Plenum „Wirtschaftliche Gerechtigkeit“ - Einführung: Die Zeichen der Zeit - 9. Vollversammlung des ÖRK in Porto Alegre

Wolfgang Huber

In Peshawar, einer Stadt in Pakistan, demonstrierten in diesen Tagen siebzigtausend Menschen gegen Karikaturen, die in Kopenhagen veröffentlicht wurden. Dort brennt das Büro eines norwegischen Mobilfunkunternehmens, um der Empörung gegen eine dänische Zeitung Ausdruck zu geben. Das sind erschreckende Zeichen für die globale Wirklichkeit, in der wir leben. Ebenfalls in Pakistan wurden zur Fußballweltmeisterschaft in Deutschland mehr als elftausend Bälle hergestellt, die im Auftrag unserer Kirche fair gehandelt werden; einige dieser Bälle haben auch ihren Weg nach Porto Alegre gefunden. Auch das ist ein Zeichen für die globale Wirklichkeit, in der wir leben. Inwiefern fordert uns die Globalisierung unserer Welt dazu heraus, unser Handeln auf neue Weise am Maßstab der Gerechtigkeit auszurichten? Dieser Frage sind meine einleitenden Überlegungen gewidmet.

Die Globalisierung hat viele Gesichter. Zu ihnen gehört, dass Hass weltweit organisiert und verbreitet werden kann. Zu ihnen gehört aber auch, dass innerhalb weniger Stunden eine weltweite Hilfsaktion für die Opfer des Tsunami rund um den Indischen Ozean aufgebaut wurde. Zu diesen Gesichtern gehört, dass Wirtschaftsbeziehungen Wohlstand fördern und Menschen eine auskömmliche Arbeit ermöglichen. Zu ihnen gehört aber auch, dass wirtschaftliche Macht egoistisch eingesetzt und dadurch wirtschaftliche Gerechtigkeit verhindert wird. Wer die Zeichen der Zeit deuten will, muss beide Seiten sehen: die Chancen wie die Gefahren der gegenwärtigen Weltentwicklung.

Wir leben in einer Zeit, in der die Weltwirtschaft insgesamt wächst, was in einigen Teilen der Welt auch zu einer Verbesserung des Lebensstandards, zu einer Erhöhung der Lebenserwartung und zu einer Steigerung des Bildungsniveaus führt. Zugleich aber setzt sich die krasse und menschenunwürdige Armut von über einer Milliarde Menschen weiter fort; in vielen Teilen der Erde wächst die soziale Ungleichheit, wie die Vereinten Nationen in ihrem Weltsozialbericht deutlich gemacht haben. Die natürlichen Lebensgrundlagen werden in einer Weise ausgebeutet, die den elementaren Geboten der Nachhaltigkeit widerspricht. Die wachsende Armut in vielen Teilen unserer Welt ist für jeden Christen ein Skandal. Für uns in Europa sind Afrika und Osteuropa zwei Beispiele dafür, die uns besonders herausfordern. Unsere Vollversammlung lenkt die Aufmerksamkeit auf die wachsende Armut in Lateinamerika. Dieser Skandal muss uns umso mehr aufrütteln, als wir, wie noch keine Generation vor uns, die Möglichkeit dazu haben, strukturelle Armut zu überwinden und die Welt gerechter zu gestalten.

In Fragen der wirtschaftlichen Gerechtigkeit ist der christliche Glaube nicht neutral. Er fügt sich nicht einem Allmachtsanspruch der Ökonomie; denn er bekennt sich zu Christus als dem einen Herrn der Welt. Er überlässt das wirtschaftliche Handeln nicht seinen eigenen Gesetzen; denn er richtet sich an Gottes Gebot aus. Menschenwürde, Menschenrechte und soziale Gerechtigkeit sind die elementaren Werte, an denen wirtschaftliches Handeln heute und morgen zu messen ist. Die Globalisierung unserer Welt prüfen wir als Christen an der Frage, ob sie ein menschenwürdiges Leben fördert, der menschlichen Freiheit dient und kulturelle Vielfalt ermöglicht. Deshalb benennen wir die Ungerechtigkeiten, die mit gegenwärtigen wirtschaftlichen Machtverhältnissen verbunden sind.

Eine Globalisierung, die diesen Namen verdient, schließt alle ein und spaltet die Menschheit nicht in Gewinner und Verlierer, in Reiche und Arme. Dafür setzen wir uns als eine weltweite Gemeinschaft von Kirchen ein, die durch das eine Gebet Jesu verbunden ist, durch das Gebet, das die Bitte um das tägliche Brot für alle einschließt. Wir sind im Ökumenischen Rat der Kirchen nicht ein global player, sondern ein global prayer. Aus der Kraft des Gebets arbeiten wir für wirtschaftliche Strukturen, die allen zu Gute kommen.

Viele Christen haben in den letzten Tagen an Dietrich Bonhoeffer gedacht, den Theologen der Bekennenden Kirche in Deutschland, der uns als Christen dazu ermutigt hat, zu beten, das Gerechte zu tun und auf Gottes Zeit zu warten. Vor wenigen Tagen, am 4. Februar, hat sich der Geburtstag Dietrich Bonhoeffers zum hundertsten Mal gejährt. Die entscheidende Erfahrung, die ihn, wie er selbst bekannte, zum Christen gemacht hat, war die Begegnung mit der Bergpredigt. Die Folgerung daraus beschreibt er in einem Brief so: „Es gibt doch nun einmal Dinge, für die es sich lohnt kompromisslos einzustehen. Und mir scheint, der Friede und soziale Gerechtigkeit, oder eigentlich Christus, sei so etwas.“

Im Horizont dieser Verpflichtung ist die Wirtschaft nur ein Teil des Lebens, nicht das Ganze. Die Diskussion über Fragen der Globalisierung darf nicht allein auf die wirtschaftlichen Aspekte beschränkt werden. Wir dürfen uns als Christen und als Vertreter der Kirchen nicht der Ökonomisierung des Denkens ausliefern, die sich um uns her ausbreitet. Wirtschaftliche Entscheidungen erzeugen keine ethischen Werte; Solidarität kann nicht durch den Markt entstehen. Wirtschaftliche Gerechtigkeit ist überhaupt nur dann möglich, wenn die Zivilgesellschaft ihre eigenständige Bedeutung behält und neue Kraft entwickelt. Sie kann sich nur entfalten, wenn der Staat die Bedingungen für menschliche Solidarität fördert und den Schwächeren beisteht. Geeignete politische Rahmenbedingungen sind nötig, damit sozialer Ausgleich geschaffen und der Zusammenhalt in der Gesellschaft gefördert wird.

Seit der Vollversammlung in Harare hat die ökumenische Bewegung den Prozess der Globalisierung intensiv diskutiert. Das geschah unter dem Leitwort der Agape, unter dem Leitwort der Liebe zum Nächsten. Jetzt warten viele darauf, dass wir über die Proklamationen hinauskommen und alternative Handlungsmöglichkeiten aufzeigen. Die Leitfrage muss dabei sein, wie die biblische Option für die Armen und wirtschaftlicher Sachverstand sinnvoll aufeinander bezogen werden können. Vor allem junge Menschen, auch die jungen Teilnehmerinnen und Teilnehmer dieser Vollversammlung, drängen darauf, dass alternative Handlungsmöglichkeiten entwickelt werden, die umsetzbar sind und in der weltweiten Debatte Gehör finden. Auch Christen, die selbst wirtschaftliche Verantwortung tragen oder in internationalen Institutionen arbeiten, hoffen in dieser Hinsicht auf die Stimme ihrer Kirchen. Denn sie wollen sich beteiligen an einer Globalisierung der Gerechtigkeit und der Solidarität. Mein Wunsch ist, dass der heutige Nachmittag diesem Ziel dient.

Gibt es eine Agape-Ökonomie, eine Ökonomie der Liebe? So soll heute Nachmittag gefragt werden. Aus der Sicht einer Theologin und eines Ökonomen werden wir Überlegungen dazu hören. Der theologische Beitrag wird den ersten Teil, der ökonomische Beitrag wird den letzten Teil unserer Sitzung bestimmen. Dazwischen werden wir drei Beispiele für alternatives Handeln in unseren Kirchen hören. Am Ende unserer Plenumssitzung steht der Agape-Aufruf, der einen Anstoß zu weiterem Denken und Handeln geben soll. Aber zunächst zeigt uns ein Video, wie die ökumenische Bewegung sich in ihrer Geschichte mit Fragen der wirtschaftlichen Gerechtigkeit beschäftigt und welche Antworten sie gefunden hat.