„Flugblätter der Freiheit. Verantwortliches Handeln aus christlichen Wurzeln“

Wolfgang Huber

Weiße Rose-Gedächtnisvorlesung in der Ludwig Maximilians-Universität München

I.

Nun begegn’ ich meinen Braven,
Die sich in der Nacht versammelt,
Um zu schweigen, nicht zu schlafen,
Und das schöne Wort der Freiheit
Wird gelispelt und gestammelt,
Bis in ungewohnter Neuheit
Wir an unsrer Tempel Stufen
Wieder neu entzückt es rufen:
Freiheit! Freiheit!

Mit diesem Zitat aus Goethes Festspiel Des Epimenides Erwachen endet das erste Flugblatt der Weißen Rose. Der Hoffnung werden diese Worte in den Mund gelegt. Dass die Freiheit nur festhält, wer auf sie hofft, ist der Gedanke, um dessentwillen diese poetischen Zeilen zitiert werden. Denn dass sie auf die Freiheit gegen allen Augenschein gehofft haben, macht die Mitglieder der Weißen Rose zu Hoffnungsträgern, bis zum heutigen Tag. Dass sie für diese Hoffnung ihr Leben ließen, muss uns dazu anspornen, das Unsere für die Freiheit zu tun – in einer Zeit, in der man nicht befürchten muss, durch den Einsatz für die Freiheit sein Leben zu gefährden.

Die Flugblätter der Weißen Rose sind insgesamt Flugblätter der Freiheit, auch wenn nicht in jedem von ihnen das Stichwort der Freiheit an vergleichbar exponierter Stelle auftaucht. Aber in den beiden letzten Flugblättern, die in besonderem Maß unter dem Einfluss des Philosophen Kurt Huber entstehen, rückt die Freiheit auch in der Begrifflichkeit in den Mittelpunkt.

Im fünften Flugblatt, dem Aufruf an alle Deutsche!, dessen Text am 13. Januar 1943 fertig gestellt wird, werden am Ende die Grundlagen des neuen Europa definiert, auf das sich die Hoffnungen der Weißen Rose richten. In diesem neuen Europa wird das positive Gegenbild zu einem nationalsozialistisch beherrschten Europa gezeichnet. Nur in großzügiger Zusammenarbeit der europäischen Völker kann der Boden geschaffen werden, auf welchem ein neuer Aufbau möglich sein wird – heißt es in diesem Flugblatt. Für das neue Europa und mit ihm für das kommende Deutschland werden folgende Grundwerte hervorgehoben: Freiheit der Rede, Freiheit des Bekenntnisses, Schutz des einzelnen Bürgers vor der Willkür verbrecherischer Gewaltstaaten. Hier wird konkret, was im literarischen Zitat aus Goethes Festspiel noch idealistisch abgehoben klingt. Es geht um Freiheit der Rede, Freiheit des Bekenntnisses, Schutz des einzelnen Bürgers vor der Willkür verbrecherischer Gewaltstaaten. Das Schicksal der Angehörigen der Weißen Rose dokumentierte damals in aller Brutalität, wie sehr es daran fehlte.

Im sechsten und letzten Flugblatt, dessen Verteilung zur Entdeckung der Weißen Rose und dann zur Verhaftung und zum Tod ihrer Mitglieder führte, wird neben der Freiheit auch die Ehre als zentraler Begriff eingeführt. Dort heißt es: Freiheit und Ehre! Zehn lange Jahre haben Hitler und seine Genossen die beiden herrlichen deutschen Worte bis zum Ekel ausgequetscht, abgedroschen, verdreht, wie es nur Dilettanten vermögen, die die höchsten Werte einer Nation vor die Säue werfen. Um diesem Missbrauch von Worten zu wehren, reklamiert die Weiße Rose die Begriffe wieder für sich und damit für den Widerstand des anderen, des besseren Deutschland. Das Flugblatt endet mit der Hoffnung, das deutsche Volk möge sich gegen die Verknechtung Europas durch den Nationalsozialismus erheben im neuen gläubigen Durchbruch von Freiheit und Ehre.

Wie sich das Eintreten für Freiheit und Ehre mit dem persönlichen Wagnis der Freiheit verbindet, ist in den vergangenen zwölf Monaten vielen Menschen durch den eindrucksvollen Film Sophie Scholl. Die letzten Tage von Marc Rothemund und Fred Breinersdorfer vor Augen geführt worden. Keiner brauchte sich der Tränen zu schämen, mit denen er auf diesen Film reagierte. Viele, die den Film gesehen haben, werden sich an die Szene erinnern, die schildert, wie der Aufruf zur Freiheit im Lichthof der Münchener Universität verbreitet wird, in den Sophie Scholl einen Stapel der Flugblätter wirft. Noch hält sich die Kameraperspektive in der Begleitung Sophie Scholls auf; doch in dem Moment, da die Blätter zu fallen beginnen, blickt die Kamera von unten zu den herabsegelnden Blättern hinauf. Für einen Augenblick scheint es, als sei der ganze Raum von ihnen erfüllt. Für einen kurzen Moment liegt Freiheit in der Luft. Freiheit erfüllt den ganzen Raum, bevor die Blätter dann am Boden liegen, zu Füßen der Universitätsangehörigen. Die heben sie auf. Oder lassen sie liegen. Oder treten sie mit Füßen – die Flugblätter der Freiheit.

Der Ort der Erinnerung an dieses Geschehen ist hier in der Münchener Universität keine gläserne Vitrine. Die Flugblätter sind vielmehr versteinert, eingefügt in die Pflastersteine. Sie liegen dort, als wollten sie aufgenommen werden. Die Freiheit muss ergriffen werden. Es gibt sie nur, wenn sie gelebt wird.

II.

Stationen auf dem Wege zur Freiheit – so heißt ein Gedicht, das Dietrich Bonhoeffer nur kurze Zeit nach den Flugblättern der Weißen Rose im Wehrmachtsuntersuchungsgefängnis in Berlin-Tegel zu Papier brachte, in dem er seit dem 5. April 1943 inhaftiert war. Dietrich Bonhoeffer, der Theologe der Bekennenden Kirche, war im Jahr 1939 von einem nur kurze Zeit dauernden Aufenthalt in New York wieder nach Deutschland zurückgekehrt, weil er nur im Lande selbst, dem er sich zugehörig wusste, für den Neubeginn arbeiten konnte, den er für nötig hielt. Die Möglichkeit, durch eine Tätigkeit in den USA dem drohenden Kriegsdienst in Hitlers Armee zu entgehen, zu dem er sich aus Gewissensgründen außer Stande sah, schlug er aus. Freunde verschafften ihm nach seiner Rückkehr die Möglichkeit, im Amt Ausland der militärischen Abwehr unter Admiral Canaris konspirativ tätig zu werden; durch diese Tätigkeit wurde er dem Militärdienst entzogen. Kontakte zu ökumenischen Partnern waren sein offizieller Auftrag, den er zugleich zur Vorbereitung eines Neubeginns nach dem Sturz des Diktators nutzte.

Äußerlich betrachtet waren Devisenungereimtheiten eines Münchener Mitarbeiters des Amtes Ausland der Anlass für den Schlag der Gestapo gegen Canaris und seine Mitarbeiter. Bonhoeffers Inhaftierung hatte es darüber hinaus mit dem Vorwurf zu tun, er habe sich mit unzutreffenden Gründen vom Militärdienst freistellen lassen. Aber von Anfang an reichte der Verdacht  weiter, der sich schließlich in einem Aktenfund in Zossen bei Berlin konkretisierte und Dietrich Bonhoeffer und seine Mitverschwörer in äußerste Bedrängnis brachte. Aber es war schließlich ein unmittelbarer Befehl Hitlers selbst, wenige Wochen vor seinem eigenen Ende, der Dietrich Bonhoeffer, Hans von Dohnanyi und deren Mitangeklagten noch im April 1945 standgerichtliche Willkürverfahren eintrug, auf deren Grundlage sie hingerichtet wurden; noch im Fallen riss das nationalsozialistische Gewaltregiment sie mit und machte auch sie zu Märtyrern, die wie die Mitglieder der Weißen Rose ihren Einsatz für die Freiheit mit dem Leben bezahlten.

Dietrich Bonhoeffer neben die Studenten der Weißen Rose zu stellen, legt sich schon aus der Übereinstimmung ihres Anliegens heraus nahe. Dietrich Bonhoeffer in die Überlegungen der Weiße-Rose-Gedenkvorlesung einzubeziehen, ist zudem in diesem Jahr auch deshalb geboten, weil in wenigen Tagen, am 4. Februar, der hundertsten Wiederkehr von Dietrich Bonhoeffers Geburtstag zu gedenken ist. Aus diesem Grund stelle ich den Flugblättern der Freiheit, die von der Weißen Rose verbreitet wurden, das Eintreten für die Freiheit zur Seite, das den Weg Dietrich Bonhoeffers prägte.

In seiner Resistenz gegen die Rechtsbeugung durch das Naziregime kommt Bonhoeffer zu sehr ähnlichen Überlegungen wie die Münchener Studenten. Besonders auffällig ist, dass sich auch bei ihm – nämlich bereits in dem Gefängnisgedicht Nächtliche Stimmen – der Begriff der Freiheit mit dem der Ehre verbindet. So heißt es in diesem Gedicht: Doch wenn uns jetzt Freiheit und Ehre geraubt, / vor Menschen erheben wir stolz unser Haupt.

Heute scheint der Begriff der Ehre etwas merkwürdig Abständiges zu haben; ja manchen klingt er geradezu abgeschmackt. In den Texten der Weißen Rose und Bonhoeffers richtet sich der Begriff der Ehre jedoch auf ein Verhalten, welches des Menschen würdig ist; ehrlos dagegen ist ein Handeln, in dem ein Mensch mit der Würde des anderen zugleich auch seine eigene Würde preisgibt. Freiheit aber macht den Kern dieser Würde aus; indem er den Weg der Freiheit lernt und diesen Weg geht, ist der Mensch unterwegs zu seiner eigenen Menschlichkeit. Indem er die Freiheit des anderen achtet und schützt, gibt er zu erkennen, dass die Würde des anderen ihm genauso wichtig ist wie die eigene. So erkläre ich mir die Verbindung von Freiheit und Ehre, die sich bei Dietrich Bonhoeffer ebenso findet wie in den Flugblättern der Weißen Rose. Und so betrachtet, überzeugt sie mich sehr.

Bei Bonhoeffer tritt ein weiteres Motiv hinzu. Es hat damit zu tun, dass die Freiheit gelernt werden muss. Daraus entsteht das Bild von den Stationen, an denen der Lernweg der Freiheit vorbeiführt. Sie werden in dem Gedicht geschildert, das diesen Titel trägt: Stationen auf dem Wege zur Freiheit. Es ist das sechste der zehn Gedichte, die uns von Dietrich Bonhoeffer aus der Zeit der Haft überliefert sind. Die Reinschrift stammt wahrscheinlich vom 14. August 1944. Offenkundig handelt es sich bei dem Gedicht um einen Spiegel der inneren, qualvollen Auseinandersetzung, die mit dem Scheitern des Attentats auf Hitler am 20. Juli 1944 verbunden war.

Zucht, Tat, Leiden, Tod: so heißen die vier Stationen auf dem Lernweg der Freiheit, die Bonhoeffer schildert. Den Gedankengang zu diesen vier Stichworten fasst er in einer Skizze für das Gedicht so zusammen:

Zucht  1. Lerne dich selbst beherrschen
Tat   2. Lerne handeln. Das Wirkliche ergreifen, nicht im Möglichen schweben
Leiden 3. Lerne leiden – in andere Hände legen
Tod   4. Lerne sterben. Höchstes Fest auf dem Wege der Freiheit

Bonhoeffers Gedicht ist ebenso befremdlich wie bemerkenswert. Denn ebenso befremdlich wie die Verbindung von Freiheit und Ehre, auf die wir schon zu sprechen kamen, ist die Verbindung von Freiheit und Zucht. Selbstdisziplin würden wir heute eher dazu sagen. Aber im Verhältnis zur Freiheit würden wir in solcher Selbstdisziplin doch im günstigsten Fall eine Sekundärtugend sehen. Dass aber der Gebrauch der Freiheit überhaupt Tugenden voraussetzt, dass er an die Übung der Selbstdisziplin gebunden ist, dass Selbstbeherrschung die Freiheit nicht einschränkt, sondern ihren Gebrauch möglich macht, das alles klingt zunächst altmodisch und überholt. Es fällt uns schwer einzusehen, dass große Vorbilder des Widerstands um der Freiheit willen sich an derart altmodische Vorstellungen gehalten haben.

Aber vielleicht steckt in dieser Verknüpfung von Freiheit und Zucht, von Freiheit und Selbstbeherrschung sogar eine Wahrheit, die es neu zu entdecken gilt. Wenn Freiheit nicht nur die Lizenz zum Lebensgenuss erteilen, sondern eine auf Dauer verlässliche Lebensform darstellen soll, dann schließt diese Lebensform auch die Bereitschaft zum Verzicht ein. Wer seine Freiheitsmöglichkeiten in einer bestimmten Weise gebrauchen will, kann das nur, wenn er auf andere Möglichkeiten, diese Freiheit auszuleben, verzichtet. Das steht hinter Bonhoeffers auf uns vor allem wegen ihrer Ausschließlichkeit zunächst so fremd wirkenden Worten: Niemand erfährt das Geheimnis der Freiheit, es sei denn durch Zucht.

Leichter nachvollziehbar ist der nächste Schritt auf dem Lernweg der Freiheit, den Bonhoeffer beschreibt: der Schritt der Tat. In der ausgearbeiteten Form des Gedichts hat die mit Tat überschriebene Strophe folgenden Wortlaut:

Nicht das Beliebige, sondern das Rechte tun und wagen,
nicht im Möglichen schweben, sondern das Wirkliche tapfer ergreifen,
nicht in der Flucht der Gedanken, allein in der Tat ist die Freiheit.
Tritt aus ängstlichem Zögern heraus in den Sturm des Geschehens
nur von Gottes Gebot und deinem Glauben getragen,
und die Freiheit wird deinen Geist jauchzend umfangen.

Auch diese Station der Tat spitzt Bonhoeffer durch die Formulierung eines Ausschließlichkeitsanspruchs in schroffer Weise zu: Nicht in der Flucht der Gedanken, allein in der Tat ist die Freiheit. Tat bedeutet dabei, so ergibt sich aus anderen Texten Bonhoeffers, nicht ein beliebiges Tun, sondern dasjenige Tun, das der Zukunft zugewandt und an der Frage orientiert ist, wie eine künftige Generation leben kann. Es war genau diese Frage, die Bonhoeffer, den Pazifisten, in den Widerstand gegen Hitler führte. Dadurch war er, wenn auch nur indirekt, an Überlegungen zur gewaltsamen Beseitigung des Diktators beteiligt. Er, der jede Tötung eines anderen Menschen für schuldhaft hielt, sah sich vor die Frage gestellt, ob es Situationen gibt, in denen verantwortliches Handeln nur noch möglich ist, indem man zur Schuldübernahme bereit ist. Bonhoeffer bejahte diese Frage und nahm die Konsequenz daraus auf sich. Diesen Schritt in die Schuldübernahme aus Verantwortung muss man im Sinn haben, wenn man hört, dass Freiheit nicht darin besteht, im Möglichen zu schweben, sondern das Wirkliche tapfer zu ergreifen.

Mit seinem Eintritt in die Konspiration gegen Hitler begab Bonhoeffer sich weit aus dem Binnenbereich des christlichen Glaubens und der kirchlichen Tätigkeiten hinaus. Er trat hinein in das Inkognito der Verschwörung. Er übte sich in allen Künsten der Verstellung. Doch der Versuch, das Wirkliche tapfer zu ergreifen, führte in die Erfahrung des Scheiterns. Sie wurde für Bonhoeffer unwiderruflich manifest im Misslingen des Attentats am 20. Juli 1944.

Doch Bonhoeffer reagiert auf diesen Schock des Misslingens nicht mit einer Preisgabe der Freiheitshoffnung, sondern mit einem weiteren Schritt des Lernens auf dem Weg der Freiheit. Denn es ist nicht ins Belieben gestellt, ob man sich der Freiheit verpflichtet weiß, die allein jedem Menschen seine Würde gibt und belässt. Den Weg der Freiheit zu gehen, ist vielmehr eine unmittelbare Verpflichtung für den, der sich von Gottes Gebot und von seinem Glauben tragen lässt. Auch wenn die Tat der Freiheit misslingt und der Kampf für die Freiheit abbricht, ist das Lernen der Freiheit doch nicht am Ende. In Vorwegnahme des eigenen Todes sagt Bonhoeffer deshalb in der Skizze zu seinem Freiheits-Gedicht: Was Freiheit ist, lernst du erst jenseits des Todes.

Der Weg der Freiheit, so soll damit gesagt sein, hört nicht auf, wenn die Möglichkeiten der Tat an ein Ende kommen. Vielmehr stehen Leiden und Tod nicht im Gegensatz zur Freiheit, sondern bilden selbst Stationen auf dem Lernweg der Freiheit. Das Leiden ist eine tägliche Erfahrung des Inhaftierten. Der Tod steht ihm vor Augen, seit die Hoffnung auf den Sturz des Diktators so bitter enttäuscht wurde. Nachdem die Möglichkeiten, der Freiheit im Handeln zu entsprechen, an eine Grenze gekommen sind, nimmt der Lernweg der Freiheit Züge der Mystik an. Angesichts der äußeren Unfreiheit, die zu beenden nicht mehr in der eigenen Macht steht, bietet nur die Freiheit eine Zuflucht, die Gott gewährt, indem er auf die Seite des Leidenden tritt und so eine Zuversicht der Freiheit weckt, die über den Tod hinaus Bestand behält. Auch wer nicht im Möglichen schweben, sondern das Wirkliche tapfer ergreifen will, steht vor der Frage, wie es um die Freiheit steht, wenn unsere Möglichkeiten, die Wirklichkeit gestaltend zu verändern, an ein Ende gekommen sind. Dass damit nicht die Freiheit ein Ende findet, ist die Hoffnung, in die Bonhoeffers Gedicht mündet.

Freiheit, dich suchten wir lange in Zucht und in Tat und in Leiden.
Sterbend erkennen wir nun im Angesicht Gottes dich selbst.
 

 III.

Verantwortliches Handeln aus christlichen Wurzeln begegnet uns sowohl bei den jungen Münchener Studierenden der Weißen Rose als auch bei Dietrich Bonhoeffer, der zum Zeitpunkt seines Todes gerade 39 Jahre alt war. Im Blick auf Bonhoeffer, den Theologen, versteht sich das, so mag man denken, von selbst. Jedoch ist zu berücksichtigen, dass dies auch für ihn keineswegs selbstverständlich war. Sein Elternhaus, geprägt durch den wissenschaftlichen Geist des Vaters, der Mediziner war, wie durch die verhaltene protestantische Frömmigkeit der Mutter, legte den Weg zu einem Leben, das vom Gedanken der Nachfolge Jesu geprägt war, keineswegs nahe. Im Rückblick bekannte Bonhoeffer, er sei Theologe geworden, bevor er Christ war. Für den Schritt zum Christsein gab er ein Datum und einen Text an. Im Jahr 1932, so berichtete er im Rückblick, sei er der Bergpredigt Jesu ganz neu begegnet; erst dadurch sei er zum Christen geworden. Sein Widerstand gegen den Ungeist des Nationalsozialismus, der seinen Weg vom Januar 1933 an prägte, hatte von daher einen klaren Rückhalt: die Verantwortung für Gerechtigkeit und Frieden, wie sie sich aus dem Geist der Bergpredigt ergibt.

Was von Bonhoeffer explizit gilt, gilt für die Mitglieder der Weißen Rose zumindest implizit. Denn auch sie versteht man nur dann, wenn man den Geist der Bergpredigt in ihrem Tun und Reden berücksichtigt. Der Geist, aus dem die Weiße Rose hervorging, ist nicht ohne die religiösen Bindungen ihrer Repräsentanten zu verstehen, stellt Harald Steffahn in seiner Monografie über die Weiße Rose fest. Darauf weisen Formulierungen auf den Flugblättern hin, die etwa die Freiheit des Bekenntnisses betonen oder von einem gläubigen Durchbruch von Freiheit und Ehre reden. Konkret auf die Geschwister Scholl bezogen, bilanziert Inge Jens: Die christliche Botschaft wurde zum Kriterium ihres Denkens und Tuns.

Woran zeigt sich das? Es zeigt sich vor allem anderen an der engen Verknüpfung von Freiheit und Verantwortung – daran also, dass im Eintreten für die Freiheit nicht nur die eigene Freiheit, sondern ebenso die Freiheit der anderen im Blick ist. Diese Verknüpfung von Freiheit und Verantwortung liegt für den christlichen Glauben im Begriff der individuellen menschlichen Person begründet. Ein besonders kräftiger Beleg für das biblische Menschenbild, das dem zu Grunde liegt, findet sich in Psalm 8: Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst, und des Menschen Kind, dass du dich seiner annimmst? Die erstaunte Frage des alttestamentlichen Psalmisten wird beantwortet mit einer Bestimmung des Verhältnisses zwischen Mensch und Gott, die in der christlichen Theologie als der Gedanke der Gottebenbildlichkeit des Menschen bezeichnet wird: Du hast ihn wenig niedriger gemacht als Gott; mit Gnade und Barmherzigkeit hast du ihn gekrönt.

Nirgendwo wird höher vom Menschen geredet als in der jüdischen und christlichen Tradition, die im Menschen ein Ebenbild, ein Entsprechungsbild Gottes sieht. Sie sieht die Würde des Menschen gerade nicht in einer Substanz, die ihm zu eigen ist, sondern in den Beziehungen, in denen sich sein Leben vollzieht. Unter diesen Beziehungen aber steht die Gottesbeziehung des Menschen oben an. Die Beziehung zu den Mitmenschen, mit denen er sein Leben teilt, zu der Lebenswelt, in der er sich bewegt, und zu sich selbst treten dem zur Seite. Der Mensch, der sich in solchen Beziehungen vorfindet und der diese Beziehungen ausdrücklich thematisieren kann, ist Person; das kommt im Begriff der Gottebenbildlichkeit zum Ausdruck. Er ist niemals bloß eine Sache. Er ist ein Jemand, nicht bloß ein Etwas. Niemals darf dieser Mensch zum bloßen Objekt für fremde Zwecke, zum bloßen Gegenstand der Verfügungsansprüche Anderer werden. Der von Kant unter dem Titel der menschlichen Würde formulierte Gedanke, dass der Mensch niemals bloß als Mittel, sondern stets zugleich als Zweck in sich selbst zu betrachten ist, hat hier seine Wurzel. Radikal ist der Begriff der menschlichen Würde dieser Tradition zufolge dort gedacht, wo der Mensch mehr ist, als er selbst aus sich zu machen vermag, und wo diese Würde nicht als Resultat menschlicher Leistung verstanden, sondern menschlichem Leisten wie menschlichem Versagen vorgeordnet ist.

Damit wird einer Denkweise der Weg gebahnt, die mit der Endlichkeit des menschlichen Lebens wie des menschlichen Erkennens zu rechnen vermag. Wenn die Würde des Menschen nicht an dem hängt, was ihm selbst zu eigen ist oder von ihm selbst hervorgebracht wird, kann der Mensch seine Eigenschaften wie seine Leistungen mit der Gelassenheit betrachten, aus der heraus auch der Stolz auf Gelungenes allein menschliches Maß behält.

Im Rahmen einer universitären Veranstaltung will ich ausdrücklich hinzufügen: Was auf der Grundlage eines solchen Menschenbildes vom menschlichen Handeln überhaupt gesagt wird, gilt auch für das Handeln im Bereich der Wissenschaft. Im Blick auf die Wissenschaft führt diese Überlegung nämlich zu der schlichten, aber keineswegs banalen Folgerung, dass auch die Wissenschaft – selbst in ihren stärksten Seiten – nicht mehr ist als eine Hervorbringung des endlichen und begrenzten menschlichen Verstandes. Sie ist ein Ergebnis nüchterner, redlicher und wahrhaftiger menschlicher Arbeit. Unverträglich mit einer solchen Betrachtungsweise ist deshalb ein Wissenschaftsglaube, der die Resultate menschlicher Rationalität mit einer irrationalen Heilshoffnung verbindet. Die Vorstellung von einem umfassenden Fortschritt der Wissenschaft, der das Geheimnis des Lebens ohne Rest auflöst, oder der Gedanke einer genetischen Optimierung des Menschen beziehungsweise einer durch menschliches Handeln herstellbaren Unsterblichkeit sind Kurzformeln für einen szientistischen Irrglauben, der immer dann mächtigen Auftrieb erhält, wenn neue Erkenntnisse in der Wissenschaft besonderes Aufsehen erregen. Entsprechend groß ist die Enttäuschung, wenn solches Aufsehen sogar mit dem Mittel der Irreführung und der Fälschung herbeigeführt wurde, wie wir das unlängst in Korea erlebt haben.

Die an dieser Stelle notwendigen Warnungen hat der große Physiker und Philosoph Carl Friedrich von Weizsäcker schon vor Jahren ausgesprochen. Im Wissenschaftsglauben, so sagt er, treten vom Menschen gemachte Heilsvorstellungen an die Stelle sowohl des ewigen Gottes wie der unsterblichen Seele. Ich würde solche Heilsvorstellungen freilich gerade nicht als Säkularisate des christlichen Glaubens ansehen. Denn sie überführen nicht etwa Gehalte des christlichen Glaubens in Themen weltlicher Verständigung; sondern sie transformieren Themen weltlicher Verständigung in Heilsvorstellungen, deren (quasi-)religiöser Charakter freilich oft undurchschaut bleibt. Gerade auf einen solchen Umgang mit der Wissenschaft ist der Satz Carl Friedrich von Weizsäckers gemünzt: Der Mensch, der ohne Religion zu sein meint, pflegt einer niedrigeren Religion zu verfallen.

Was der christliche Glaube zur Klärung solcher Fragen beizutragen vermag, hat von Weizsäcker immer wieder an der Bergpredigt Jesu und insbesondere an ihren Seligpreisungen verdeutlicht. Sie öffnen einen geistigen Raum, in dem der Mensch davor bewahrt wird, an den Imperativen zu zerbrechen, vor die er in seinem Leben gestellt wird. Solche Imperative, die unsere Verantwortung herausfordern, sind gewiss notwendig. Aber sie werden gnadenlos, wenn ihnen nicht ein Indikativ zu Grunde liegt. Der Imperativ ist nur erlaubt, weil es die Wirklichkeit gibt: Selig sind die Friedensmacher, denn sie werden Gottes Söhne heißen, selig sind die nach dem Geist Verlangenden, denn ihrer ist das Reich der Himmel.

Doch trotz der Bergpredigt und ihrer Seligpreisungen bewegen wir uns immer wieder in den Ambivalenzen unserer jeweiligen Gegenwart. Die Frage, wie die Handlungen, die wir jetzt vollziehen, sich zu der Wirklichkeit verhalten, die wir als die schlechthin gute anerkennen, kann erst vom Ende der Geschichte her in voller Transparenz beantwortet werden. Deshalb bleibt der Gedanke eines Urteils über die Geschichte von ihrem Ende her – das meint die Vorstellung vom Jüngsten Gericht – aus der Sicht des christlichen Glaubens unaufgebbar. Er ist auch deshalb vonnöten, weil er menschliches Handeln – in Politik, Wirtschaft oder Wissenschaft beispielsweise – davor bewahrt, schon jetzt vorwegnehmen zu wollen, was einem letzten Urteil, also dem Gericht Gottes, vorbehalten ist.

Nach christlichem Verständnis ist jeder Mensch zum Bild Gottes geschaffen; jeder ist durch Christus aus der Macht der Sünde und des Todes befreit; jeder ist zum aufrechten Gang berufen. Darin ist der enge Zusammenhang von Freiheit und Verantwortung begründet, der den christlichen Glauben kennzeichnet. Freiheit im christlichen Verständnis trägt also nicht den Charakter der Indifferenz, in welcher alles gleich möglich erscheint. Christliche Freiheit ist nicht eine Freiheit des anything goes. Es geht um eine Freiheit, die sich in der Verantwortung bewährt, um eine Freiheit also, die zu Bindung und Verbindlichkeit im Stande ist.

Die Verantwortung, von der dabei die Rede ist, erschöpft sich nicht in bloßer Eigenverantwortung. So richtig es ist, dass Menschen im Maß des ihnen Möglichen für ihr eigenes Leben verantwortlich sind, so deutlich ist doch auch das Ziel, um das es dabei geht: dass gerade dadurch Spielraum entsteht und Spielraum bleibt, in welchem Menschen füreinander Verantwortung wahrnehmen können. In aktuellen Begriffen ausgedrückt: Eigenverantwortung ist nicht etwa die Alternative zur Solidarität; sondern Eigenverantwortung wird deshalb im Maß des irgend Möglichen wahrgenommen, damit der Spielraum für solidarisches Handeln erhalten bleibt und sich immer wieder neu entwickeln kann. Freiheit wird also unter ihrem wirklichen Wert gehandelt, wenn damit nicht mehr gemeint ist als eine selbstbezügliche, individualistische Freiheit, in welcher der Einzelne nur sich selber kennt. Junge Menschen entwickeln dafür wieder in wachsendem Maß ein Gespür; viele Umfragen belegen das, in denen junge Erwachsene insbesondere die Verantwortung, die man in Partnerschaft und Familie füreinander wahrnimmt, als die wichtigsten Ziele ihres Lebens hervorheben. 

Der Begriff der Verantwortung verweist in solchen Zusammenhängen auf die Antwortstruktur menschlichen Lebens. Das biblische und christliche Menschenbild ist ganz und gar von dieser Antwortstruktur geprägt. Der Mensch wird als das Gott entsprechende Wesen geschaffen, als der von Gott angeredete und Gott gegenüber zur Antwort fähige Mensch. Wort und Antwort gehören untrennbar zusammen. Deshalb ist auch Gott selbst die letzte Instanz, vor der wir Rechenschaft abzulegen haben über unser Leben. Christus, in dem Gott den Menschen nahe kommt, wird biblisch deshalb auch als Richter gekennzeichnet; viele mittelalterliche Kirchen bringen diesen richtenden Christus übermächtig ins Bild. Wir müssen alle offenbar werden vor dem Richterstuhl Christi. So wird der biblische, endzeitlich getönte Horizont aller Verantwortung beschrieben. 

In einer Szene des Films Sophie Scholl. Die letzten Tage wendet sich Sophie Scholl von der Anklagebank an den Richter, Roland Freisler: Bald werden Sie hier stehen, wo wir jetzt stehen. Damit spricht sie nicht nur die Hoffnung auf den baldigen Untergang der nationalsozialistischen Herrschaft aus; sie drückt auch nicht nur die Erwartung aus, dass Roland Freisler seinen irdischen Richter finden wird. Vielmehr bezeugt sie darin auch ihre Hoffnung auf Gott, vor dem nach christlicher Überzeugung jeder Mensch Rechenschaft ablegen muss.

Aber diese Pflicht zu einer letzten Rechenschaft vor Gott darf nicht von der Rechenschaftspflicht gegenüber den Mitmenschen getrennt werden. Nicht so sehr die Rechtfertigung unserer einzelnen Taten oder auch das Bekenntnis unseres Ungenügens und Versagens sind dabei im Blick. Vielmehr geht es, um einen neutestamentlichen Ausdruck zu verwenden, um die Rechenschaft ... von der Hoffnung, die in euch ist. Anderen mitzuteilen, was dem eigenen Leben Halt verleiht, ja diese Lebenskraft mit anderen zu teilen, ist ein Grundmotiv verantwortlichen Lebens. Dietrich Bonhoeffer und die Mitglieder der Weißen Rose haben das je auf ihre Weise getan. Ich habe bereits die Schlussworte des sechsten Flugblatts zitiert, in denen die Hoffnung auf einen neuen gläubigen Durchbruch von Freiheit und Ehre explizit ausgesprochen wird.

Sophie Scholl und die Mitglieder der Weißen Rose haben mehr als deutlich gezeigt, wie dies aussehen kann: sie fühlten sich verpflichtet und sie verpflichteten sich gegenseitig dazu, gemeinsam gegen den als Unrechtsregime wahrgenommenen NS-Staat vorzugehen. Dadurch stärkten sie sich wechselseitig bei einer Aufgabe, deren Durchführung nicht einfach, sondern gefährlich, ja lebensgefährlich war. Während der Verhöre und der Gerichtsverhandlung zeigte sich dann, dass die wechselseitige Verantwortungsübernahme tragfähig war, dass die Mitglieder dieser Widerstandsgruppe sich auch unter Druck nicht belasteten, dass sie für ihre Ideale und füreinander einstanden.

Vergleichbares gilt für Dietrich Bonhoeffer. Der Gedanke, dass es im menschlichen Leben darauf ankommt, füreinander einzustehen, wird bei ihm im Begriff der Stellvertretung gefasst. Dass Christus Gott bei den Menschen vertritt und für die Menschen vor Gott eintritt, ist die grundlegende Doppelbewegung der Stellvertretung. Ihr entspricht ein Handeln gegenüber dem anderen Menschen, das durch das Dasein für andere geprägt ist. Konsequenzen ergeben sich bis hin zum Bild von der Kirche, die nur dann Kirche ist, wenn sie für andere da ist.

Es ist deshalb gut begründet, dass Hans und Sophie Scholl ebenso wie Dietrich Bonhoeffer in das Buch „Evangelische Märtyrer des 20. Jahrhunderts“ Eingang gefunden haben, um dessen Erarbeitung der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland vor Jahren die Evangelische Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte gebeten hat, die ihre Arbeitsstelle hier an der Universität München hat. Bonhoeffer wie die Geschwister Scholl gehören zu den Menschen, die aus Glauben für die Freiheit und Würde des Menschen eingetreten sind und wegen dieses verantwortlichen Handelns aus christlichen Wurzeln ihr Leben lassen mussten.

IV.

Die Mitglieder der Weißen Rose und Dietrich Bonhoeffer sind vor allem anderen darin miteinander verbunden, dass sie dem Gewaltregime Hitlers aus dem Geist der Freiheit heraus widerstanden. Freiheit meinte für sie allerdings nicht Bindungslosigkeit, sondern Bindung, nicht Beliebigkeit, sondern Verantwortung, nicht Eigensucht, sondern Ehre. Heute stellt sich die Frage, ob eine solche Verknüpfung für unsere Gegenwart eine neue Orientierungskraft entfaltet.

Diese Frage gewinnt an Gewicht, weil der pure Freiheits-Individualismus, der die letzten drei Jahrzehnte in Deutschland weithin geprägt hat, auf eine wachsende Skepsis stößt. Gewiss war der Begriff der Individualisierung, der als Signum dieser Epoche gilt, zunächst diagnostisch gemeint. Je pluraler die Lebensbedingungen werden, desto stärker muss das einzelne Individuum seine Lebensumstände selbst wählen und seine Lebensorientierung selbst finden. Doch dieser Ton der Beschreibung wurde bald normativ verstärkt. Am deutlichsten geschah das durch den Begriff der Eigenverantwortung oder der Selbstverantwortung, der inzwischen sogar zu einem sozialpolitischen Leitbegriff geworden ist. Der Begriff der Freiheit wird dabei so umgedeutet, dass jedem selbst überlassen wird, ob er im Stande ist, für sein Leben die nötige Verantwortung zu übernehmen. Dabei wissen wir alle, dass wir zur Freiheit nur fähig sind, weil zunächst andere sich für uns verantwortlich wussten. Denn das ist die elementare Voraussetzung dafür, dass Menschen ins Leben kommen und aufwachsen können. Heute tritt uns auch wieder verstärkt ins Bewusstsein, dass wir in der Phase des hohen Alters darauf angewiesen sind, dass andere für uns sorgen und sich für uns verantwortlich wissen. Wechselseitige Verantwortung prägt das Leben der Menschen; nur auf ihrer Grundlage kann sich individuelle Freiheit entfalten. Es ist überfällig, ein verbreitetes individualistisches Gesellschaftsbild wieder so zurechtzurücken, dass diese wechselseitige Verantwortung den ihr gebührenden Platz erhält.

Dem muss ein zweiter Gedanke zur Seite treten. Dass Menschen für sich selbst Verantwortung tragen und dadurch auch die Kraft entwickeln können, für andere Verantwortung wahrzunehmen, hat zur Voraussetzung, dass sie faire Möglichkeiten zur Teilnahme an der Gesellschaft haben. Nur wer seine Arbeit einbringen kann, vermag von seiner Arbeit auch zu leben. In einer nach wie vor skandalös hohen Langzeitarbeitslosigkeit meldet sich deshalb ein elementares Gerechtigkeitsproblem, nämlich ein eklatanter Mangel an Beteiligungsgerechtigkeit. Dass dieser Mangel behoben wird, bildet eine unumgängliche Voraussetzung dafür, dass Verantwortung für das eigene Leben wie die Fähigkeit zum Eintreten für andere eine breitere Basis gewinnen.

Schließlich ist auf die neue Suche nach gesellschaftlicher Orientierung und tragfähigen gesellschaftlichen Werten zu verweisen. Verstärkt fragen wir heute, wie Freiheit zur Grundlage einer verantworteten Lebensform werden kann; gerade junge Menschen halten danach Ausschau, wie ihr Leben aus Freiheit eine verbindliche Form annehmen kann; von einer Kultur der Freiheit ist neuerdings die Rede, um diesen Zusammenhang zwischen dem Wert der Freiheit und der Suche nach einer ihr entsprechenden und sie tragenden Lebensform zu beschreiben. Wenn nicht alles täuscht, treten wir im Nachdenken über die Freiheit in eine neue Phase ein. Dabei können die Flugblätter der Freiheit wie die Stationen der Freiheit ein hilfreicher Anstoß sein. 

Die Schauspielerin Julia Jentsch, die großartige Hauptdarstellerin in dem Film über Sophie Scholl, hat in einem Interview darauf hingewiesen, dass der Freiheitssinn der Weißen Rose auch für die heutige Zeit eine Quelle der Inspiration darstellt. Für Julia Jentsch zeigt das Beispiel Sophie Scholls, dass man seine eigenen Ängste und Schwächen auch überwinden  kann – und dass man für seine Stärke kämpfen muss. Julia Jentsch fügt hinzu, dass der Film über Sophie Scholls letzte Tage keineswegs bloß in die Vergangenheit schaue, sondern gerade heute zum verantwortlichen Handeln auffordere. Jentsch nennt beispielhaft die Situation, wenn jemand in der U-Bahn angepöbelt wird, und fordert in diesem Zusammenhang zur Zivilcourage auf.

Die Zivilcourage, wenn jemand in der U-Bahn angepöbelt wird, erscheint nur auf den ersten Blick meilenweit von dem entfernt, was Sophie Scholl 1943 an Mut und Standfestigkeit bewiesen hat. Die unbezweifelbare Tatsache, dass von uns heute weniger Mut erfordert ist, um dem Ungeist von Rassismus und Antisemitismus entgegenzutreten, sollte uns jedoch nicht für die Tatsache blind machen, dass es diesen Ungeist auch heute gibt. Gewiss erforderte die Konfrontation mit dem nationalsozialistischen Unrechtsregime andere Verhaltensweisen als die Auseinandersetzung um die Bewahrung der Bedingungen, die ein freiheitlich-demokratisches Gemeinwesen auszeichnen und möglich machen. Aber auch diese Bedingungen sind nicht selbstverständlich gegeben. Auch heute sind verantwortliches Handeln und Zivilcourage gefordert.

Es hat mich erschreckt, dass der vor zwei Wochen in Sachsen-Anhalt von Neonazis schwer verletzte äthiopische Junge schon zum zweiten Mal Opfer einer solchen Attacke – und zwar von den gleichen Tätern – wurde. In einem Milieu, das derartige rassistische Übergriffe nicht nur duldet, sondern sogar fördert, ist Zivilcourage besonders notwendig, auch wenn sie schwierig ist, nein, gerade weil sie schwierig ist. Ich bin froh darüber, dass man sich in diesem Fall mit einem Bürgerforum und einem runden Tisch der Situation stellt. Die Initiatorin dieser Gegenaktion, eine evangelische Pfarrerin, hat in einem Interview beschrieben, dass die Menschen mehr Zivilcourage zeigen wollen, nazistische Plakate abreißen und, wenn sie beobachten, dass sich Kinder hänseln oder schlagen, das melden. Dies halte ich für verantwortliches Handeln aus christlichen Wurzeln.

Menschen leiten ihre Verantwortung heute aus unterschiedlichen Wurzeln ab. Dazu haben sie ein gutes Recht. Viele verzichten darauf, sich über diese Wurzeln überhaupt Rechenschaft abzulegen. Das ist beunruhigend. Denn die Quellen, aus denen Freiheit und Verantwortung sich speisen, erneuern sich nicht von selbst. Deshalb ist es wichtig, auf solche Quellen immer wieder aufmerksam machen. Die Freiheit der Orientierung wird dadurch nicht eingeschränkt; sondern die Möglichkeit der Orientierung wird eröffnet. Das ist gemeint, wenn für die Europäische Verfassung ein klarer Hinweis auf die Verantwortung vor Gott und den Menschen ebenso vorgeschlagen wird wie ein unmissverständlicher Hinweis auf die jüdisch-christlichen Quellen unserer Kultur. Um diese Möglichkeit verbindlicher Orientierung geht es auch, wenn darum geworben wird, die religiöse und ethische Bildung in der Schule wie auch die Auseinandersetzung mit solchen Fragen in der Universität mit einem stärkeren Gewicht zu versehen. Dem Geist Dietrich Bonhoeffers wie der Geschwister Scholl wäre das gemäß.

Die Flugblätter der Freiheit erinnern daran, dass wir in unserem Leben, in unserer Gesellschaft, aber eben auch an der Universität ethische Maßstäbe für verantwortliches Handeln brauchen, an denen wir uns orientieren können. Oder, mit den Worten des sechsten Flugblatts der Weißen Rose gesagt: Es geht uns um wahre Wissenschaft und echte Geistesfreiheit! […] Es gilt den Kampf jedes einzelnen von uns um unsere Zukunft, unsere Freiheit und Ehre in einem seiner sittlichen Verantwortung bewussten Staatswesen!