"Dietrich Bonhoeffer – ein evangelischer Heiliger" - Eröffnungsvortrag beim Internationalen Bonhoefferkongress in Breslau

Wolfgang Huber

1.

Vor sechs Jahren, rechtzeitig vor der 95. Wiederkehr von Dietrich Bonhoeffers Geburtstag, wandte sich ein mutiger und weitsichtiger Historiker, Klemens Klemperer, an den Heiligen Stuhl mit der Anregung, Dietrich Bonhoeffer selig oder gar heilig zu sprechen. Freundlich war die Antwort aus dem Vatikan; doch sie erklärte zugleich unumwunden, dass dies nicht möglich sei. Auch Bonhoeffer selbst hätte dem widersprochen; aus sich einen Heiligen zu machen, war seine Sache nicht.

Aber der Ökumenische Heiligenkalender führt ihn selbstverständlich unter den Heiligen an  und behauptet, nach evangelischem wie nach anglikanischem Brauch sei ihm der 9. April, der Tag seines Todes, als Gedenktag gewidmet. Christian Feldmann ordnet Dietrich Bonhoeffer in seinem Hausbuch großer Gestalten und Heiligen für jeden Tag ebenfalls – und zwar ökumenisch konkurrenzlos – dem 9. April zu. Ihm folgt am 10. April Pierre Teilhard de Chardin. Am 7. und 8. April gehen ihm Johann Hinrich Wichern und Abraham Lincoln voraus. Eine Reihe von großen Gestalten und Heiligen mit eigener Spannweite ist das. Über dem Westportal von Westminster Abbaye finden wir Dietrich Bonhoeffer als einen unter zehn herausragenden Glaubenszeugen des 20. Jahrhunderts. Dort steht er neben Maximilian Kolbe, Janani Luwum, Martin Luther King, Oscar Romero, Esther John und anderen; 1998 wurden diese Statuen enthüllt.

Die Beispiele ließen sich leicht vermehren. Aber war Bonhoeffer ein Märtyrer, ein Heiliger? Dass er ein Gerechter unter den Völkern sei, hat die Gedenkstätte für die Opfer des Holocaust in Jerusalem, Yad Vashem, seit 1986 kontinuierlich bestritten, vor wenigen Wochen sogar mit höchstrichterlicher Bestätigung.

Als entscheidendes Kriterium gilt nach dem Gesetz des Staates Israel über Yad Vashem, dass jemand sein Leben aufs Spiel gesetzt habe, um Juden zu retten. Bei Diplomaten allerdings genügt es, dass sie gegen die Anweisungen ihrer Regierung verstießen, auch wenn dadurch ihr Leben nicht gefährdet war. Ein Diplomat war Dietrich Bonhoeffer nicht; dieser mildernde Umstand lässt sich für ihn nicht geltend machen. In bestimmten Fällen freilich kann auch der öffentliche Widerspruch gegen die Verfolgung der Juden als Grund dafür gelten, in diese Kategorie aufgenommen zu werden. Bonhoeffer rechnete, wie sein Aufsatz über die Kirche vor der Judenfrage vom April 1933 bezeugt, schon unmittelbar nach dem Beginn des nationalsozialistischen Regimes damit, dass es notwendig sei, um der Rechte der jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger willen nicht nur die Opfer unter dem Rad zu verbinden, sondern dem Rad selbst in die Speichen zu fallen. Aber in der Sprache der Zeit schien er vorauszusetzen, dass es überhaupt so etwas wie eine Judenfrage gab. So legen die Richter von Yad Vashem ihm diese frühe Äußerung eher zum Nachteil aus. Er, der erklärte, nur wer für die Juden schreit, dürfe auch Gregorianisch singen, wird in das Licht der Zweideutigkeit gerückt, was den Umgang des Nazi-Regimes mit dem europäischen Judentum betrifft. Bonhoeffer, von dem man weiß, dass sein Widerstand vor allem durch die Verbrechen gegen die schwächsten und wehrlosesten Brüder (und Schwestern) Jesu Christi motiviert war, soll vor dem Kriterium versagen, ein Gerechter unter den Völkern zu sein.

Die Familie, die Internationale Bonhoeffer-Gesellschaft oder die Herausgeber seiner Werke haben nie eine Anstrengung unternommen, ihn als Gerechten unter den Völkern, als Märtyrer oder gar als Heiligen anerkannt zu finden. Und auch wenn bei der hundertsten Wiederkehr seines Geburtstags die Frage ausdrücklich aufgenommen wird, kann das nicht geschehen, um ihm einen Nimbus theologischer Unangreifbarkeit zu verleihen oder ihn mit der Aura eines großen Widerstandszeugen zu umgeben. Sondern es geschieht, um größere Klarheit in der Würdigung Bonhoeffers wie in den Kategorien christlicher, in diesem Fall insbesondere evangelischer Erinnerungskultur zu gewinnen.

2.

Dietrich Bonhoeffer wollte nie ein Heiliger werden; aber Heiligkeit war ein Grundthema seiner Theologie. Denn die Kirche als Gemeinschaft der Heiligen, als sanctorum communio war nicht nur sein erstes theologisches Thema, dem er als Einundzwanzigjähriger seine Doktorarbeit widmete; dieses Thema war ihm vielmehr bleibend wichtig. In dem Buch, das die theologischen Einsichten der Zeit in Finkenwalde zusammenfasst, in der Nachfolge also, trägt ein ganzes Kapitel die Überschrift Die Heiligen. Heilig ist allein Gott - so heißt der Grundsatz dieses Kapitels. Er allein kann sich deshalb auch ein Heiligtum in dieser Welt schaffen. Gottes Rechtfertigung des Sünders in Jesus Christus ist der Dreh- und Angelpunkt jeder Rede von Heiligkeit. Deshalb hat diese Rede ihren Ort in der Gemeinschaft der Heiligen und zwar als einer sichtbaren Gemeinschaft. Christus als Gemeinde existierend - das ist der einzige Zusammenhang, in dem von der Heiligung und der Heiligkeit des Menschen überhaupt die Rede sein kann. Alles andere ist menschlicher Selbstbetrug. Es ist der trügerische Hochmut und die falsche geistliche Sucht des alten Menschen, der heilig sein will außerhalb der sichtbaren Gemeinde der Brüder. Und noch zugespitzter: Heiligung außerhalb der sichtbaren Gemeinde ist Selbstheiligsprechung.

Und doch hatte Bonhoeffer im späteren Rückblick den Eindruck, sein Buch Nachfolge stehe am Ende eines Weges, auf dem er glauben lernen wollte, indem er selbst so etwas wie ein heiliges Leben zu führen versuchte. Davon nahm er Abschied, als er die tiefe Diesseitigkeit des Glaubens kennen und verstehen lernte. Mehr und mehr sei dies in den letzten Jahren der Fall gewesen, so bekennt er in seinem Brief an Eberhard Bethge vom 21. Juli 1944, vom Tag nach dem Scheitern des Attentats auf Hitler. Die Entgegensetzung von Diesseitigkeit und Heiligkeit wird in diesem – bekannten und häufig zitierten – Brief folgendermaßen erläutert: Nicht ein homo religiosus, sondern ein Mensch schlechthin ist der Christ, wie Jesus ... Mensch war. Nicht die platte und banale Diesseitigkeit der Aufgeklärten, der Betriebsamen, der Bequemen oder der Lasziven, sondern die tiefe Diesseitigkeit, die voller Zucht ist, und in der die Erkenntnis des Todes und der Auferstehung immer gegenwärtig ist, meine ich....

Ich erinnere mich eines Gespräches, das ich vor 13 Jahren in Amerika mit einem französischen jungen Pfarrer hatte. Wir hatten uns ganz einfach die Frage gestellt, was wir mit unserem Leben eigentlich wollten. Da sagte er: ich möchte ein Heiliger werden ( – und ich halte für möglich, dass er es geworden ist – ); das beeindruckte mich damals sehr. Trotzdem widersprach ich ihm und sagte ungefähr: ich möchte glauben lernen. ... Später erfuhr ich und ich erfahre es bis zu Stunde, dass man erst in der vollen Diesseitigkeit des Lebens glauben lernt. Wenn man völlig darauf verzichtet hat, aus sich selbst etwas zu machen – sei es einen Heiligen oder einen bekehrten Sünder oder einen Kirchenmann (eine sogenannte priesterliche Gestalt), einen Gerechten oder einen Ungerechten, einen Kranken oder Gesunden – und dies nenne ich Diesseitigkeit, nämlich in der Fülle der Aufgaben, Fragen, Erfolge und Misserfolge, Erfahrungen und Ratlosigkeiten leben, – dann wirft man sich Gott ganz in die Arme, dann nimmt man nicht mehr die eigenen Leiden, sondern das Leiden Gottes in der Welt ernst, dann wacht man mit Christus in Gethsemane, und ich denke, das ist Glaube, das ist metanoia und so wird man ein Mensch, ein Christ.

Auf seinen ersten Aufenthalt in den USA im Jahr 1930/31 weist Bonhoeffer damit zurück, auf jene Zeit, von der er im Rückblick auch sagen konnte, in ihr sei er noch von einem wahnsinnigen Ehrgeiz bestimmt gewesen – in der Zeit vor jenem Ereignis, das sein Leben verändern, ja umwerfen sollte: der Begegnung mit der Bergpredigt. Es war die große Befreiung, durch die er erfuhr, dass das Leben eines Dieners Jesu Christi der Kirche gehören muss. Es war der Schritt, durch den ihm klar wurde, dass ich eigentlich erst innerlich klar und wirklich aufrichtig sein würde, wenn ich mit der Bergpredigt wirklich anfinge, Ernst zu machen. Es war die Zeit, in der Bonhoeffer die Restauration der Kirche ... aus einer Art neuen Mönchtums erwartete, das mit dem alten nur die Kompromisslosigkeit eines Lebens nach der Bergpredigt in der Nachfolge Christ gemeinsam hat.

Doch über diese Haltung ging Bonhoeffer nach der Finkenwalder Zeit noch einen entscheidenden Schritt hinaus. Er entdeckte Jesus in Gethsemane, die Selbstentäußerung Gottes in die Ohnmacht der Welt, als den Schlüssel zum Verständnis des Glaubens. Er lernte, in der vollen Diesseitigkeit des Lebenszu glauben. Er ließ sich auf das Inkognito des Widerstands ein. Er lernte den Blick von unten. Nun erst verstand er voll, was der damit gemeint hatte, dass er kein Heiliger werden wollte; er wollte glauben lernen.

Albrecht Schönherr, der Schüler Bonhoeffers und langjährige Bischof der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg, einer meiner Vorgänger in diesem wunderbaren Amt, hat also gute Gründe dafür dass er es auf diesem Hintergrund ablehnt, Dietrich Bonhoeffer einen evangelischen Heiligen zu nennen. Er kann dafür Bonhoeffers eigene Äußerungen, ja Bonhoeffers eigenen Lebensweg ins Feld führen.

3.

Doch aus dem zeitlichen Abstand tritt immer deutlicher das Vorbildhafte des Glaubens- und Lebenszeugnisses von Dietrich Bonhoeffer hervor.  Dazu, dies zu würdigen, gibt es auch im evangelischen Bekenntnis starke Gründe. Exemplarisch sind sie im Augsburgischen Bekenntnis von 1530 formuliert, das für den reformatorischen Aufbruch wie für das heutige Selbstverständnis reformatorischer Kirchen von grundlegender Bedeutung ist. In Artikel 21 der Confessio Augustana heißt es: Vom Heiligendienst wird von den Unseren so gelehrt, dass man der Heiligen gedenken soll, damit wir unseren Glauben stärken, wenn wir sehen, wie ihnen Gnade widerfahren und auch wie ihnen durch den Glauben geholfen worden ist; außerdem soll man sich an ihren guten Werken ein Beispiel nehmen, ein jeder in seinem Beruf. ... Aus der Heiligen Schrift kann man aber nicht beweisen, dass man die Heiligen anrufen oder Hilfe bei ihnen suchen soll. „Denn es ist nur ein einziger Versöhner und Mittler gesetzt zwischen Gott und den Menschen, Jesus Christus“ (1. Timotheus 2,5). ... Nach der Heiligen Schrift ist das auch der höchste Gottesdienst, dass man diesen Jesus Christus in allen Nöten und Anliegen von Herzen sucht und anruft. ...

Die Folgerung für einen evangelischen Begriff des Heiligen ist eindeutig. Dass wir in einer Gemeinschaft der Glaubenden leben, schließt den Dank für Vorbilder im Glauben ein. Genau in diesem Sinn lässt sich auch nach evangelischer Auffassung innerhalb der Gemeinschaft der Heiligen von besonders hervorgehobenen Heiligen sprechen. Das Santo subito ist auch dem evangelischen Glauben dort zugänglich, wo jemand für andere in beispielhafter Weise den Glauben vorgelebt und so gezeigt hat, dass ihm Gnade widerfahren ist. Von einem evangelischen Heiligen können wir dort reden, wo Lebenszeugnis und Glaubenskraft in einer Weise verbunden haben, dass dies zum Glauben und zum christlichen Handeln von Christen auch an anderem Ort, zu anderer Zeit und unter anderen Bedingungen ermutigt. Nicht um eine Imitation des Vorbilds geht es dann, sondern um ein Lernen im Glauben und ein Mündigwerden im Handeln. Sich vom Vorbild anderer inspirieren zu lassen, ist, so betrachtet, nicht mit einer Einbuße an Mündigkeit verbunden. Solche Vorbilder im Glauben und Handeln sind Zeugen einer besseren Welt, wie es der Titel eines im Auftrag der Deutschen Bischofskonferenz und der Evangelischen Kirche in Deutschland im Jahr 2000 herausgegebenen Sammelbands über christliche Märtyrer des 20. Jahrhunderts sagt.

Dietrich Bonhoeffer ist einer von ihnen. An Dietrich Bonhoeffer beeindruckt viele der innere Zusammenhang zwischen Lebensgeschichte und Theologie: die Verbindung zwischen einem Lebenslauf, der ihn zu einem Glaubenszeugen in einem besonderen Sinne des Wortes gemacht hat, und einem theologischen Werk, das auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts noch sehr viel an Anregungspotenzial und Orientierungskraft enthält. Auch in Zukunft werden sich sein Glaubenszeugnis und seine theologische Inspiration als Quelle der Ermutigung und als Herausforderung zu eigenem Denken und Handeln erweisen.

Um dies näher zu verstehen, knüpfen wir noch einmal an das Selbstzeugnis an, das davon spricht, dass Bonhoeffer im Jahr 1932, im Alter von 26 Jahren also, die Bergpredigt in ihrer klaren Verpflichtung zu Frieden und Gerechtigkeit entdeckt habe wie nie zuvor. Diese Begegnung machte ihn, wie er in selbstkritischer Abgrenzung gegenüber vorausliegenden Phasen seines Lebens sagte, zum Christen. Und sie gab zugleich seiner ethischen Haltung eine Klarheit, die sich zwar schon angebahnt, aber noch nicht im Letzten durchgesetzt hatte. Die Verpflichtung auf Frieden und Gerechtigkeit wurde nun zum bestimmenden Grundmotiv.

Daraus zog Bonhoeffer auch persönlich Konsequenzen. Schon sein frühes ökumenisches Engagement im Weltbund für Freundschaftsarbeit der Kirchen wie in der Bewegung für Praktisches Christentum war von diesem Impuls geprägt. In der Nazizeit verzichtete er auf eine akademische Karriere, übernahm zunächst eine Auslandspfarrstelle in London und übernahm dann die Ausbildung künftiger Pfarrer der Bekennenden Kirche. Er sprach sich so deutlich gegen die Rechtsbeugung des Nazi-Regimes aus, dass ein Schreibverbot die Folge war. In der Gewissheit, dass er den Kriegsdienst in Hitlers Armee verweigern würde, ließ er sich unmittelbar vor Beginn des Zweiten Weltkriegs zu einem Gastaufenthalt am Union Theological Seminary in New York einladen. In den USA, wo er hätte bleiben können, hielt er es nicht aus; denn er wollte Verantwortung für die Zukunft Deutschlands nach dem Ende der Diktatur wahrnehmen – und dazu musste er in das Land des Diktators zurückkehren. Bonhoeffer verband ein weites ökumenisches Engagement mit einem sehr persönlichen Einsatz für Deutschland. Der Schritt in den Widerstand war unausweichlich. Er aber führte in die Haft und in den frühen Tod.

Verantwortung und Stellvertretung – das waren schon früh die Themen von Bonhoeffers Leben und seiner Theologie. So sehr ließ Bonhoeffer sich von diesen Themen bestimmen, dass er das Dasein für andere zum prägenden Begriff der Ethik und die Kirche für andere zum prägenden Begriff der Lehre von der Kirche werden ließ. In seiner Zeit im Finkenwalder Predigerseminar entwickelte und praktizierte er eine Spiritualität des Gemeinsamen Lebens. Seine eigene religiöse Praxis machte ihn für die notwendige Kritik an der Religion so sensibel, dass er sogar von einem Übergang in eine religionslose Zeit sprach und nach den Möglichkeiten eines religionslosen Christentums fragte.

In den theologischen Briefen aus dem Gefängnis in Tegel aus dem Jahr 1944 knüpft Bonhoeffer an die Zeit in Finkenwalde an. Dass das Sein in Christus von Paulus als eine neue Schöpfung bezeichnet wird, heißt für Bonhoeffer, dass in Christus nicht eine neue Religion gestiftet, sondern ein Stück Welt neu geschaffen wird. Dieser ist durch das Teilnehmen am Leiden Gottes im weltlichen Leben geprägt. Ein Glaube ist dies, der in der Welt gelebt wird und sich auf die Weltlichkeit der Welt einlässt. Nicht der religiöse Akt macht den Christen, sondern das Teilnehmen am Leiden Gottes im weltlichen Leben. In einer Theologie des Karfreitags hat seine These vom Ende der Religion ihren tiefsten Grund. Wenn man sie so versteht, behält sie auch heute einen guten Sinn – auch dann, wenn wir dafür Bonhoeffers Sprache nicht verwenden. Worum es Bonhoeffer geht, ist eine Gestalt des christlichen Glaubens, die mit der Mündigkeit des modernen Menschen vereinbar ist. Er will einer Form der christlichen Religion den Abschied geben, die darauf angewiesen ist, die Schwächen der Menschen auszunutzen, statt ihnen in der Situation des Leidens beizustehen. Er will eine Gestalt des christlichen Glaubens fördern, die den Menschen in seinen Stärken wahrnimmt und ihm deshalb auch dann nahe ist, wenn er an seine äußerste Grenze kommt. Dafür sucht Dietrich Bonhoeffer nach einer neuen Sprache; das meint er, wenn er von einer nichtreligiösen Interpretation ihrer biblischen Grundbegriffe spricht.

Diese Sprache findet Bonhoeffer, indem er an die Seite des leidenden Christus tritt. Er findet sie, indem er sich von der Treue zur Erde leiten lässt, deretwegen ihm das Alte Testament so wichtig, ja unverzichtbar ist. Aus Treue zur Erde freut er sich an den Schönheiten des Lebens, an Landschaften wie an der Musik; ja rückblickend bekennt er, dass die Sonne Mexikos ihn beinahe zum Sonnenanbeter gemacht habe. Aus Treue zur Erde ist er seinen Nächsten nahe und ein treuer Freund seiner Freunde. Aus Treue zur Erde erfüllt ihn das späte Glück der Verlobung mit Maria von Wedemeyer mit einer Sehnsucht, die das Lesen seiner Briefe – wie ihrer Antwortbriefe – immer wieder zu einer ergreifenden Erfahrung macht. Dass man in dieser Zuwendung zum Irdischen ein Heiliger sein kann, verdeutlicht eine Szene, mit der ich schließen will: Auf der Fahrt von Buchenwald nach Flossenbürg, die seine letzte Fahrt werden sollte, teilte Bonhoeffer den Raum in dem engen, unförmigen, durch einen Holzvergaser angetriebenen Kastenwagen, in dem die ihrer Freiheit Beraubten zusammengepfercht waren, unter anderem mit dem Engländer Payne Best. Best war ein starker Raucher; er berichtet, in dieser Situation habe Bonhoeffer, der selbst, wie man weiß, auch ein passionierter Raucher war, in einer seiner Taschen einen kleinen Tabakvorrat entdeckt. Bonhoeffer habe darauf bestanden, diesen knappen Vorrat mit allen anderen zu teilen. Best schließt: Er war eben ein guter Mensch und hatte etwas von einem Heiligen. Wenn man das schon zu Bonhoeffers Lebzeiten merken konnte, haben wir keinen Grund, es zu verschweigen. Allen Grund haben wir stattdessen, für das Leben und Wirken dieses evangelischen Heiligen zu danken, der vor einhundert Jahren in Breslau geboren wurde.