Zwei Generationen nach dem Tag von Hiroshima

Wolfgang Huber

I.

Unvergesslich ist mir ein Weg durch den Peace Park von Hiroshima. Vier Jahrzehnte lag der Abwurf der ersten Atombombe zurück. Bäume und Sträucher waren wieder gewachsen, wo die Vernichtung getobt hatte. Aber ihre Spuren waren unübersehbar. Der Name des Parks zeigte, worum es auch heute geht: Die Verantwortung für den Frieden wahrzunehmen, die sich aus dem Atombombenabwurf von Hiroshima und wenig später von Nagasaki ergibt. So wie in Hiroshima der Peace Park diese Verpflichtung wach ruft, so muss eine vergleichbare Verpflichtung überall zum Bewusstsein kommen, auch in Deutschland. Wenn unser Land seine Bereitschaft erklärt, im Rahmen der Vereinten Nationen eine verstärkte Verantwortung wahrzunehmen, muss es dieser Verantwortung auch im Blick auf das Vorhandensein von Atomwaffen und anderen Massenvernichtungswaffen in unserer Welt klaren Ausdruck geben. Ganz gegen eine gängige Meinung ist das Thema keineswegs überholt.

II.

Der Autor, der mir in meiner Jugend die Schrecken des Atombombenabwurfs unvergesslich vor Augen brachte, war der Wiener Philosoph Günter Anders. In seinem Tagebuch aus Hiroshima von 1959 findet sich der Bericht eines Opfers: „Als ich zu mir kam, war ich schlimm verbrannt. Und auch meine Frau war furchtbar zugerichtet. Wir stiegen durch den Schutt. Dann stolperte meine Frau über etwas. Über einen Mann. Wir erkannten ihn nicht. Und konnten nicht sehen, ob er noch lebte oder schon tot war. Er aber erkannte uns. ‚Laßt mich, Kinder’, flüsterte er, ‚flieht!’. Die Stimme war fremdartig, aber ich wusste, dass es die Stimme meines Vaters war. Aber als ich ihn ansah, da sagte ich mir, er ist es doch nicht. ‚Fort!’, rief er nun, ‚fort! Sonst bleibt auch ihr liegen!’. Er ist es doch, dachte ich da, und rannte und holte eine Scherbe voll Wasser. Als ich ihm aber das Wasser einzuflößen versuchte, und als ich sah, wie er es wieder von sich gab, da sagte ich wieder zu mir, Er ist es doch nicht. Und bekam Angst. Und sprach zu meiner Frau: ‚Gehorchen wir!’, und zog sie hinter mir her, und so verließen wir ihn und ließen ihn liegen. Auf dem Wege haben wir noch viele andere liegen gesehen und liegen lassen. Bei jedem habe ich gedacht: Es ist mein Vater.“

Günter Anders berichtet auch über die Reaktionen derer, die diesen Bericht hörten: „Wir alle benahmen uns auf völlig gleiche Weise. Wir alle hielten nun unsere Köpfe gesenkt, nicht nur, weil unser Schmerz zu groß war, als dass wir ihn zu zeigen gewagt hätten, sondern auch, weil unsere Scham zu groß war: Unsere Scham darüber, Menschen zu sein; unsere Scham darüber, dass Menschen Mitmenschen in Situationen zu bringen vermögen, in denen menschlich zu handeln diesen nicht mehr möglich ist.“ Wie sähe unsere Welt aus, wenn jeder Mensch diesen Bericht kennen und sich die Scham zu eigen machen würde – diese Scham darüber, ein Mensch zu sein.

III.

Die Geschichte der Kriegführung ist eine Geschichte der Grausamkeiten. Aber nichts in dieser Geschichte ist den Bomben auf Hiroshima und Nagasaki zu vergleichen. Die Zahl der Opfer einer einzigen Bombe, die Nachwirkungen bei den Überlebenden, die unkalkulierbaren Auswirkungen der Strahlung – alle Bosheit, die menschliche Vernichtungswut sich ausdenken mag, scheint in dieser Waffe vereinigt zu sein. „Nie wieder Hiroshima“ – so hieß deshalb schon wenige Jahre später, wie der Theologe Ernst Wolf sagte, „der beschwörende Ruf eines zutiefst erschrockenen Gewissens, Selbstanklage des Menschen, der zu ahnen beginnt, was er angerichtet hat und weiterhin anzurichten vermag.“ Seitdem kann niemand sich dem Gedanken entziehen, dass eine solche Waffe wieder verwendet werden könnte. Niemand kann der Frage ausweichen, ob es jemals wieder Zwecke geben mag, um deretwillen ein solches Mittel eingesetzt wird. Dass der Zweck nicht jedes Mittel heiligt, ist allen Generationen nach Hiroshima ins Gewissen gebrannt.

An der Bombe von Hiroshima ist der Menschheit zum Bewusstsein gekommen, dass sie sich durch Wissenschaft und Technik selbst die Mittel aneignen kann, um das Leben auf dem Erdball zu vernichten. Der Gedanke, dass der Mensch selbst über seine eigene Geschichte negativ verfügen, nämlich dieser Geschichte selbst ein Ende machen kann, hat einen Namen. Er heißt Hiroshima. Das klingt mit in der beschwörenden Formel: „Nie wieder Hiroshima“.

Carl Friedrich von Weizsäcker hat schon vor Jahrzehnten eine ernüchternde Bilanz gezogen. Kein anderes Ereignis, so sagt er, hat die Herstellung der Bombe durch die damalige Sowjetunion mehr gefördert als das Ereignis von Hiroshima; denn dadurch wusste man, „dass die Bombe faktisch funktioniert.“ Aus der Geschichte des Wettrüstens in der Zeit des Kalten Krieges lässt sich dieses Ereignis nicht wegdenken.

Und heute? In einem viel beachteten Warnruf hat Robert McNamara, einst amerikanischer Verteidigungsminister, im Mai dieses Jahres vor den Risiken der heute bestehenden Atomwaffenarsenale gewarnt und diese Waffen – nicht als erster! – als unmoralisch, illegal, militärisch nicht notwendig und auf furchterregende Weise gefährlich bezeichnet. Wir beruhigen uns bei dem Gedanken, dass diese Waffen seit Hiroshima nie eingesetzt wurden. Wir wiegen uns zusätzlich in der Vorstellung, dass mit dem Ende des Kalten Krieges jeder Grund für den Einsatz solcher Waffen entfallen sei. Allenfalls kleinen Mächten, die der „Achse des Bösen“ zugerechnet werden, trauen wir dergleichen zu. Aber das Risiko, dass diese Waffen versehentlich gezündet werden, besteht; ja, es ist untragbar hoch.

Die Zahlen sprechen für sich. Die USA besitzen derzeit etwa 4.500 strategische, offensiv einsetzbar nukleare Sprengköpfe. Davon können 2.000 innerhalb von fünfzehn Minuten eingesetzt werden. Jeder von ihnen hat die zwanzigfache Sprengkraft der Bombe von Hiroshima. Russland besitzt etwa 3.800 Nuklearwaffen, Großbritannien, Frankreich und China jeweils zwischen 200 und 400, Indien und Pakistan unter 100. Nordkorea schließlich kann, so wird geschätzt, zwischen zwei und acht Bomben herstellen. Dafür, nur über die Atomwaffen Nordkoreas oder Pakistans zu reden, gibt es keinen zureichenden Grund. Wer deren Verfügungsgewalt über Atomwaffen verhindern oder beenden will, muss auch selbst zu ihrem Abbau bereit sein.

Eineinhalb Jahrzehnte, also eine halbe Generation nach dem Ende des Kalten Krieges besteht die Nuklearpolitik aus dieser Zeit im wesentlich fort. Die UN-Konferenz zur Überprüfung und Verbesserung des Atomwaffensperrvertrags ist im Mai 2005 gescheitert. In einem offenen Brief an den Präsidenten dieser Konferenz hat Tadatoshi Akiba, der Bürgermeister von Hiroshima und Präsident der „Bürgermeister für den Frieden“, seine tiefe Enttäuschung darüber geäußert, dass die Vision einer vollständigen Abschaffung aller nuklearen Waffenarsenale auf der Welt kein zureichendes Echo findet. Noch immer kann die atomare Vernichtung vom Handeln weniger, ja von der Entscheidung – oder richtiger: Fehlentscheidung – eines Einzelnen abhängen.

Seit sechzig Jahren ist es dazu nicht gekommen, Gott sei Dank. Eine Garantie für die Zukunft ergibt sich daraus nicht. Die Gefahr lässt sich vielmehr nur dann bannen, wenn das Problem der Atomwaffen wieder in das Gewissen vieler Menschen, ja in das Bewusstsein der Massen vordringt. Nur wenn die Dringlichkeit des Themas wahrgenommen wird, lässt sich auf eine Änderung hoffen. Nur dann behält das Scheitern des Atomwaffensperrvertrags nicht das letzte Wort. Nur dann werden auch die großen Atomwaffenbesitzer ihr Verhalten überprüfen – und das nicht nur von den kleinen verlangen.

IV.

Vor fünfzig Jahren hat der katholische Schriftsteller Reinhold Schneider die Christen aufgerufen, an der Bewältigung dieser Frage mitzuwirken. „Unsere Aufgabe wäre“, so sagte er damals, „dem Unglauben der Macht den Glauben der Machtlosigkeit entgegenzusetzen.“ Man kann diese kühne Formulierung so übersetzen: Nicht die Steigerung der Gewaltpotentiale, sondern die Bändigung der Gewalt ist der Weg zum Frieden. So wird die Seligpreisung der Gewaltlosen zu einem Element nüchterner Politik. Die Vorstellung, dass Atomwaffen seit dem Ende des Kalten Kriegs ihre Gefährlichkeit verloren haben, ist durch nichts gerechtfertigt. Man muss sich nicht nur dafür einsetzen, dass mögliche Ursachen für ihren Einsatz überwunden werden. Man muss auch die Möglichkeit ihres Einsatzes beseitigen. Das Gedenken an das Leid von Hiroshima und Nagasaki verpflichtet uns dazu, dass wir dieser Aufgabe nicht ausweichen, sondern sie uns zu eigen machen. Allein dadurch werden wir der Erinnerung an die damaligen Opfer gerecht, zwei Generationen nach dem Tag von Hiroshima.