"Das Vermächtnis Dietrich Bonhoeffers und die Wiederkehr der Religion" - Vorlesung in Stettin

Wolfgang Huber

I.

Der 9. April 1945 war ein Montag. Im Morgengrauen dieses Tages wurde Dietrich Bonhoeffer zusammen mit Wilhelm Canaris, Ludwig Gehre, Hans Oster, Karl Sack und Theodor Strünck im Konzentrationslager Flossenbürg ermordet. Das standgerichtliche Verfahren, das dem vorausging, sprach allem Recht Hohn. Es war ein Befehl des Führers, zu dessen Erfüllung sich Ankläger wie Richter hergaben. Am Morgen des 9. April mussten sich die Verurteilten völlig nackt ausziehen und eine Stiege besteigen. Dann wurde ihnen ein Strick um den Hals gelegt und die Stiege weggezogen. Der Lagerarzt behauptete, der Tod sei sofort eingetreten.

Noch in den letzten Wochen vor ihrem Untergang rächte sich die Naziherrschaft an Menschen, die gegen sie aufbegehrten. Sie besiegelte damit deren unfreiwilliges Martyrium; gerade dadurch bleiben diese Blutzeugen über die Generationen hinweg Vorbilder der Zivilcourage und des Glaubensmuts.

Mit dem sechzigsten Todestag Dietrich Bonhoeffers am 9. April dieses Jahres hat eine Zeit begonnen, die in besonderer Weise dazu einlädt, sich seinem Vermächtnis zuzuwenden. Denn am 4. Februar 2006 wird seines hundertsten Geburtstags zu gedenken sein. Die Spanne zwischen diesen beiden Erinnerungsdaten ist ein guter Anlass, sich Bonhoeffers Leben und Werk neu zu vergegenwärtigen. Deshalb bin ich sehr dankbar dafür, dass wir heute hier in Stettin an Bonhoeffer erinnern, in der unmittelbaren Nähe des Predigerseminars von Finkenwalde, in dem seine Theologie von 1935 an ihre prägende Gestalt gewonnen hat.

Dabei soll es heute nicht darum gehen, die Lebensgeschichte Bonhoeffers zu vergegenwärtigen. Wir konzentrieren uns vielmehr auf ein theologisches Grundthema, auf Bonhoeffers Umgang mit dem Thema Religion. In einer Zeit, die von der Wiederkehr der Religion geprägt ist, ist das ein nahe liegendes Thema. Ja, die Frage, was Bonhoeffers These vom Ende der Religion angesichts der Wiederkehr der Religion bedeuten soll, ist geradezu von herausfordernder Aktualität.

Wir wollen zuerst den Ort der Religionsthematik in Bonhoeffers Biogaphie betrachten; wir wenden uns dann der Auseinandersetzung mit dem Thema der Theologie in den Gefängnisbriefen zu, die unter dem Titel „Widerstand und Ergebung“ veröffentlicht worden sind. Wir fragen abschließend, ob und wenn ja in welchen Grenzen Bonhoeffers Thesen zum Thema der Religion für unsere gegenwärtigen Fragestellungen fruchtbar gemacht werden können.

II.

Bonhoeffer sagt von sich selbst, er sei Theologe geworden, bevor er Christ war. Früh, im Alter von 17 Jahren, fand der im Jahr 1906 Geborene den Weg zur Theologie, als einziger als der achtköpfigen Kinderschar des Professors für Neurologie in Psychiatrie, der zur Zeit von Dietrichs Geburt in Breslau und später in Berlin lehrte. Das Beste war für diesen Sohn aus einem naturwissenschaftlich geprägten, dem Bildungsbürgertum angehörenden Haus gerade gut genug. Er gehörte zu dem Seminar des berühmten Kirchenhistorikers Adolf von Harnack. In seinem Studium der Theologie Martin Luthers war er von dem führenden Lutherforscher seiner Zeit, Karl Holl, geprägt. Seine Dissertation reichte er im Alter von 21 Jahren bei dem bestimmenden systematischen Theologen der Berliner Theologischen Fakultät, Reinhold Seeberg, ein. Aber früher als andere öffnete er sich zugleich für die Anregungen der Dialektischen Theologie der zwanziger Jahre und trat in eine Korrespondenz mit deren führendem Kopf, mit Karl Barth, ein.

Kritische Aneignung und eigenständige Urteilsbildung – das prägte seine Theologie von Anfang an. Wäre er dazu nicht im Stande gewesen, dann enthielte seine Theologie nicht das Anregungspotential, das sie bis zum heutigen Tag so lebendig macht.

Nicht darum kann es also gehen, Dietrich Bonhoeffer mit der Aura eines großen Widerstandszeugen (K.-M. Kodalle) zu umgeben, um ihn dadurch gegenüber kritischen Rückfragen zu immunisieren. Sehr wohl aber wird es seinem Lebenszeugnis wie seiner Theologie gerecht, wenn sechzig Jahre nach seinem Tod und hundert Jahre nach seiner Geburt auf ihn angewandt wird, was das Augsburger Bekenntnis von 1530 in seinem Artikel 21 von der Verehrung der Heiligen lehrt.

Dieses grundlegende evangelische Bekenntnisdokument unterscheidet zwischen der Anrufung von Heiligen, in der Menschen sich mit der Bitte um Beistand an sie wenden, und einem öffentlichen Gedenken der Heiligen, um von ihrem Beispiel für den eigenen Glauben und das eigene Handeln zu lernen. Während das eine evangelischem Glauben nicht entspricht, ist ihm das andere eine große Hilfe.

Bonhoeffers Vorbildwirkung hat ohne Zweifel damit zu tun, dass Lebensgeschichte und Theologie sich in seinem Fall besonders eng miteinander verbinden. Im Zentrum dieser engen Verbindung steht der Schritt vom Theologen zum Christen. Ihm lag die Begegnung mit der Bergpredigt zu Grunde, die ihm, wie er selbst bezeugt, im Alter von 26 Jahren widerfuhr. In der Zeit seines Lebens, in der die akademische Wirksamkeit im Vordergrund stand, noch vor Hitlers Machtergreifung, begegnete er der Bergpredigt in einer Weise wie nie zuvor. Diese Begegnung machte ihn, wie er in selbstkritischer Abgrenzung gegenüber vorausliegenden Phasen seines Lebens sagte, zum Christen. Und sie gab zugleich seiner ethischen Haltung eine Klarheit, die sich zwar schon angebahnt, aber noch nicht im Letzten durchgesetzt hatte. Die Verpflichtung auf Frieden und Gerechtigkeit wurde nun zum bestimmenden Grundmotiv. Damit verband sich die Überzeugung, dass nicht die unbefleckte Reinheit des eigenen Gewissens, sondern die konkrete Verantwortung für das Leben und die Zukunft anderer Menschen der Leitgedanke christlicher Ethik sei. Daraus zog Bonhoeffer auch persönlich die Konsequenz. Er verzichtete auf eine akademische Karriere und übernahm stattdessen die Ausbildung künftiger Pfarrer der Bekennenden Kirche. Er sprach sich so deutlich gegen die Rechtsbeugung des Nazi-Regimes aus, dass ein Schreibverbot die Folge war. In der Gewissheit, dass er den Kriegsdienst in Hitlers Armee verweigern würde, ließ er sich unmittelbar vor Beginn des Zweiten Weltkriegs  zu einem Gastaufenthalt am Union Theological Seminary in New York einladen. Doch er hielt es nicht aus, dort zu bleiben; denn er wollte Verantwortung für die Zukunft Deutschlands nach dem Ende der Diktatur wahrnehmen – und dazu musste er in das Land des Diktators zurückkehren. Der Schritt in den Widerstand war unausweichlich. Er aber führte in die Haft und in den frühen Tod.

Verantwortung und Stellvertretung – das waren schon früh die Themen von Bonhoeffers Leben – und ebenso auch die Themen seiner Theologie. So sehr ließ Bonhoeffer sich von diesen Themen bestimmen, dass er das Dasein für andere zum prägenden Begriff der Ethik und die Kirche für andere zum prägenden Begriff der Lehre von der Kirche werden ließ. Dieser Gedanke einer konstitutiven christlichen Proexistenz lässt allerdings die Wechselseitigkeit, in der Menschen ihr Leben führen und die sie auch in der Kirche erfahren, allzu stark in den Hintergrund treten. Mit guten Gründen hat Theo Sundermeier deshalb vorgeschlagen, das Moment christlicher Proexistenz in eine umfassendere Konzeption christlicher Konvivenz aufzunehmen, die sich im gemeinsamen Feiern, im voneinander Lernen und im miteinander Teilen Ausdruck verschafft.

Allerdings lässt sich nicht verkennen, wie nah – schon begrifflich – diese Konzeption der Konvivenz dem Gemeinsamen Leben steht, das Dietrich Bonhoeffer in der Zeit des Finkenwalder Predigerseminars praktiziert und nach der erzwungenen Schließung des Seminars literarisch dargestellt hat. Hier in Stettin an Bonhoeffer zu denken, schließt die Erinnerung an diese Praxis des gemeinsamen Lebens notwendigerweise ein. Bonhoeffer hat einer geprägten Gestalt evangelischer Spiritualität einen bleibenden Ausdruck verliehen.

Mit dieser Spiritualität des gemeinsamen Lebens, die Bonhoeffer in seinem schmalen Buch beschreibt, wird man aus heutiger Sicht einen Schritt vom Christen zum religiösen Menschen verbunden sehen. Denn in heutiger Begrifflichkeit ist diese Spiritualität der Finkenwalder Zeit ohne Zweifel als ein Ausdruck von Religion anzusehen. So überschwänglich ist die Sprache, die Bonhoeffer dafür wählt, dass wir Heutigen vor ihr sogar zurückscheuen – von der Exklusivität, in der für das gemeinsame Leben unter Gottes Wort nur „Brüder“ ins Auge gefasst werden, ganz abgesehen. Es wird leicht vergessen – so heißt es da beispielsweise – , dass die Gemeinschaft christlicher Brüder ein Gnadengeschenk aus dem Reiche Gottes ist, das uns täglich genommen werden kann, dass es nur eine kurze Zeit sein mag, die uns noch von der tiefsten Einsamkeit trennt. Darum, wer bis zur Stunde ein gemeinsames christliches Leben mit andern Christen führen darf, der preise Gottes Gnade aus tiefstem Herzen, der danke Gott auf Knien und erkenne: es ist Gnade, nichts als Gnade, dass wir heute noch in der Gemeinschaft christlicher Brüder leben dürfen.

III.

Ein solches Zitat zeigt exemplarisch, dass man von Bonhoeffer gewiss nicht sagen kann, er sei religiös unmusikalisch gewesen, wie es der Soziologe Max Weber von sich behauptete. Daran wird es nicht gelegen haben, wenn Bonhoeffer das Religiöse relativiert, ja sogar von einem Übergang in eine religionslose Zeit spricht und nach den Möglichkeiten eines religionslosen Christentums fragt. Es war vielmehr eine eigene religiöse Praxis, die ihn für die notwendige Kritik an der Religion sensibel gemacht hat. Sie vollzieht sich in konzentrierter Form in den theologischen Briefen aus dem Gefängnis in Tegel aus dem Jahr 1944. Doch diese religionskritische Wendung in Bonhoeffers Theologie ist, was oft übersehen wird, bereits in früheren Texten klar zu erkennen.

So knüpft Bonhoeffer in der Finkenwalder Zeit daran an, dass der Apostel Paulus das Sein in Christus als eine neue Schöpfung bezeichnet. Er folgert daraus, dass in Christus nicht eine neue Religion gestiftet, sondern ein Stück Welt neu geschaffen wird. Es liegt also das Pfingstgeschehen nicht in erster Linie in einer neuen Religiosität, sondern es ist die Botschaft von einer neuen Schöpfungstat Gottes. Und das heißt: Das ganze Leben wird mit Beschlag gelegt. Es geht nicht einmal um eine Vorordnung des Religiösen vor dem Profanen, sondern um eine Vorordnung des Tuns Gottes vor dem Religiösen und dem Profanen.

Dieser Ansatz wird in Dietrich Bonhoeffers Gefängnistheologie weitergeführt. Der Glaube als Lebensakt wird dem partiellen Charakter der Religion gegenübergestellt. Nicht Religion schlechthin, sondern eine bestimmte Form der Religion unterliegt Bonhoeffers Kritik – diejenige nämlich, in der die menschliche Frömmigkeit sich Gottes bemächtigen will.

Das Gegenbild, an dem Bonhoeffer sich orientiert, hält sich an den Gott, der sich in der Ohnmacht Jesu zeigt. Bonhoeffer erläutert sein neues Verständnis an einer bestimmten biblischen Szene, nämlich an der Gethsemane-Szene.

Das Thema dieser Szene ist kein anderes als das Thema des ganzen Neuen Testaments.  Jesus von Nazareth wird uns als der Sohn Gottes vor Augen gestellt, in dem sich Gottes Liebe zu uns Menschen offenbart. Aber dieser Jesus wird so gezeichnet, dass er ohnmächtig dem Leiden ausgesetzt ist. Verzweifelt wendet er sich an Gott und sucht nach Hilfe. Doch er bleibt ohne Antwort. Verzagt bittet er seine Gefährten um Beistand. Doch sie schlafen – schlafen in diesem Augenblick!

Dietrich Bonhoeffer kommentiert diese Szene folgendermaßen:

‚Könnt ihr nicht eine Stunde mit mir wachen?’, fragt Jesus in Gethsemane. Das ist die Umkehrung von allem, was der religiöse Mensch von Gott erwartet. Der Mensch wird aufgerufen, das Leiden Gottes an der gottlosen Welt mitzuleiden. Er muss also wirklich in der gottlosen Welt leben und darf nicht den Versuch machen, ihre Gottlosigkeit irgendwie religiös zu verdecken, zu verklären; er muss ‚weltlich’ leben und nimmt eben darin an dem Leiden Gottes teil; er darf ‚weltlich’ leben, das heißt er ist befreit von allen falschen religiösen Bindungen und Hemmungen. Christsein heißt nicht, in einer bestimmten Weise religiös sein, auf Grund irgendeiner Methodik etwas aus sich machen (einen Sünder, Büßer oder einen Heiligen), sondern es heißt Menschsein. Nicht einen Menschentypus, sondern den Menschen schafft Christus in uns. Nicht der religiöse Akt macht den Christen, sondern das Teilnehmen am Leiden Gottes im weltlichen Leben.

In diesem knappen Briefstück sind alle Grundmotive enthalten, die Dietrich Bonhoeffer schon zu der kühnen Aussage veranlassen, wir lebten in einem religionslosen Zeitalter. In einer Theologie des Karfreitags hat seine These vom Ende der Religion ihren tiefsten Grund. Während der Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel zu Beginn des 19. Jahrhunderts den Karfreitag spekulativ interpretierte und daraus eine philosophische Theorie über den Tod Gottes entwickelte, deutet Dietrich Bonhoeffer Jesu Weg ans Kreuz – und in ihm insbesondere die Gethsemane-Szene – existentiell und folgert daraus, der christliche Glaube sei nicht ein religiöser Vollzug, sondern ein Lebensakt, der durch das Teilnehmen am Leiden Gottes im weltlichen Leben geprägt ist.

An Kühnheit ist diese Überlegung Dietrich Bonhoeffers der These Hegels mindestens ebenbürtig. Sie gewinnt zusätzliche Anziehungskraft daraus, dass Dietrich Bonhoeffers eigene Lebenssituation mit dieser Deutung der Gethsemane-Szene in einer Weise zur Deckung kommt, die ihr eine große authentische Kraft verleiht.

In der unmittelbaren Bedrängnis durch einen Prozess, der seine Freunde und ihn des Hochverrats überführen sollte, im Warten auf das Attentat gegen Hitler, das vielleicht noch rechtzeitig kommen würde – rechtzeitig auch zur Rettung des eigenen Lebens – : in dieser äußersten Anspannung wendet Bonhoeffer sich der Frage zu, was die sein Leben bestimmende Frage sei. Mit einem Brief vom 30. April 1944 beginnt die Serie von brieflichen Äußerungen zum Ende der Religion, mit einem Brief vom 18. Juli 1944 endet sie, zwei Tage vor dem gescheiterten Attentat gegen Hitler, das allen bisherigen Hoffnungen des Inhaftierten ein Ende macht. In dem letzten Brief, in dem Brief vom 18. Juli 1944 findet sich die Reflexion über die Gethsemane-Szene, die ich gerade zitiert habe. Aber was veranlasst ihn zu der kühnen Aussage über das Ende der Religion?

Dass diese Gedanken beunruhigend seien, räumt Bonhoeffer selbst ein. Aber er muss ihnen Raum geben. Sie stellen sich ein, weil er sich um eine Klärung der Frage bemüht, die ihn unablässig bewegt. Es geht, wie er in dem ersten Brief zu dieser Thematik am 30. April 1944 sagt, um die Frage, was das Christentum oder auch wer Christus für uns heute eigentlich ist. Durch theologische oder fromme Worte kann man das nicht mehr sagen. Einen abgetrennten Raum der Innerlichkeit oder des Gewissens, in dem eine Antwort auf diese Frage gut aufgehoben wäre, gibt es nicht mehr. Damit ist die Zeit der Religion überhaupt vorbei. An diese Feststellung schließen sich Sätze an, die umso ungeschützter formuliert sind, weil sie ein erstes Tasten darstellen, keineswegs bereits ein zur Veröffentlichung bestimmtes Resultat:

Unsere gesamte neunzehnhundertjährige christliche Verkündigung und Theologie ... baut auf dem ‚religiösen Apriori’ des Menschen auf. ‚Christentum’ ist immer eine Form ... der ‚Religion’ gewesen. Wenn nun aber eines Tages deutlich wird, dass dieses ‚Apriori’ gar nicht existiert, sondern dass es eine geschichtlich bedingte und vergängliche Ausdrucksform des Menschen gewesen ist, wenn also die Menschen wirklich radikal religionslos werden – und ich glaube, dass das mehr oder weniger bereits der Fall ist ... – was bedeutet das dann für das ‚Christentum’? Unserem ganzen bisherigen ‚Christentum’ wird das Fundament entzogen, und es sind nur noch einige ‚letzte Ritter’ oder ein paar intellektuell Unredliche, bei denen wir ‚religiös’ landen können.

Es ist immer wieder darüber gerätselt worden, wie Bonhoeffer dieses religiöse Apriori versteht, was also die Religion kennzeichnet, von der er sagt, sie sei an ihr Ende gekommen. Einige Kennzeichen lassen sich ermitteln: Es ist die Vorstellung von der Gottesbeziehung als einem besonderen Lebensbereich, der es mit der Innerlichkeit des Menschen zu tun hat. Es ist die Vorstellung von Gott als einem Lückenbüßer, der dann zur Erklärung herangezogen wird, wenn die Möglichkeiten menschlichen Erklärens – noch – an eine Grenze stoßen. Es ist die Tendenz dazu, die Schwäche des Menschen und die Grenzen menschlicher Möglichkeiten dafür zu nutzen, die Notwendigkeit der Religion zu demonstrieren.

Diese Art von Religion, so ist Bonhoeffer überzeugt, verträgt sich nicht  mit der Mündigkeit des modernen Menschen. Wenn das stimmt, dann stellt sich unausweichlich die Frage, ob mit der Religion auch der christliche Glaube fällt. Dem tritt Bonhoeffer mit dem Gedanken entgegen, dass die Religion vielleicht nur das Gewand des Christentums ist – ein Gewand, das zu verschiedenen Zeiten sehr unterschiedlich ausgesehen hat. Wer Christentum und Religion auf diese Weise unterscheidet, sieht sich mit der Frage konfrontiert, ob es so etwas wie ein religionsloses Christentum geben kann.

Damit meint Bonhoeffer ein Christentum, das in der Welt gelebt wird und sich auf die Weltlichkeit der Welt einlässt. Dass dies kein verweltlichtes, säkularisiertes, seines Kern beraubtes Christentum sein kann, macht er eindrücklich in den Gedanken zur Taufe seines Patensohns Dietrich Bethge deutlich.

Du wirst heute zum Christen getauft. Alle die alten großen Worte der christlichen Verkündigung werden über Dir ausgesprochen und der Taufbefehl Jesu Christi wird an Dir vollzogen, ohne dass Du etwas davon begreifst. Aber auch wir selbst sind wieder ganz auf die Anfänge des Verstehens zurückgeworfen. Was Versöhnung und Erlösung, was Wiedergeburt und Heiliger Geist, was Feindesliebe, Kreuz und Auferstehung, was Leben in Christus und Nachfolge Christi heißt, das alles ist so schwer und so fern, dass wir es kaum mehr wagen, davon zu sprechen. In den überlieferten Worten und Handlungen ahnen wir etwas ganz Neues und Umwälzendes, ohne es noch fassen und aussprechen zu können. Das ist unsere eigene Schuld. Unsere Kirche, die in diesen Jahren nur um ihre Selbsterhaltung gekämpft hat, als wäre sie ein Selbstzweck, ist unfähig, Träger des versöhnenden und erlösenden Wortes für die Menschen und für die Welt zu sein. Darum müssen die früheren Worte kraftlos werden und verstummen, und unser Christsein wird heute nur in zweierlei bestehen: im Beten und im Tun des Gerechten unter den Menschen. ... Der Tag wird kommen, an dem wieder Menschen berufen werden, das Wort Gottes so auszusprechen, dass sich die Welt darunter verändert und erneuert. Es wird eine neue Sprache sein, vielleicht ganz unreligiös, aber befreiend und erlösend, wie die Sprache Jesu, dass sich die Menschen über sie entsetzten und doch von ihrer Gewalt überwunden werden, die Sprache einer neuen Gerechtigkeit und Wahrheit, die Sprache, die den Frieden Gottes mit den Menschen und das Nahen seines Reiches verkündigt.

Man spürt es: Die Abkehr von der religiösen Gewandung des Christentums geschieht um seiner Substanz willen. Der Frieden Gottes und das Nahen seines Reiches sind entscheidend. Ein neuer Zugang zu Gerechtigkeit und Wahrheit tritt in den Blick. Eine Sprache sucht Bonhoeffer, die nach traditionellen Maßstäben vielleicht unreligiös ist, die aber befreiend und erlösend wirkt.

Hier schließt sich der Kreis. Denn diese Sprache findet Bonhoeffer, indem er an die Seite des leidenden Christus tritt. Und zu der neunten Stunde rief Jesus laut: Eli, Eli, lama asabtani? Das heißt übersetzt: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? An diesen Vers aus der Karfreitagserzählung des Markusevangeliums knüpft er an und sagt:

Der Gott, der mit uns ist, ist der Gott, der uns verlässt. Der Gott, der uns in der Welt leben lässt ohne die Arbeitshypothese Gott, ist der Gott, vor dem wir dauernd stehen. Vor und mit Gott leben wir ohne Gott. Gott lässt sich aus der Welt herausdrängen ans Kreuz, Gott ist ohnmächtig und schwach in der Welt und gerade und nur so ist er bei uns und hilft uns. Es ist ... deutlich, dass Christus nicht hilft kraft seiner Allmacht, sondern kraft seiner Schwachheit, seines Leidens! Hier liegt der entscheidende Unterschied zu allen Religionen. Die Religiosität des Menschen weist ihn in seiner Not an die Macht Gottes in der Welt. ... Die Bibel weist den Menschen an die Ohnmacht und das Leiden Gottes; nur der leidende Gott kann helfen. Insofern kann man sagen, dass die beschriebene Entwicklung zur Mündigkeit der Welt, durch die mit einer falschen Gottesvorstellung aufgeräumt wird, den Blick frei macht für den Gott der Bibel, der durch seine Ohnmacht in der Welt Macht und Raum gewinnt.

IV.

Bonhoeffers Gedanken aus der Mitte des 20. in den Beginn des 21. Jahrhunderts zu übertragen, ist nicht einfach. Zwar hat die Vorstellung von der Mündigkeit des Menschen weiter an Boden gewonnen. Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung sind hohe Güter. In modernen Gesellschaften bestimmt der Wunsch, im Erleben das eigene Leben zu entwerfen und zu besitzen, das Lebensgefühl vieler Menschen. Doch dadurch, dass sie durch Aufklärung und Säkularisierung hindurchgegangen sind, ist auch in modernen Gesellschaften die Religion nicht verschwunden. Vielen Menschen ist in der Mitte ihres Lebens, in den Zeiten größten Glücks bewusst, dass ihnen dieses Leben als Geschenk des Schöpfers anvertraut ist. Und in Situationen der Ratlosigkeit und der Trauer suchen sie Zuflucht in der Sprache des Glaubens – selbst wenn sie sich diese Sprache nur auf Zeit leihen.

In anderen Gesellschaften, zum Beispiel in islamisch geprägten, führt der Kampf um die Modernisierung zu massiven Abwehrbewegungen gegen die Säkularisierung der Gesellschaft. Religiöser Fundamentalismus breitet sich aus. Die Zuwendung zur Religion, die zu den Kennzeichen des beginnenden 21. Jahrhunderts gehört, kann bedrohliche Züge annehmen.

Aber der Fundamentalismus ist keineswegs die einzige Form, in der Menschen neu nach dem Sinn von Religion suchen. Im Gegenzug gegen eine verbreitete Ökonomisierung des Denkens wird in vielfältigen Formen neu nach der spirituellen Dimension menschlichen Lebens gefragt. Der christliche Glaube, der in den letzten Jahrzehnten gerade im Protestantismus weithin nur noch als eine Deutungsperspektive weltlicher Erfahrungen im Blick war, wird wieder in seinem transzendenten Bezug zum Thema. Die Kirche, die für viele nur noch als politische Akteurin und sozialethische Mahnerin erkennbar war, wird wieder als Raum für die Begegnung mit dem Heiligen wahrgenommen.

Auf die Frage, was die wichtigste Aufgabe der Kirche sei, wurde lange Zeit geantwortet: der diakonische Einsatz für Alte und Kranke sowie das Eintreten für die Schwachen in der Gesellschaft. Auch wenn diese Antwort ihre Bedeutung behält, sagen inzwischen doch viele, die wichtigste Aufgabe der Kirche sei die Eröffnung eines Raums für die Begegnung mit dem Heiligen, die Botschaft von Gottes Zuwendung zu seiner Welt, die Sorge für die Seelen. Die religiöse Tiefenschicht des menschlichen Lebens wird wieder entdeckt. Und von der Kirche wird erwartet, dass sie bei der Auseinandersetzung mit dieser Tiefenschicht klare Orientierung gibt.

Es ist eine berechtigte Erwartung, dass der christliche Glaube selbst in seiner spirituellen Kraft und in seinem unaufgebbaren Glaubenswissen wieder wahrgenommen und artikuliert wird. Es geht nicht darum, die Plausibilität des christlichen Glaubens durch eine christliche Apologetik, also durch allerlei Erklärungen und Rechtfertigungen des Glaubens, deutlich zu machen, deren Schwäche Bonhoeffer deutlich beschrieben hat. Vielmehr geht es darum, der systematischen Entleerung des Glaubens entgegenzuwirken und seine Bedeutung für Erfahrung und Wissen wieder neu zu entdecken. Der Heidelberger Theologe Michael Welker hat das so beschrieben:

Die Kirche muss erkennen lassen: Das Glaubenswissen ist interessant und spannend, es ist überraschend und erhellend zugleich. ... Dieses Wissen ist für die Lebensqualität des einzelnen und für die Qualität menschlichen Zusammenlebens unverzichtbar. Viele Themen, die wir ohne religiöse Sprache und religiöse Erkenntnis verdrängen müssen, könnten wieder zur Sprache gebracht werden: Die interessanten Spannungen zwischen Natur und Kultur, die fruchtbaren Spannungen zwischen der Gottebenbildlichkeit des Menschen und dem Auftrag an ihn, über die Natur zu herrschen, die Spannungen zwischen Recht und Barmherzigkeit, die Konflikte zwischen Gewissheit und Wahrheit, die Grenzen unserer Moral und das Phänomen der Sünde, die tragischen Verstrickungen des Lebens, die Frage von Schuld, die Probleme von Opfer und Sühne, die Annahme der Endlichkeit unseres Lebens. .... Gottesdienste mit Stil und mit Spannung wären möglich, wenn das Inhaltliche wieder stimmen würde.

Wenn das gelingt, haben wir es dann mit einer religiösen oder einer nichtreligiösen Interpretation der biblischen Begriffe zu tun? Die Antwort auf diese Frage fällt mir schwer. Ich kann Bonhoeffers Ansatz, wie er ihn in der Auslegung der Gethsemane-Szene entwickelt, folgen; und von der Radikalität seiner Fragestellung will ich nichts zurücknehmen. Aber die Entgegensetzung von Glauben und Religion, die er seiner Überlegung zu Grunde legt, trifft die heutige Wirklichkeit, so scheint mir, nicht.

Religion begegnet auch heute in vielen Formen: als ein in den Privatbereich verbannter Restbestand frommer Gefühle, als ein Herrschaftsinstrument zur Beherrschung der Massen, als Ideologie, mit der Selbstmordattentäter zu Märtyrern gestempelt werden. Aber sie begegnet auch in ihrer erlösenden und befreienden Kraft – nicht nur, aber auch im Namen dessen, der ans Kreuz ging und dafür die äußerste Einsamkeit auf sich nahm: die Verstoßung durch die religiös Einflussreichen, die Verurteilung durch die politisch Mächtigen, den Verrat der engsten Gefährten.

Auch der Glaube, der sich an die Ehre des Gottes hält, der um der Menschen willen Leiden und Ohnmacht auf sich nimmt, ist Religion und artikuliert sich in religiösen Formen. Seine erlösende und befreiende Kraft sichern wir nicht dadurch, dass wir das bestreiten. Diese erlösende und befreiende Kraft lässt sich überhaupt nicht sichern. Sie lässt sich nur immer wieder neu erbitten, verkündigen und leben.

Bonhoeffers Absage an die Religion lässt sich nicht halten. Religion bleibt ein Teil unserer Lebenswirklichkeit. Und sie bleibt eine notwendige Gestalt des christlichen Glaubens. Es erweist sich als vermessen, den Glauben ohne diese religiöse Gestalt haben zu wollen. Trotzdem kommt es darauf an, Bonhoeffers Argumentation in ihren Stärken fruchtbar zu machen.

Die Stärke von Bonhoeffers Theologie im Ganzen hat damit zu tun, dass er keine Angst vor der Moderne hat. Es ist gerade die Beschäftigung mit dem modernen wissenschaftlichen Bewusstsein, das ihn zu seiner theologischen Religionskritik veranlasst. Die Moderne aber steht unter dem Vorzeichen des mündig gewordenen Menschen. Bonhoeffer erfasst mit diesem Begriff eine Grundhaltung, wie sie sich in Europa unter der Herrschaft des wissenschaftlichen Wahrheitsbewusstseins entwickelt hat. Die Mündigkeit des Menschen ernst zu nehmen, ist ein Gebot intellektueller Redlichkeit. Lücken des jeweiligen wissenschaftlichen Erkenntnisstands zu nutzen, um in ihnen einem als Lückenbüßer verstandenen Gott noch eine Funktion zuzuweisen, ist demgegenüber intellektuell unredlich. Genau das aber geschieht in der vorherrschenden Vorstellung von Religion. In dieser Vorstellung bleibt auch das Christentum auf weite Strecken befangen.

Religiosität versteht Bonhoeffer als eine Haltung, die eine religiöse Aktivität des Menschen an die Stelle der Wirklichkeit Gottes setzt. Religion trägt für ihn einen provinziellen Charakter; sie hat es mit derjenigen Provinz der Wirklichkeit zu tun, von welcher der wissenschaftliche Wahrheitsanspruch einstweilen noch fern gehalten wird. Subjektive Innerlichkeit ist von daher der Bezirk der Religion; eine jenseitig verstandene Transzendenz ist ihr Bezugspunkt. An diese Form der Religion kann der christliche Glaube nach Bonhoeffers Überzeugung nicht länger gebunden werden; deshalb sieht er es als die entscheidende Aufgabe für eine Neufassung christlicher Theologie an, zu einer nichtreligiösen Interpretation ihrer biblischen Grundbegriffe zu kommen.

Von der These eines unweigerlichen Absterbens der Religion ist diese Überlegung Bonhoeffers meilenweit entfernt. Diese These gibt es keineswegs nur in einer historisch-materialistischen Variante. Auch soziologisch-deterministische Spielarten dieser These werden – beispielsweise unter dem Leitbegriff der Säkularisierung – immer wieder vorgetragen. Inzwischen freilich erleben wir – weltweit betrachtet – nicht eine fortgesetzte Säkularisierung, sondern eher eine Desäkularisierung (Peter L. Berger), nicht ein Absterben, sondern eine Wiederkehr der Religion. Bonhoeffers These wird dadurch nicht widerlegt; sie steht vielmehr auf einem völlig andern Blatt.

Auch wer im theologischen Umgang mit dem Problem der Religion an Bonhoeffer geschult ist, hat keinen Grund zu leugnen, dass Religion im Leben der einzelnen wie auf dem Forum der Öffentlichkeit eine wachsende Rolle spielt. Auch das Faktum, dass der christliche Glaube mit innerer Notwendigkeit religiöse Gestalt annimmt, braucht man nicht unter Berufung auf Bonhoeffer zu bestreiten.

Klärungsbedürftig sind vielmehr zwei andere Fragen. Zum einen muss es darum gehen, ob die neue Zuwendung zur Religion, die wir gegenwärtig erleben, auf Kosten der Mündigkeit geht. Das ist, wie unschwer zu erkennen, der Fall; aber es ist nicht zwingend. Es geschieht beispielsweise, wenn der Zugang zu wissenschaftlichen Einsichten über die Entstehung der Welt und die Entwicklung des Lebens im Namen des Bekenntnisses zu Gott als dem Schöpfer versperrt werden soll, wenn also der biblische Schöpfungsglaube mit einer kreationistischen Weltanschauung verwechselt wird. Und es geschieht ebenso, wenn der Glaube an Gott zur Rechtfertigung von Gewalt gegen Menschen missbraucht und damit Gott selbst als Waffe gegen andere Menschen eingesetzt wird. Solche Formen fundamentalistischer Religiosität breiten sich heute an vielen Stellen aus. Vor dem von Bonhoeffer eingeschärften Kriterium der Mündigkeit können sie keinen Bestand haben.

Der Streit geht sodann um die Frage nach dem Verhältnis zwischen der Wirklichkeit Gottes und der Religiosität des Menschen. Wenn Religion selbst zu einer letzten Wirklichkeit erklärt und das Tun Gottes nicht mehr von der religiösen Aktivität des Menschen unterschieden wird, dann wird die Kirche zu einer religiösen Gemeinschaft, für die das Religiöse – so Bonhoeffer schon in der Finkenwalder Zeit – der höchste Wert ist. Theologie, die sich in den Dienst dieses höchsten Wertes stellt, wird dann mit innerer Notwendigkeit zur bloßen Auslegung des Religiösen, zur Religionshermeneutik.

Gerade in einer Zeit der Wiederkehr der Religion hat evangelische Theologie starke Gründe, Bonhoeffers Unterscheidung auch in dieser zweiten Hinsicht ernst zu nehmen. Die Unterscheidung zwischen der Wirklichkeit Gottes und der menschlichen Religion ist um beider willen nötig – um Gottes Willen, weil ihm nur auf der Grundlage einer solchen Unterscheidung die Ehre gegeben wird, um der Religion willen, weil sie nur so als das begriffen werden kann, was sie ist – nämlich eine menschliche Aktivität. Allerdings wird man diese notwendige Unterscheidung nicht immer auf Bonhoeffers Bahnen beschreiben. Dort, wo er beispielsweise das Bestimmtsein des Menschen durch Gottes neuschaffenden Geist in Kategorien des totalen Gehorsams beschreibt, liegt es uns heute näher, die Freiheitserfahrung zu thematisieren, die sich im Leben aus dem Geist Gottes erschließt.

Bonhoeffers theologischer Impuls sperrt sich nicht gegen die Erfahrungen, die sich heute mit der Wiederkehr der Religion verbinden. Er kann vielmehr dabei helfen, mit diesen Erfahrungen so umzugehen, dass die christliche Wahrheit nicht von einer neuen religiösen Welle verschlungen wird, sondern ihr gegenüber in ihrer klärenden und orientierenden Kraft wirksam wird. Auch im Umgang mit der Wiederkehr der Religion bewähren sich der Respekt vor der Mündigkeit des Menschen und die Überzeugung, dass der Glaube ein Lebensakt ist, der den ganzen Menschen ergreift. Das ist es, was wir gerade heute – in einer Zeit der Wiederkehr der Religion – von Dietrich Bonhoeffer lernen können.