"Bilden als Beruf – Lehrer sein in evangelischer Perspektive" - Vortrag auf dem Tag der Lehrerinnen und Lehrer in der Evangelischen Kirche von Westfalen

Wolfgang Huber

I.

„Bilden als Beruf“   damit verbinden sich für jeden und jede von Ihnen sehr unterschiedliche Assoziationen, Erfahrungen und Haltungen. Die Internet-Suchmaschine „Google“ findet bei einer Eingabe des Stichwortes „Lehrerbildung“ immerhin über 2,2 Millionen Verweise. Aber trotz der Fülle: scheinbar ist klar, was mit Lehrersein und Lehrerbildung gemeint ist. Die Kultusministerkonferenz hat im Jahr 2004 Standards für die Lehrerbildung verabschiedet, in denen sie die folgenden, von der Kultusministerkonferenz und den Lehrerverbänden gemeinsam formulierten Ziele aufgreift:

1. Lehrerinnen und Lehrer sind Fachleute für das Lehren und Lernen. Ihre Kernaufgabe ist die gezielte und nach wissenschaftlichen Erkenntnissen gestaltete Planung, Organisation und Reflexion von Lehr- und Lernprozessen sowie ihre individuelle Bewertung und systemische Evaluation. Die berufliche Qualität von Lehrkräften entscheidet sich an der Qualität ihres Unterrichts.

2. Lehrerinnen und Lehrer sind sich bewusst, dass die Erziehungsaufgabe in der Schule eng mit dem Unterricht und dem Schulleben verknüpft ist. Dies gelingt umso besser, je enger die Zusammenarbeit mit den Eltern gestaltet wird. Beide Seiten müssen sich verständigen und gemeinsam bereit sein, konstruktive Lösungen zu finden, wenn es zu Erziehungsproblemen kommt oder Lernprozesse misslingen.

3. Lehrerinnen und Lehrer üben ihre Beurteilungs- und Beratungsaufgabe im Unterricht und bei der Vergabe von Berechtigungen für Ausbildungs- und Berufswege kompetent, gerecht und verantwortungsbewusst aus. Dafür sind hohe pädagogisch-psychologische und diagnostische Kompetenzen von Lehrkräften erforderlich.

4. Lehrerinnen und Lehrer entwickeln ihre Kompetenzen ständig weiter und nutzen wie in anderen Berufen auch Fort- und Weiterbildungsangebote, um die neuen Entwicklungen und wissenschaftlichen Erkenntnisse in ihrer beruflichen Tätigkeit zu berücksichtigen. Darüber hinaus sollen Lehrerinnen und Lehrer Kontakte zu außerschulischen Institutionen sowie zur Arbeitswelt generell pflegen.

5. Lehrerinnen und Lehrer beteiligen sich an der Schulentwicklung, an der Gestaltung einer lernförderlichen Schulkultur und eines motivierenden Schulklimas. Hierzu gehört auch die Bereitschaft zur Mitwirkung an internen und externen Evaluationen.

Diese Punkte beschreiben einen sehr weiten Horizont gelingenden Lehrer-Seins und beruflicher Professionalität. Der Alltag von Lehrkräften sieht dagegen oft anders aus: Durch das schlechte Abschneiden bei internationalen Vergleichsstudien lastet auf Schule und Lehrern ein immenser öffentlicher und politischer Druck. Reformen im Schuljahrestakt verändern die Arbeitsbedingungen tiefgreifend. Einerseits werden Stundenzahlen und Klassengrößen erhöht, Aufgaben durch Schul-, Unterrichts-, und Programmentwicklung erweitert und Lehrkräfte auf differenzierte Fördermaßnahmen und Vergleichsarbeiten, Evaluation und Kontrolle verpflichtet. Andererseits werden finanzielle Ressourcen vermindert und Gehälter gekürzt.

Die Karikatur des Lehrerberufs als des am besten bezahlten Halbtagsjobs der Republik sollte schon lange überholt sein, im Bild der Lehrer in der Öffentlichkeit ist sie nicht selten noch virulent. Lehrerhasser machen sie zur Projektionsfläche eigener Aggressionen. Das könnte vielleicht durchaus auch Anlass für einen Karikaturenstreit sein, der dann freilich ganz anders durchzufechten wäre als der Karikaturenstreit, den wir gegenwärtig erleben. Vielleicht liegt auch in einem verbreiteten Mangel an Anerkennung und Wertschätzung für den Beruf der Lehrerin und des Lehrers einer der Gründe für das mäßige deutsche Abschneiden bei den PISA-Untersuchungen. Im PISA-Wunderland Finnland beispielsweise verfügt der Lehrerberuf über höchste gesellschaftliche Anerkennung. Demgemäß sind es oft die Besten und Fähigsten eines Jahrgangs, die Lehrer werden.

Neben den Schwierigkeiten, die sich aus einen Mangel an gesellschaftlicher Achtung und Unterstützung dieses Berufs ergeben, stehen die Lehrkräfte vor großen pädagogischen Herausforderungen, von denen ich einige nennen will.

- Lernverhalten und Lernbedingungen der Schülerinnen und Schüler verändern sich, vor allem unter dem Einfluss von Medien und neuen Technologien.

- Das Sozialverhalten der Schülerinnen und Schüler ist im Umbruch. Zu nennen sind beispielsweise Defizite in der Bereitschaft und Fähigkeit zu Kommunikation und Verständigung sowie mangelnde Toleranzbereitschaft und fehlende Umgangsformen.

- Viele Kinder und Jugendliche erleben Krisen, die durch familiäre Umbrüche verursacht sind.

- Gesamtgesellschaftliche Modernisierungs- und Globalisierungsprozesse wirken sich verunsichernd auf Orientierung und Verhalten Jugendlicher aus; das verbindet sich oft mit einem Rückgang der Anstrengungsbereitschaft, weil Jugendliche daran zweifeln, dass diese Anstrengung für irgend etwas nütze ist.

- Verschärfte wirtschaftliche und gesellschaftliche Ausleseprozesse vermindern die künftigen beruflichen Chancen vieler Kinder und Jugendlicher und begünstigen konkurrenzorientierte Verhaltensweisen.

Auf dem Hintergrund der geschilderten Bedingungen ist es verständlich, dass ein Aktionsplakat der Arbeitsgemeinschaft Evangelischer Erzieher in Deutschland große Resonanz fand, auf dem es heißt:

Als Lehrer, als Lehrerin möchte ich eigentlich:

- jedem einzelnen Schüler helfen   und muss ihn doch wie ein Achtundzwanzigstel Klasse behandeln,

- Freude an der Arbeit in der Schule haben   und empfinde sie so häufig als Last,

- den Schülern wirklich Partner sein   und muss doch laufend die Autorität herausspielen,

- jeden Schüler ermutigen, bestärken, loben   und kritisiere, schimpfe, drohe, strafe jeden Tag,

- Zeit haben für die Schüler, für ihre Probleme, Hoffnungen, Wünsche   und lasse mich doch von meinen Stoffplänen hetzen,

- gerade die schwächeren Schüler fördern   und finde mich damit ab, dass sie schwach begabt sind,

- von Kollegen lernen   und bin froh, wenn sie aus meinem Unterricht bleiben,

- meine Disziplinprobleme mit den Kollegen besprechen   und fürchte ihr Urteil,

- die ganze Schule pädagogisch auf den Kopf stellen   und resigniere vor Klassenstärken, Zensuren, Erlassen,

- politisch mithelfen die Schule schülergerechter zu machen   und zögere vor jedem vollen Engagement,

- Erfolge sehen, durch sie Bestätigung, Lob erfahren   und spüre laufend Misserfolge, Versagen, Scheitern,

- mit den Eltern eng zusammenarbeiten   und habe doch Angst vor deren Überheblichkeit, Gleichgültigkeit, Verallgemeinerung, Besserwisser-Ratschlägen, Anspruch, Überforderung, vor meiner Angst vor ihnen.

In der Spannung zwischen geforderten Rahmenbedingungen und dem kritischen Blick auf die tatsächlichen, gesellschaftlichen wie persönlichen Möglichkeiten suchen wir eine evangelische Perspektive auf das Lehrer-Sein unter der Überschrift: Bilden als Beruf.

II.

Wenn wir im emphatischen Sinn von einem Beruf sprechen, dann reden wir von einer Schlüsselaufgabe, die sich einer Gesellschaft im Ganzen stellt. Politik beispielsweise ist ein Beruf nicht so sehr der Politiker, sondern der ganzen Gesellschaft. Erst von hier aus treten die besonderen Aufgaben derer in den Blick, die Politik zu ihrem Beruf machen. So haben wir es 1985 in der Demokratie-Denkschrift der EKD formuliert und im vergangenen Jahr bekräftigt. Recht ist ein Lebenselement der ganzen Gesellschaft. Deshalb gehört die Verantwortung für das Recht ebenso zu den gesellschaftlichen Schlüsselaufgaben wie diejenige für Gesundheit. Die Verkündigung des Evangeliums ist das Anliegen der ganzen christlichen Kirche; wegen dieses ihres gemeinsamen Berufs legt sie sich fest auf den Schlüsselberuf der Pfarrerin und des Pfarrers.

Bilden ist in einem ganz herausgehobenen Sinn ein Beruf der ganzen Gesellschaft. Eine Gesellschaft, deren Bildungsprozesse verkümmern, verkümmert selbst. Eine Gesellschaft, die vergisst, dass die professionellen Bildungsberufe stellvertretend für sie im Ganzen wahrgenommen werden, ist eine selbstvergessene Gesellschaft. Eine Gesellschaft, die meint, sie könne sich ihren eigenen Bildungsaufgaben durch Delegation auf die Lehrerinnen und Lehrer entledigen, genügt den Minimalbedingungen einer verantwortlichen Gesellschaft nicht.

Die Evangelische Kirche setzt sich dafür ein, dass Bildung als gesellschaftliches Schlüsselthema wieder ernst genommen wird. Dabei leiten uns fünf entscheidende Grundannahmen:

1) Wir gehen von einem subjektorientierten Bildungsverständnis aus. Menschen sind Subjekte ihres Bildungsprozesses, nicht nur Objekte der Bildungsanstrengungen anderer.

2) Wir gehen von einem ganzheitlichen Bildungsverständnis aus: Orientierungswissen ist so wichtig wie Verfügungswissen, Glaubenswissen braucht in allen Bildungsvorgängen seinen Ort.

3) Wir gehen von der Vorstellung lebenslangen Lernens aus. Bildung prägt die menschliche Biographie im Ganzen.

4) Wir gehen von einem gerechtigkeitsorientieren Ansatz von Bildung aus. Wir finden uns nicht damit ab, dass Bildungsferne sich vererbt. Dieser Ansatz prägt unser Engagement in den eigenen kirchlichen Bildungseinrichtungen ebenso wie unser Engagement im staatlichen Bildungswesen.

5) Wir orientieren uns am Leitbild einer gottoffenen Humanität. Der Sinn für die unantastbare Würde des Menschen und der Sinn für die Wirklichkeit Gottes gehören in unserem Verständnis zusammen. Verwurzelung in einer geklärten religiösen Identität und Dialogkultur sind uns deshalb in gleicher Weise wichtig. Das prägt unser Engagement für den Religionsunterricht wie für das pädagogische Klima im Ganzen in gleicher Weise.

Beides ist in gleicher Weise notwendig. Ohne Zweifel ist gegenwärtig das Engagement für den Religionsunterricht in ganz besonderer Weise gefordert. Ich kenne kein Unterrichtsfach, an das gegenwärtig vergleichbar hohe Erwartungen gestellt würden. Das gilt im Blick auf die Identifikation der Lehrenden mit dem Fach und seinen Inhalten, von der stets zu erneuernden Motivation der Schülerinnen und Schüler, das Fach aus freien Stücken zu bejahen, wie der Eltern, den Besuch des Faches durch ihre Kinder zu unterstützen. Es gilt für den Dialog der Religionslehrerinnen und Religionslehrer mit ihren Kolleginnen und Kollegen, die nicht selten dem Religionsunterricht mit großen Reserven gegenüberstehen, aber zugleich von den Religionslehrerinnen und Religionslehrern Auskunft erwarten, sobald sie ihrer eigenen Unkenntnis in elementaren Fragen des Glaubenswissens und der religiösen Bildung ansichtig werden. Ein nicht unwichtiger Teil des Religionsunterrichts spielt sich heute in den Lehrerzimmern statt.

Religion ist ein Großthema des 21. Jahrhunderts. Die Vorstellung, dass religiöse Fragen an Bedeutung verlieren und deshalb auch an der Schule unwichtig werden, hat sich binnen weniger Jahre als unzutreffend erwiesen. Der Gedanke, dass gesellschaftliche Modernisierung automatisch zur Säkularisierung der Gesellschaft und damit zum Verschwinden religiöser Fragen führe, führt in die Irre. Dementsprechend wächst die Bedeutung des Religionsunterrichts an den Schulen.

Es ist deshalb verfehlt, wenn man auf die heutige Situation mit der Einführung eines Einheitsfachs Ethik für alle Schülerinnen und Schüler meint reagieren zu sollen. In Berlin, so dergleichen für die Sekundarstufe I – also im Berliner Fall von der Jahrgangsstufe 7 an geplant wird – , muss man als Folge eine weitgehende Verdrängung des Religionsunterrichts aus diesem Bereich befürchten. Angesichts der Verdichtung des Unterrichts und der Erhöhung der Pflichtstundenzahl in diesen Jahrgangsstufen wird man von einer zusätzlichen Wahl des Religionsunterrichts (der nicht als ordentliches Unterrichtsfach gilt) kaum ausgehen können. Dabei wird der Ethikunterricht, der allen Religionen und Weltanschauungen gegenüber neutral sein soll, die Erwartung, dass Schüler in der Auseinandersetzung mit einer Lehrerpersönlichkeit eine eigene Position entwickeln können, nicht erfüllen können. Er wird eher an eine Art des Musikunterrichts erinnern, in dem der Lehrerin oder dem Lehrer untersagt ist, ein bestimmtes Instrument zu spielen, damit die Gleichberechtigung aller Instrumente nicht in Frage gestellt wird.

Für ein umfassendes Verständnis von Bildung – unter Einschluss eines guten Religionsunterrichts und bei bewusster Pflege der Dialogkultur zwischen unterschiedlichen religiösen und weltanschaulichen Positionen – sollte sich in meinem Verständnis die Gesellschaft im Ganzen engagieren. Sie muss insgesamt ein Interesse daran haben, dass Bildung nicht auf Ausbildung reduziert, sondern ganzheitlich wahrgenommen wird. Sie sollte im Ganzen die Forderung, dass junge Menschen auf gesellschaftliche und arbeitsweltorientierte Anforderungen vorbereitet werden, mit dem Widerstand dagegen verbinden, dass Bildung im Ganzen verzweckt und ökonomisiert wird. Wie brauchen in unserer Gesellschaft insgesamt einen neuen Bildungsdiskurs.

Der besondere Beruf der Lehrerin und des Lehrers hat in diesem Rahmen seien Ort. Der Begriff des Berufs ist ja eine reformatorische Prägung. Luther hat darauf beharrt, dass nicht nur diejenigen von Gott in ihren Stand berufen sind, die ein besonders heiligmäßiges Leben führen, die Mönche und Nonnen also. Sondern jeder Mensch führt sein Leben vor Gott. Jeder ist dazu berufen, einem besonderen Auftrag Gottes zu entsprechen und darin eine Aufgabe wahrzunehmen, die dem Nächsten zu Gute kommt. Göttlicher Auftrag und Liebe zum Nächsten bestimmen die Wahrnehmung jeder Tätigkeit, von der Stallmagd bis zum Fürsten, wie Luther sagen kann. Ehrenamtliche Tätigkeit und Familienarbeit sind in diesen Blick auf den Beruf gleichberechtigt einbezogen.

Die stellvertretende Wahrnehmung einer gesellschaftlichen Schlüsselaufgabe und die Orientierung am Auftrag Gottes wie an der Liebe zum Nächsten – das sind also die beiden Grundzüge am Begriff des Berufs, der Profession, wie sie uns bisher entgegengetreten sind. Gesellschaftliche Anerkennung, persönliche Professionalität und Einsatzbereitschaft sowie die angemessene und faire Ausgestaltung und Ausstattung des Berufs – das sind die Folgerungen, die sich aus einem solchen Ansatz ergeben. Diese Gesichtspunkte sollen im Blick bleiben, wenn ich mich vertiefend Überlegungen zur Profession der Lehrerin und des Lehrers in evangelischer Perspektive zuwende. Dabei orientiere ich mich an dem Leitwort für den heutigen Tag, das vollständig so heißt: Der Herr ist der Geist; wo aber der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit. Ich tue das umso lieber, als es sich dabei um ein persönliches Leitwort von mir handelt. Immerhin wurde es meiner Frau - die übrigens Lehrerin ist - und mir vor vierzig Jahren als Trauspruch mit auf den Weg gegeben. Das prägt, wie alle wissen, die Vergleichbares erlebt haben. Deshalb muss ich mich wohl auch heute trauen, mich an dieses Wort zu halten.

1. Lehrerinnen und Lehrer brauchen Freiheit und fördern Freiheit.

Das evangelische Bildungs- und Erziehungsverständnis ist vom Gedanken der Freiheit geprägt. Das hat die EKD-Synode in Berlin-Weissensee in ihrem legendären Wort zur Schulfrage 1958, vor bald einem halben Jahrhundert also, erklärt. Sie hat sich auf die Freiheit berufen, zu der allein Christus befreit, und sich zu einem freien Dienst an einer freien Schule bereit erklärt.

Das sind starke Worte. Denn man darf nicht vergessen: Das war eine Zeit, in der in den Schulen die Prügelstrafe noch an der Tagesordnung war und in vielen Heimen und Erziehungsanstalten – auch in evangelischer Trägerschaft – eine erschreckende Unfreiheit herrschte. Erst jetzt finden etliche Betroffene den Mut und die Kraft, über das dort Erlittene zu sprechen. Es erfüllt uns mit Scham, was dabei zutage tritt. Aber wir dürfen uns davor nicht verschließen; denn wenn dieses Unrecht nicht beim Namen genannt wird, wird die Würde der betroffenen Menschen heute genauso verletzt wie damals. Das Wort der evangelischen Kirche zur Schulfrage atmet einen anderen Geist. Es stellt eine Absage an alle geschlossenen, totalitären und weltanschaulich-religiös überhöhten Bildungs- und Erziehungskonzepte dar – auch an alle modernen Zwänge funktionaler Verwertbarkeit von Bildungsleistungen.

Dieser Ansatz reicht bis in die Zeit der Bekennenden Kirche zurück. Allerdings muss man sich auch deutlich machen, welches Verständnis von Freiheit dabei im Blick war. Exemplarisch kann man sich das an Überlegungen Dietrich Bonhoeffers verdeutlichen, dessen einhundertsten Geburtstag wir vor einem Monat begangen haben. Das Leitbild, das er entwirft, ist durch verantwortete und verantwortliche Freiheit geprägt. Ein anderes Verständnis von Freiheit ist also leitend als dasjenige, das in den letzten Jahrzehnten unter der Vorherrschaft individualistischer Kategorien entworfen worden ist. Freiheit wird in diesem Leitbild niemals als nur je eigene Freiheit verstanden. Vielmehr muss gefragt werden, ob der Gebrauch der eigenen Freiheit auch gegenüber dem anderen verantwortet werden kann. Auf seine Freiheit Rücksicht zu nehmen, gilt nicht als Einschränkung der eigenen Freiheit, sondern als deren angemessener, nämlich verantwortlicher Gebrauch. Eines der Beispiele Dietrich Bonhoeffers bezieht sich ausdrücklich auf den pädagogischen Bereich. Ein Schüler, der von seinem Fehler – unter Missachtung jeglichen pädagogischen Taktes – vor der Klasse gefragt wird, ob sein Vater oft betrunken nach hause komme, reagiert, so Bonhoeffer, angemessen, wenn es diese Frage verneint. Denn es muss einen Lebenszusammenhang schützen, in den der Lehrer in unangemessener Weise eingedrungen ist. Die Verweigerung der – an sich zutreffenden – Auskunft ist die einzige Form, in der es nicht nur die eigene Freiheit, sondern auch die Freiheit seiner Nächsten wahren kann.

Dieses Leitbild verantworteter und verantwortlicher Freiheit muss auch das Ethos des Lehrerberufs prägen. Das ist gewiss ein hoher Anspruch, der nicht in jeder Situation und auch nicht von jeder Lehrerin oder jedem Lehrer eingelöst werden kann.

Jeder kennt aus seiner Schülerbiographie überforderte Lehrkräfte, bei denen sarkastische Bemerkungen, ironische Herabsetzungen, subtile Drohungen an der Tagesordnung waren, oder solche, die ihren Narzissmus ungehemmt an den Schülerinnen und Schülern ausagierten. Auch Sie kennen Ihre Kollegien. Und wer ehrlich ist, wird sich selbst hier nicht einfach freisprechen. Und das ist gut so. Denn der unverstellte Blick der Lehrenden auf ihre eigene Unzulänglichkeit bedingt eine innere Freiheit, ohne die Lehren und Lernen nicht gelingen. Sie muss allerdings mit einer äußeren Freiheit korrespondieren, die nicht in Schulgesetzen, Organisationserlassen und Stoffplänen untergehen darf. Nur in dieser doppelten pädagogischen Freiheit können Lehrerinnen und Lehrer ihren Beruf kompetent, gerecht und verantwortungsbewusst, wie es die Kultusministerkonferenz ausdrückt, ausüben.

2. Lehrer und Lehrerinnen brauchen ein realistisches Menschenbild.

Mit Recht wünscht man dem Lehrer die Gesundheit und Kraft eines Germanen, den Scharfsinn eines Lessing, das Gemüt eines Hebbel, die Begeisterung eines Pestalozzi, die Wahrheit eines Tillich, die Beredsamkeit eines Salzmann, die Kenntnis eines Leibniz, die Weisheit eines Sokrates und die Liebe Jesu Christi. So soll Adolph Diesterweg das, hoffentlich augenzwinkernd, formuliert haben. Spätestens als ich den Namen Paul Tillichs las, kamen mir daran allerdings Zweifel (Diesterweg lebte von 1790 bis 1866). Aber von wem auch immer formuliert: auch ohne solche titanenhaften Ansprüche gibt es idealisierende Lehrerbilder. Sie sind Reflexe von Erfahrungen, aber auch Produkte von Wünschen und Erwartungen, sie legen sich wie ein Spinnennetz über unsere Beziehungen, bestimmen unser Verhalten und unsere Gefühle.

Wer erinnert sich nicht an die liebevolle Karikatur des Physiklehrers aus der Feuerzangenbowle, der seinen Schülern die Dampfmaschine höchst anschaulich vor Augen malt? Bilder haben unterschiedliche Funktionen: Sie können bestätigen und legitimieren, sie können beschreiben und vorschreiben. Und sie hängen jeweils von der Perspektive ab, aus der sie ins Spiel gebracht werden. Ihre Kraft beziehen sie auch aus der Reduktion der Wirklichkeit auf überschaubare Strukturen. Am ehesten leuchten häufig die Bilder ein, die einzelne Züge besonders hervortreten lassen und gar nicht erst den Anspruch erheben, die Spannungen und die Konflikthaltigkeit des Alltags einzufangen.

Eine heute verbreitete Annahme ist die, das Leben sei – wenn man nur wolle – leicht zu meistern, die dazu notwendigen Potentiale seien in einem jeden Menschen vorhanden. Eine andere Annahme ist jene, die erreichten Stützen zur Wertgebung des eigenen Lebens wie Beruf, Partnerschaft, eigenes Haus, Wohlstand, Freizeit trügen ihren Sinn hinreichend in sich selbst. Solchen unrealistischen Bildern gegenüber ist ein Bildungsansatz zu vertreten, der eine nüchterne Analyse der Wirklichkeit und der menschlichen Natur im Guten wie in den Abgründen des Bösen einschließt. Die Bibel spricht davon, dass der Mensch wenig niedriger gemacht ist als Gott (Psalm 8). Darin liegt ein großartiges Potential. Gleichzeitig zeigt nur zwei Psalmen davor das Bußgebet Herr, sei mir gnädig, denn ich bin schwach (Psalm 6), dass sich der Mensch immer wieder schmerzlich seines Unvermögens bewusst wird. Diese Maße des Menschlichen – so der Titel der EKD-Bildungsdenkschrift aus dem Jahr 2003 – müssen wir ehrlich und unverstellt wahrnehmen, in der Gesellschaft wie in Erziehung und Bildung. Sollten andere Bilder dazu tendieren, den Menschen unter gnadenlose Imperative eines vermeintlichen Müssens zu zwingen, hat der christliche Glaube im Namen der jedem Menschen zugewandten Gnade Gottes zu widersprechen.

Prinzipiell ist zwischen der Lebenslage als objektiver Gegebenheit und als subjektivem Bild zu unterscheiden. Die Lebenslage eines Menschen besteht nicht nur aus den von ihm unabhängig gegebenen Momenten (Arbeit haben oder nicht haben, behindert sein oder nicht, Mann oder Frau sein), sondern auch daraus, wie man sich selbst sieht und deutet: die eigene Lage als Sicht dieser Lage, traditionell gesprochen als geistige Realität. Wer dies nicht berücksichtigt, verdinglicht den Menschen. Er stellt ihn und seine Lage als etwas Äußerliches und noch dazu unbeeinflussbares Schicksal hin. Gegen diese gesellschaftlich und wissenschaftlich bewirkte Selbstentfremdung (Wilhelm von Humboldt) hat ein selbst-reflexives Bildungsverständnis seit zweihundert Jahren immer wieder aufbegehrt. Erwachsene müssen genauso wie Kinder und Jugendliche als Subjekte darauf angesprochen bleiben, dass sie sich selbst bestimmen können und dürfen.

Die theoretischen Einteilungen, Kategorisierungen, Typologien helfen nur als vorläufige Suchinstrumente. Sie sollten zurückgelegt, geradezu vergessen werden, wenn jeder es mit dem anderen in seiner unverwechselbaren einmaligen Lebenslage zu tun bekommt, weil er sich auf ihn ganz und gar konkret einlassen muss. Nach Bertolt Brechts berühmter Geschichte von Herrn Keuner sollen wir nicht unseren Entwurf vom anderen Menschen lieben, sondern den anderen Menschen selbst. Pädagogen dagegen neigen dazu, unter Umständen sogar unter Berufung auf Bertolt Brecht, es sei durchaus in Ordnung, wenn wir uns vom anderen Menschen einen Entwurf machen; denn immerhin wollten wir ja nicht, dass er diesem Entwurf gleich, sondern nur, dass er ihm ähnlich werde. Ich habe Bertolt Brecht anders verstanden; er will uns überhaupt davor bewahren, uns vom anderen Menschen einen Entwurf zu machen und unsere Liebe auf diesen zu richten. Unsere Liebe soll diesem Menschen selbst gelten; dazu aber gehört, dass wir auch das Geheimnis gelten lassen, das jeder menschlichen Person innewohnt, und es uns versagen, dieses Geheimnis in einem Entwurf von dieser Person aufzulösen.

Gerade von dieser Einsicht aus muss man pointiert festhalten: In der Schule werden nicht Fächer oder Stoffe unterrichtet, sondern junge Menschen. Lehrerinnen und Lehrer wissen deshalb, dass es entscheidend darauf ankommt, eine pädagogische Beziehung zu den Schülern zu entwickeln, und dass diese Beziehung von Empathie, von Interesse an der Person der Schüler getragen sein muss. Wem die Schüler gleichgültig sind oder wer sich gar durch sie gestört oder belästigt fühlt, hat verloren, bevor der Unterricht angefangen hat. Aber auch der Lehrer, der einen Entwurf des Schülers vor Augen hat, dem dieser ähnlich werden soll, kann die Möglichkeiten einengen, die in ihm liegen. Diesen Möglichkeitsraum mit Schülern zu erkunden und nicht an ihnen vorbei – das ist wohl die größte Kunst bei Bilden als Beruf.

3. Lehrerinnen und Lehrer brauchen eine geklärte Identität.

Das Aufwachsen von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen vollzieht sich heute im Nebeneinander von verschiedenartigen, teilweise kontroversen Überzeugungen, Weltanschauungen, Religionen und politischen Positionen. Die öffentliche Schule für alle ist eine Pflichtveranstaltung des Staates für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene der verschiedensten sozialen, kulturellen, weltanschaulichen und religiösen Herkunft. Das bedeutet aber nicht, dass sie sich indifferent aus unserer geistigen Situation heraushalten kann. Als Grundsatz gilt vielmehr, die plurale Wirklichkeit anzuerkennen und die Schüler und Schülerinnen mit ihr in pädagogisch besonnener Weise vertraut zu machen. Mehr noch: In einer demokratischen Gesellschaft nimmt die Schule ihren Auftrag nur wahr, wenn sie die nachwachsende Generation befähigt, Positionen einzunehmen und im Meinungsstreit auszutragen. In dem Spannungsgefüge, fremde Überzeugungen zu verstehen und zugleich eine eigene Auffassung zu entwickeln, soll jeder seine Identität finden, die ihn in die Lage versetzt, begründet zu urteilen und Verantwortung zu übernehmen. Dem Religionsunterricht kommt hier eine besondere Aufgabe zu. Mit dieser Zielgebung wird die Schule ihrem Auftrag nach kompensatorischem Lernen gerecht, indem sie das zum Lerninhalt macht, was nicht mehr selbstverständlich gelernt wird, aber für das Leben in Gemeinschaft notwendig ist.

In dem Maße, in dem sich die Schule nicht nur als Unterrichtsanstalt versteht, werden die Lehrenden als Personen wichtig. Identifikatorisches Lernen wird durch die Glaubwürdigkeit eindrucksvoller Vorbilder ausgelöst. Sie machen Überzeugungen transparent. Indem Menschen für diese Überzeugungen einstehen, können sie anderen helfen, sich selbst ein eigenes Urteil zu bilden. Offene Lernprozesse lassen identifikatorische Angebote zu, sofern den Heranwachsenden der Spielraum bleibt, ihren individuellen Lernweg mitzugestalten.

Es ist zwar offensichtlich schwieriger geworden, in Lerngruppen ein Arbeitsklima herzustellen und aufrechtzuerhalten, das von Kooperation, Rücksichtnahme und gegenseitiger Toleranz geprägt ist. Aber es besteht die Möglichkeit, dass unter günstigen Voraussetzungen (Größe der Schule, Unterrichtsorganisation, Verzicht auf jeden vermeidbaren Wechsel der Lehrkräfte usw.) die Lehrerinnen und Lehrer zu bedeutungsvollen Erwachsenen werden. Mit ihnen können die Schülerinnen und Schüler die Auseinandersetzung suchen und von ihnen Orientierungshilfen auch in Bereichen erfahren, die weit über die unmittelbaren Inhalte des Fachunterrichts hinausgehen. Wer kennt nicht bewegende Biografien von Menschen, die ihrem Lehrer, ihrer Lehrerin entscheidende Impulse für ihr Leben verdanken! Nicht selten ist das der Grund dafür, dass junge Erwachsene diesen Beruf selbst ergreifen wollen.

Lehrerbildung ist also immer auch Menschenbildung im Sinne einer Anbahnung von Potentialität und Sinnfindung. Wichtigstes Mittel ist dabei die Schaffung einer unterrichtlichen Gesprächskultur, in der unterschiedliche Positionen wahrgenommen, reflektiert und respektiert werden. Martin Buber: Nicht der Unterricht erzieht, aber der Unterrichtende. Der gute Lehrer erzieht mit seiner Rede und mit seinem Schweigen, in den Lehrstunden und in den Pausen, im beiläufigen Gespräch, durch sein bloßes Dasein, er muss nur ein wirklich existenter Mensch sein und er muss bei seinen Schülern wirklich gegenwärtig sein; er erzieht durch Kontakt. Kontakt ist das Grundwort der Erziehung. … Es bedeutet nicht bloß Auskunftsuchen von unten und Auskunftgeben von oben, auch nicht bloß Fragen und Antworten hinüber und herüber, sondern echtes Wechselgespräch, das der Lehrer zwar leiten und beherrschen, in das er aber eben doch auch mit seiner eigenen Person unmittelbar und unbefangen eintreten muss…. Das ist es, was ich das dialogische Prinzip der Erziehung nenne.

Alles Lernen in schulischen Lernzusammenhängen ist jedoch in seiner Wirkung in Frage gestellt, wenn die Erfahrungen in der Alltagswelt dem schulischen Lernen widersprechen. Schülerinnen und Schüler nehmen kritisch wahr, ob Verhalten und Reden der Lehrerinnen und Lehrer übereinstimmen. Sie vertrauen denen, die sich für sie als verlässlich, ehrlich und gerecht erweisen. Sie messen sie daran, wie sie ihr soziales Verhältnis zu den Schülerinnen und Schülern gestalten und ob es nicht durch ihre persönlichen Existenzvollzüge Lügen gestraft wird. Dabei erwarten die Schüler keineswegs Heilige, sondern respektieren durchaus die Brüchigkeit und Widersprüchlichkeit des Lebens, sofern diese nicht durch leere Formeln und ethischen Rigorismus überdeckt wird.

Gleichwohl werden die hohen Erwartungen der Schülerinnen und Schüler an die Person des Lehrers bzw. der Lehrerin von diesen vielfach als persönliche Überforderung empfunden. Jeder Lehrer muss unzählige widersprüchliche Strukturen und Erfahrungen aushalten. Wenn er sich davon nicht zerreiben lassen will, braucht er eine grundlegende personale Standhaftigkeit und Authentizität. In evangelischer Perspektive gewinnt er diese aus der Zusage, dass er nicht mit seinem Werk identisch ist. Er darf Fehler machen, er darf zu seinen Fehlern stehen. Er braucht keine Allmachtspose, er ist weder Retter seiner Schüler noch guter Hirte, der seine Schafe sorgsam behüten muss. Im Licht des christlichen Glaubens, gerade in seiner reformatorischen Gestalt, stehen Lehrende und Schüler in einer unaufhebbaren Solidarität, die sie vor wechselseitigen Leistungsüberforderungen schützen kann und zu einer Grundhaltung personaler Wertschätzung und gegenseitiger Vergebung ermutigt.

Eine für Schüler glaubwürdige Verlässlichkeit entwickelt sich langfristig erst im pädagogischen Alltag. Eine grundlegende Auseinandersetzung mit der Lehrerrolle und -persönlichkeit ist jedoch schon im Studium unverzichtbar. Die herkömmliche Aufspaltung der Ausbildung in eine Erste und Zweite Phase lässt für die Studierenden nur wenig Raum, sich schon im Studium mit den Motiven ihrer Studienwahl, ihren Erwartungen und ihrer Eignung im Blick auf die künftige Berufspraxis und Berufsrolle selbstkritisch auseinander zu setzen. Dazu gehört auch die biographische Selbstreflexion, gerade auch im Blick auf die Wahl von Bilden als Beruf, ein Nachdenken beispielsweise darüber, aus welcher Familie künftige Lehrerinnen und Lehrer selbst stammen, wie sie Erziehung im Elternhaus und in der Schule erlebt haben.

Solche Selbstreflexion ist ein notwendiges Element der Freiheit. Die biographischen Konsequenzen fehlender Selbstreflexion zeigen sich in diesem – wie in anderen – Berufen sonst zu spät, wenn sich eine unüberbrückbare Diskrepanz zwischen Erwartungen, Eignung und konkreten Anforderungen auftut. Nicht nur im Blick auf die jeweils individuellen Berufswege, sondern auch hinsichtlich der Inhalte und Vermittlungsformen des Studiums ist es bei Professionen im engeren Sinn des Wortes unumgänglich, die fachliche Ausbildung mit einer eingehenden Reflexion des späteren Berufsfeldes zu verschränken. Das tritt heute immer stärker in den Hintergrund, weil Professionalität nur noch als Fachlichkeit verstanden wird. Dementsprechend wird nur noch nach der Befähigung, nicht mehr aber nach der persönlichen Eignung eines Menschen für einen Beruf gefragt. Das ist einen Engführung, die sich schon längst als Irrweg erweisen hat. Aber sie prägt beispielsweise auch die Thesen der Kultusministerkonferenz und der Lehrerverbände, mit denen ich diesen Vortrag begonnen habe.

4. Lehrer und Lehrerinnen brauchen Zeit

Für Bildung ist das Wechselspiel zwischen persönlicher Bildungsgeschichte und Lebensgeschichte charakteristisch- Lebensgeschichtliche Gezeiten und Bildung als innere Lebensgestaltung gehören zusammen. Lehr- und Lernvorhaben können nicht ohne Schaden an den lebensgeschichtlichen Momenten vorbei geplant und durchgesetzt werden. Die Identität eines Menschen besteht letztlich aus seiner Lebensgeschichte im Ganzen.

Durch die gesamte pädagogische Diskussion zieht sich wie ein roter Faden die Einsicht in die Bedeutung einer lebensphasengerechten Bildung. Dabei ist zu bedenken, dass wir auf das Lernen von Menschen nie einen direkten Zugriff haben und beanspruchen dürfen. Bildung ist ein Vorgang im Innern und damit zugleich individueller Natur. Es ist ein aktiver, letztlich selbstorganisierter Prozess des Subjekts, der allerdings angeregt werden muss.

Für die geistige Selbstorganisation ist einerseits gesammelte Anstrengung, andererseits der schöpferische Moment eines unerwarteten Einfalls charakteristisch. In beiden Hinsichten ist Zeit einzuräumen; unter Druck und Angst kann nicht im gemeinten bildenden Sinn gelernt werden. Die Schulen brauchen Lehrende, die mit diesen Vorgängen vertraut sind, also mehr als nur fachwissenschaftlich ausgebildete Lehrer und Lehrerinnen.

Für das Gelingen der inhaltlichen Bildungsaufgaben ist deswegen die Qualität der unterrichtlichen Feinstruktur ausschlaggebend. Beobachtungen zeigen das wachsende Interesse an verständlichem, elementarisierendem Unterricht; Untersuchungen belegen aber auch, wie sehr über die Köpfe hinweg unterrichtet wird, am Zentrum der Selbstorganisation des individuellen Bewusstseins vorbei; Bildung als innere Kultur wird so verfehlt. Folglich liegt hier der Brennpunkt für eine qualitative Unterrichtserneuerung. Wird dies nicht beherzigt, könnte sich das gegenwärtige Interesse an beschleunigtem, intensiviertem Lernen, für das besonders informationstechnologisch investiert werden soll, dem Wortsinn nach verrechnen. Wirtschaftlichkeitsanalysen dürfen den Faktor der unverrechenbaren Zeit nicht unterschlagen.

Sie dürfen auch die Zeit nicht unterschlagen, die für didaktisch-methodische Vielfalt gebraucht wird: in Fortbildung und Vorbereitung ebenso wie in der Durchführung. Man kann kaum überschätzen, wie stark pädagogischer Erfolg von der täglich erfahrenen Unterrichts- beziehungsweise Lehrkunst abhängt. Deutsche Schulen brauchen eine zu Leistungen herausfordernde und die Lust zum Lernen ansprechende Lernkultur, für die auch Zeitmaße und Interaktionsstrukturen verändert werden müssen. Sie brauchen aber auch die Wertschätzung der Bevölkerung und vor allem der Eltern für die tägliche und oftmals schwierige Arbeit der Lehrer und Lehrerinnen.

5. Lehrerinnen und Lehrer brauchen Begleitung und Unterstützung.

In allen Professionen ist eine regelmäßige persönliche Begleitung, Supervision und Fortbildung der handelnden Akteure selbstverständlich, ja sogar unabdingbar. Bei den Lehrkräften bleibt sie ihrer eigenen Initiative anheim gestellt. (Auch bei Pfarrerinnen und Pfarrern gibt es sie systematisch leider nur in den ersten Amtsjahren.) Natürlich ist bereits die nicht selten ätzende und direkte Rückmeldung durch die Schüler ein wichtiges Korrektiv. Zur Weiterentwicklung von pädagogischen Kompetenzen ist für professionelle Lehrkräfte ein kritisches und förderndes Korrektiv durch Erwachsene aber unverzichtbar.

Für Karl Ernst Nipkow ist die Fähigkeit zu Selbstkontrolle und Selbstdistanzierung der Lehrenden deshalb so wichtig, weil sie einer Indoktrination durch Abhängig-Halten entgegenwirkt. Die Lehrerrolle ist zudem nicht mehr ausschließlich als Unterrichts- und Erziehungstätigkeit im Klassenzimmer zu definieren, sondern im Ensemble des Bildungsauftrags einer Schule. Eine professionelle Lerngemeinschaft am Ort der einzelnen Schule, zwischen Fachkollegen, durch Mentoren und Mentorinnen, in kooperativen Formen der Lehrerfortbildung, in Entwicklungsprojekten kann Anerkennung und Akzeptanz durch Kollegen erbringen und das Handlungs- und Reflexionsrepertoire anreichern. Dazu gehören Formen der Supervision, der Fallbesprechung in Lehrergruppen, soweit darin nicht nur psychologisches, sondern auch didaktisches und fachliches Wissen und Können thematisiert wird.

Als Kirche bieten wir Lehrerinnen und Lehrern Vergewisserung, Begleitung und Zuspruch an. Unsere Kirche hat pädagogische Handlungsfelder entwickelt, die unter je unterschiedlicher Zielsetzung und Perspektive die Schülerschaft, die Lehrkräfte, die Schule sowie ihre gesellschaftliche Bedeutung in den Blick nehmen. Regional und überregional hält die Kirche ein Netzwerk von Institutionen bereit, die Beratung, Fortbildung und geistliche Begleitung gewährleisten. Qualitätssicherung, Kompetenz-, Unterrichts- und Schulentwicklung sind permanente Herausforderungen, denen sich die Kirche exemplarisch über den Religionsunterricht, aber auch weit darüber hinaus, stellt.

Eine große Herausforderung der Begegnung und Kooperation von Kirche und Schule stellen die Formen der evangelischen Jugendarbeit dar, die heute vor allem im Blick auf die Entwicklung zur Ganztagsschule weiterentwickelt werden müssen. Neben außerschulischen Angeboten für Schülerinnen und Schüler kommen innerschulische Angebote für einzelne Schulen, Klassen oder Jahrgangsstufen in den Blick. Hierzu gehören unter anderem Angebote der Seelsorge, der Freizeitgestaltung und der Bildung als Lebensbegleitung. Sie werden angeboten von Landesjugendpfarrämtern, evangelischen Akademien, religionspädagogischen Instituten und weiteren evangelischen Einrichtungen, die Heranwachsende befähigen, ihren Lebensraum einschließlich der Schule selbstbewusst und selbstbestimmt zu gestalten oder lebenslaufbezogene Entscheidungen zu treffen. Konkret wird diese Arbeit zum Beispiel in Tagen ethischer Orientierung, Religionsphilosophischen Schulprojektwochen, Religiösen Schulwochen oder Tagungen der Jungen Akademie. Darüber hinaus ist es wichtig, dass Kirchengemeinden und -kreise sowie andere kirchliche Einrichtungen und Arbeitsfelder mit den Schulen systematisch kooperieren, Formen kontinuierlicher Zusammenarbeit sowie gegenseitiger Unterstützungssysteme auf- beziehungsweise ausbauen. Und wir müssen ehrlich eingestehen: An dieser Unterstützung der Arbeit von Lehrerinnen und Lehrern fehlt es vor Ort nicht selten.

Die wachsende Eigenverantwortlichkeit von Schule macht es erforderlich, dass Kollegien oder einzelne Lehrkräfte selbst formulieren, was sie für einen guten Unterricht und eine gute Schule halten. In einer solchen Schule dürfen Religion und Christentum nicht fehlen. Auch in dieser Hinsicht bitte ich Sie herzlich um Ihren Einsatz und Ihr Engagement.

Ich habe in diesem Vortrag meinen persönlichen Bezug zur Lebenswelt der Schule deutlich gemacht. Sogar vom Beruf meiner Frau habe ich in diesem Zusammenhang gesprochen. Ich hoffe deshalb, Sie nehmen es mir ab, wenn ich sage: Ich habe großen Respekt davor, was Sie als Lehrerinnen und Lehrer in der Schule leben und leisten. Gott segne diesen wichtigen Dienst aus und in unserer Gesellschaft, diesen Dienst, für den ich keine bessere Überschrift weiß als: Bilden als Beruf.