehrt ist, die um der Menschen willen notwendige Reform gar nicht anzugehen. Wir setzen uns ein für eine transparente Reform, die von den Betroffenen mitvollzogen werden kann, eine „atmende Reform“, wie ich das gerne nenne. „Hartz IV“ hat die Notwendigkeit einer solchen atmenden Reform in besonderer Weise sichtbar gemacht.

Beteiligung und Befähigung sind bestimmende Kategorien von sozialer Gerechtigkeit. Risikoabsicherungen und Kompensationen für Notlagen treten dem ergänzend zur Seite; aber sie bilden nicht das Zentrum. Familienpolitik und Bildungspolitik werden vielmehr zu Kernthemen einer zukunftsorientierten, zukunftsfähigen und nachhaltigen Sozialpolitik. Sie stehen im Zentrum einer Reformpolitik, die diesem Namen wirklich verdient. Der Leitgedanke dabei ist die im Wirtschafts- und Sozialwort der Kirchen von 1997 gefundene Formel: „Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit“.

V.

Unter diesen Rahmenbedingungen wende ich mich abschließend dem Profil diakonischer Einrichtungen zu. Ein medizinischer Freund berichtet mir mit erkennbarem Erstaunen: Das deutsche Ärzteblatt vermerke in einem Artikel, nur die konfessionellen Krankenhäuser seien gegenwärtig noch von einem erkennbaren Profil geprägt. Denn auch unter dem Druck der Sparmaßnahmen im Krankenhauswesen hielten sie daran fest, dass es im Krankenhaus um die Zuwendung zum Menschen gehe. Der ganze Mensch ist gemeint, das ist das Markenzeichen der Diakonie auch angesichts der Ökonomisierung des Sozialen.

Wir sollten nicht generell einer Ökonomisierung widersprechen. Wenn sich eine diakonische Einrichtung so ausrichtet, dass die einzelnen Geschäftsbereiche kostendeckend arbeiten, dann folgt das der Logik ökonomischer Transparenz, erhaltene Gelder auch sinn- und zielorientiert einzusetzen und dabei ein klares Kostenbewusstsein zu entwickeln. Aber diese diakonische Einrichtung trägt dann Verantwortung dafür, dass das ökonomische Denken nicht die Herrschaft auch über die Seelen gewinnt. Dagegen meldet sich heute ein wachsender Protest. Das ist ein Protest, den man begrüßen muss. Ich bin davon überzeugt, dass die neue Aufmerksamkeit für Religion in unserer Gesellschaft sich auch der Einsicht verdankt, dass der Sinn des menschlichen Lebens nicht allein durch Besitz oder Konsum gefunden werden kann.

Wie das eigene Profil gestärkt werden kann, ohne dass die Ökonomisierung des Sozialen geleugnet wird, ist die entscheidende Existenzfrage für die Diakonie. Die Zuwendung zum Menschen ist das entscheidende Markenzeichen der Diakonie; es begründet ihre Existenzberechtigung und beschreibt ihre besondere Attraktivität im Wettbewerb der Anbieter. Ein Grund, die eigenen Stärken ins Licht zu rücken.

Die Berücksichtigung ökonomischer Faktoren in der Diakonie ist kein neues Phänomen. Vielmehr hatten und haben die Erfolge der Diakonie stets eine wirtschaftliche Grundlage. Der Aufschwung diakonischer Einrichtungen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hat gewaltige wirtschaftliche Kräfte geweckt; die Spendenbereitschaft des evangelischen Bürgertums machte diesen Aufschwung erst möglich. Die Ausweitung der Gemeindediakonie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts lebte von der Bereitschaft der Gemeinden, sich unmittelbar zu Trägern diakonischen Handelns zu machen. Aber das Geheimnis des Erfolgs lag in der Bereitschaft der Diakonissen, bis hin zur Selbstausbeutung ihre Kräfte den Kranken der Gemeinde zur Verfügung zu stellen. Die Einbettung der Diakonie in den Wohlfahrtsstaat der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts lebte von der Ausweitung staatlichen Handelns im Bereich des Sozialen. Die Diakonie reagierte auf diese Ausweitung, indem sie für jedes neue staatliche Programm alsbald mit einem diakonischen Handlungskonzept zur Stelle war. Jede bessere diakonische Einrichtung, so notierte Gustav Heinemann damals nicht ohne Spott, beschäftige mindestens einen Mitarbeiter, dessen Hauptaufgabe darin bestehe, unverzüglich einen entsprechenden Antrag zu stellen, wenn eine neue staatliche Finanzierungsquelle zu sprudeln begann.

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts besteht eine andere Situation. Wir durchleben einen dramatischen Alterswandel unserer Gesellschaft. Eine abnehmende Zahl aktiv Berufstätiger muss die Versorgung einer wachsenden Zahl nicht Berufstätiger absichern. Nicht nur kurzfristig, sondern auf lange Frist verändert dieser Alterswandel unser Sozialsystem in seinen Grundfesten. Die Diakonie kann sich deshalb auch nicht damit begnügen, Konsequenzen abzuwehren, die sich auf das eigene Handlungsfeld oder die eigene Klientel beziehen. Kirche im Allgemeinen und Diakonie im Besonderen sollten wahrgenommen werden als Anwälte einer Reformpolitik, die den Kriterien der Finanzierbarkeit und der sozialen Gerechtigkeit in gleicher Weise genügt.

Im Unterschied zur eben skizzierten Historie erleben wir heute die Ökonomisierung des Sozialen zum ersten Mal nicht in der Form der Steigerung, sondern in der Gestalt des Mangels. Ökonomie meint heute nicht nur in der Theorie, sondern ganz praktisch den Umgang mit knappen Gütern, nämlich mit knapper werdenden Ressourcen. Es wäre unlauter und unpraktikabel zugleich, die Ökonomisierung diakonischen Handelns nur so lange zu bejahen, wie zusätzliche Quellen sprudeln, sie aber abzulehnen, wenn die Mittel knapper werden. Vielmehr zeigt sich verantwortliche Haushalterschaft – „Ökonomie“ im ursprünglichen Sinn – im Umgang mit knappen Mitteln weit deutlicher als unter den Bedingungen des Überflusses.

Wir erleben eine Wende im Verständnis des Sozialen. Die Diakonie muss darauf eigenständig mit der Formulierung eines diakonischen Profils antworten. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts stellt sich in Deutschland die Frage nach dem diakonischen Profil in neuer Zuspitzung. Die Zukunft der Diakonie hängt davon ab, ob diese Frage klar beantwortet wird.

Deutlich muss man sagen: Ökonomisch verantwortliches Handeln und diakonischer Auftrag schließen einander nicht aus. Aber genauso deutlich muss auch das andere sein: Ökonomisch verantwortliches Handeln in der Diakonie und gewinnorientierte Kommerzialisierung sind klar voneinander geschieden.

Die Diakonie ist immer dann besonders gefordert, wenn Fragen unseres Menschenbilds auf dem Spiel stehen. „Seht, welch ein Mensch!“ Unfreiwillig gibt dieser Ausruf des Pontius Pilatus im Prozess gegen Jesus die Richtung vor. Auf den Menschen zu achten, weil er ein von Gott geliebtes Geschöpf ist, bleibt das A und O aller Diakonie. Deshalb ist und bleibt es richtig, dass die Diakonie sich an der Auseinandersetzung um das Bild vom Menschen beteiligt. Jeder Mensch besitzt die gleiche Würde. Deshalb ist es nötig, die Fragen am Anfang und am Ende des Lebens in der Diakonie zu profilieren. Die Diakonie muss sich weiter beteiligen an der Frage, wie wir die Würde des Menschen achten.

Die Ökonomisierung des Sozialen enthält also eine unmittelbare Herausforderung zu theologischem Nachdenken. Gerade wenn man an der ökonomischen Leistungsfähigkeit eines diakonischen Unternehmens interessiert ist, muss man sich fragen, wozu diese Leistungsfähigkeit dient. Man muss deshalb am Leitbild dieser Einrichtung arbeiten; man muss das diakonische Proprium nicht als ökonomischen Nachteil, sondern als „Standortvorteil“ einbringen. Man muss nämlich verdeutlichen, warum eine Einrichtung den Menschen besser helfen kann, wenn sie einen „Standort“ hat. Dazu müssen auch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auskunftsfähig darüber werden, worin die „theologische Achse“ einer solchen diakonischen Einrichtung besteht.

Diese theologische Achse besteht zunächst in ihrem geistlichen Leben. Sie besteht ferner in der Bereitschaft, sich dem hilfebedürftigen Nächsten unabhängig von seiner eigenen Leistungsfähigkeit zuzuwenden und ihn als von Gott geliebte Person wahrzunehmen. Sie besteht schließlich im Widerspruch gegen alle Tendenzen, die Schwächeren in der Gesellschaft zu Menschen zweiter Klasse zu machen. Diakonie orientiert sich in diesem Sinn an der gleichen Würde jeder menschlichen Person. Entscheidend ist, ob ein derartiger „langfristig wegweisender Willenskonsens“ (A. Jäger), der theologisch geprägt ist, im Alltag einer diakonischen Einrichtung, aber auch im Leben und Selbstverständnis einer diakonischen Brüderschaft zu erkennen ist.

Im christlichen Verständnis ist die Würde des Menschen gerade deshalb unantastbar, weil sie nicht in den Leistungen oder der Leistungsfähigkeit des Menschen, sondern in der Beziehung Gottes zu jedem einzelnen Menschen begründet ist. Der Mensch ist mehr, als er selbst aus sich macht – das ist der Kern der Botschaft von der unverdienten Annahme und unverlierbaren Anerkennung des Menschen durch Gottes Gnade. Die uns von Gott geschenkte Würde kommt allen Menschen unbeschadet ihrer Unterschiede in gleicher Weise zu. Deshalb orientiert sich unsere kulturelle wie religiöse Tradition nicht nur an der Fähigkeit zur Selbstachtung, sondern auch an der Achtung des anderen, nicht nur an der Selbstliebe, sondern auch an der Nächstenliebe.

Aus dem Gebot der Nächstenliebe ergibt sich geradezu die Pflicht, Möglichkeiten wahrzunehmen, um Menschen in Not zu helfen. Aber dieses Ziel rechtfertigt nicht jedes Mittel. Die Hoffnung auf Heilung sollte nicht mit der Illusion einer leidfreien Welt verwechselt werden. Und neue Möglichkeiten in der Gentechnik und in der Medizin sollten nicht dazu missbraucht werden, solche Illusionen zu wecken.

Die Möglichkeiten menschlichen Handelns ändern sich. Je mehr sie wachsen, desto dringlicher ist die Tugend des Maßes gefragt. Sie ist auch nötig, wenn es inmitten aller Veränderungen möglich bleiben soll, den ethischen Wert als Maßstab für unseren Umgang mit ökonomischen Werten anzuerkennen. Für die Diakonie ist das lebenswichtig. Ich wünsche der Rummelsberger Brüderschaft Gottes gutes Geleit auch in den nächsten einhundert Jahren.