"Von der Freiheit der Kinder Gottes - Plädoyer für eine selbstbewusste Kirche / Vortrag auf der Missionale / Köln

Wolfgang Huber

Heute Morgen fiel mir die Geschichte wieder ein. Beim Joggen kam sie mir in den Sinn, die Geschichte von meinem Freund im letzten Herbst. Er ist wirklich ein leidenschaftlicher Jogger, eigentlich kann kein Tag vorbeigehen, ohne dass er mit den Laufschuhen unterwegs ist. Im letzten Herbst geschah das Missgeschick. Ein Apfel war auf seinen Weg gefallen. Er achtete nicht darauf, stolperte über ihn und brach sich den Fuß. Mühsam schleppte er sich nach Hause. Seine Frau, nachdem sie den ersten Schrecken überwunden hatte, sagte nur: „Besser, Du bist über einen Apfel gestolpert als über eine Eva.“ Die kleine Aufmunterung brachte auch ihn über den ersten Schreck. Inzwischen läuft er wieder, unverdrossen und mit Freude.

 Von solcher Unverdrossenheit und solcher Freude soll in unserem Seminar die Rede sein, vom Lauf der Kirche in der Freiheit der Kinder Gottes. Manchmal kommt sie ins Stolpern. Aber sie wird aufgemuntert, erholt sich, fängt von vorne an. Sie verlässt sich auf eine Kraft, die sie sich nicht selber gibt. Sie lebt aus einer Freiheit, die sie nicht selbst hervorbringt. Ihr Selbstbewusstsein ist von eigener Art. Ihr Selbstbewusstsein ist Gottesbewusstsein. Sie macht davon Gebrauch aus der Überzeugung, dass der Geist Gottes uns in Jesus Nahe gekommen ist und deshalb die Kirche bestimmt.

„Von der Freiheit der Kinder Gottes. Plädoyer für eine selbstbewusste Kirche.“ Wir wollen in diesem Seminar danach fragen, wie die biblische Freiheitsverheißung im  Handeln der Kirche eingelöst wird. Das Thema stellt uns vor eine doppelte Aufgabe: einerseits zu beschreiben, was denn die „Freiheit der Kinder Gottes“ ausmacht, und andererseits darüber nachzudenken, wie denn diese Freiheit alltäglich wird, wie sie im Leben der Kirche und ihrer Gemeinden ihre Spuren hinterlässt.

Wenn es dabei um ein „Plädoyer für eine selbstbewusste Kirche“ gehen soll, dann scheint ein solches Plädoyer angesichts der „kirchlichen Großwetterlage“ nicht nur notwendig, sondern auch gar nicht so einfach zu sein. Ist es doch im Blick auf unsere Kirche insgesamt mehr als deutlich: Die Zeiten der Zuwächse sind vorbei. Auf allen Ebenen, angefangen von der Ortsgemeinde über die Kirchenkreise und Landeskirchen bis hin zur EKD, stehen wir vor der Herausforderung, uns für die kommenden Jahre auf zurückgehende Finanzen und weniger hauptamtliches Personal einstellen zu müssen. Das hat seinen Grund nicht nur in der Entwicklung der Kirchensteuern, die von der konjunkturellen Entwicklung abhängt, sondern auch in der zu erwartenden Mitgliederentwicklung, die ihrerseits wiederum mit der demografischen Entwicklung der Gesellschaft insgesamt zusammenhängt. Unsere Kirche wird zahlenmäßig kleiner und materiell ärmer werden. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter artikulieren das Gefühl, sich in einer Negativspirale des Abbaus zu befinden. Woraus speist sich da kirchliches Selbstbewusstsein?

Es speist sich aus den Quellen, aus denen die Kirche immer wieder geschöpft hat und schöpft. Eine dieser Quellen, die gerade in der evangelischen Kirche von größter Bedeutung sind, sind biblische Texte. Und ein Text, der für mein Empfinden exemplarisch für ein gesundes kirchliches Selbstbewusstsein ist, ist das dritte Kapitel der Apostelgeschichte:

Auf dem Weg zum Gebet im Tempel treffen Petrus und Johannes auf einen Gelähmten, der dort tagtäglich um Almosen bettelt. Lukas erzählt: „Und der Gelähmte sah sie an und wartete darauf, etwas von ihnen zu empfangen. Aber Petrus sagte: Silber und Gold habe ich nicht; was ich aber habe, das gebe ich dir: Im Namen Jesu Christi von Nazareth steh auf und geh umher. Und er nahm ihn bei der rechten Hand und richtete ihn auf“ (Apg 3, 5f).

In dieser kurzen Begegnung ist verdichtet, worum es bei unserem Thema geht. Schlaglichtartig wird deutlich, was das Selbstbewusstsein der Kirche ausmacht: Selbstbewusst ist eine Kirche, die darum weiß, was sie zu geben hat und was nicht. Die weiß, wovon sie lebt und was sie weitergeben kann. Die die Freiheit des Glaubens geschmeckt hat und mit diesem Geschmack auf der Zunge und dem befreienden Wort, das sie zunächst selbst gehört hat, im Ohr auf die Menschen zugeht, die ihr am Wege und unterwegs begegnen.

Zu einer selbstbewussten Kirche gehört deshalb immer auch die Wahrnehmung der gegenwärtigen Zeitumstände, unter denen die Menschen leben. Vor ihrem Hintergrund und in sie hinein will die Botschaft von der Freiheit der Kinder Gottes selbstbewusst und fröhlich verkündigt werden.

Deshalb möchte ich unser Thema jetzt in drei Schritten entfalten und jeweils mit einer These zur Mission der Kirche verbinden:

1. Die Ambivalenz der Freiheit

2. Frei aus Glauben

3. Kirche als Raum und Anwalt der Freiheit

1. Die Ambivalenz der Freiheit

These: Die Kirche und ihre Mission brauchen freie Formen, neue Zugänge zu den Menschen und eine freie Sprache, damit das Evangelium gehört und gewählt werden kann.

Freiheit ist eines der großen Versprechen in unserer Zeit. Ein kurzer Blick in das Leitmedium Fernsehen und speziell auf die Verheißungen der Werbung macht das deutlich. Wenn man das Lebensgefühl, das hier vermittelt wird, mit einem Slogan zusammenfassen sollte, hieße der vermutlich: „Ich bin so frei...“. Da werden „Freiheit und Abenteuer“ verkauft, und auf den Wunsch: „Ich will so bleiben, wie ich bin“ antwortet eine sanfte Stimme: „Du darfst“. „Wir machen den Weg frei“, heißt die Botschaft – und zumindest im Werbespot gibt es dann keine Grenzen mehr. Der Blick auf die gesellschaftliche Realität unterzieht diese Verheißungen allerdings einer gründlichen Überprüfung mit dem Ergebnis, dass die gepriesene Freiheit durchaus ambivalent daherkommt.

Unsere Gesellschaft befindet sich in einem fortschreitenden Prozess der Ausdifferenzierung. Gesellschaftlicher Pluralismus zeigt sich nicht nur in der Vielfalt der Interessen, sondern ebenso in der Vielfalt religiöser Überzeugungen und kultureller Einstellungen. Auf den ersten Blick ist da ein weiter Raum der Freiheit, in dem sich der Einzelne wie ein Flaneur auf einer Einkaufsmeile bewegen kann.

Die zunehmende Vielfalt in vielfacher Beziehung stellt die Menschen zugleich vor eine große Herausforderung. Sie können sich immer weniger an etwas Vorgegebenem orientieren, sondern müssen verstärkt zwischen verschiedenen Möglichkeiten und Angeboten wählen. Freiheit ist dann nicht einfach nur Lust, sondern zumindest manchmal auch Last. Dennoch gibt es kein einfaches Zurück in ein geschlossenes und für jeden in gleicher Weise gültiges Weltbild oder zu einem  für alle ungefragt gültigen Wertekosmos.

Im religiösen Bereich kommt es in Folge der fortschreitenden Individualisierung und Pluralisierung zu dem, was man als „Patchwork-Religiosität“ bezeichnet: Elemente ganz verschiedener Weltanschauungen werden mehr oder weniger bewusst miteinander kombiniert. Unsere Gesellschaft ist also keineswegs einfach a-religiös, sie wird vielmehr multireligiös. In der pluralistischen Gesellschaft können die Kirchen allerdings für die Beantwortung von Sinnfragen und die Vermittlung des Heils kein Monopol mehr beanspruchen. Auch Religion wird in vielfältigen Formen angeboten. Die Kirchen können sich aus dieser Situation nicht zurückziehen; es gibt keine Schutzburg, in der sie der Konkurrenz unterschiedlicher Sinnangebote und religiöser Orientierungen enthoben wären. Und es kann auch nicht darum gehen, die Individualisierungsprozesse der Gegenwart, die – wie wir noch sehen werden – ihren Grund zumindest auch in der Geschichte des Christentums haben, im Sinne einer Verfallstheorie zu dämonisieren. Vielmehr geht es darum, angesichts der gegenwärtigen Entwicklungsdynamik Freiheit und Verantwortung, Selbstbestimmung und Solidarität in eine neue Balance zu bringen.

Die wirklich spannende Entdeckung ist nun, dass der christliche Glaube mit seinem spezifischen Verständnis von Freiheit sich hilfreich und korrigierend zugleich auf die skizzierten gesellschaftlichen Entwicklungen und ihre Herausforderungen beziehen lässt. Damit komme ich zu meinem zweiten Schritt.

2. Frei aus Glauben

These: Die Kirche und ihre Mission gründen in der von Gott geschenkten, kommunikativen Freiheit. Wo diese Freiheit zum Zuge kommt, eröffnet sich ein weites Feld unterschiedlicher Frömmigkeitsformen.

Freiheit ist die Existenzform des Glaubens. An zwei historischen Höhepunkten christlichen Freiheitsverständnisses, bei Paulus und bei Luther, lässt sich das verdeutlichen.
Paulus hat Leben, Tod und Auferweckung Christi insgesamt als Eröffnung von Freiheit interpretiert. Er hat das Evangelium als den an jeden Menschen ergehenden Ruf zur Freiheit gedeutet und die Taufe als die jeden Menschen leibhaft ergreifende Zueignung der Freiheit verstanden. Weil er in seiner Berufung zum Apostel die Befreiung von dem Gesetz, sich selbst vor Gott rechtfertigen zu müssen, erfahren hat, hat er die Freiheit des Glaubens leidenschaftlich verteidigt. So schreibt er an die Galater, die im Begriff sind, in die alten Zwänge der Selbstrechtfertigung zurückzufallen: „Zur Freiheit hat euch Christus befreit! So steht nun fest und lasst euch nicht wieder unter das Joch der Knechtschaft zwingen!“ (Gal 5,1).

Die Berufung zur Freiheit darf jedoch nun gerade nicht individualistisch missverstanden werden. Deshalb heißt es im Anschluss bei Paulus: „Zur Freiheit seid ihr berufen; deshalb sorgt dafür, dass die Freiheit nicht eurer Selbstsucht die Bahn gibt, sondern dient einander in der Liebe“ (Gal 5,13). Freiheit wird also in der wechselseitigen Zuwendung bewahrt. Freiheit sondert die Menschen nicht voneinander ab, sondern ordnet sie einander zu. Sie ist nicht einfach ein Zustand, den man im Zweifelsfalle nur gegen andere verteidigen muss. Sie ist ein Prozess, in dem das Leben mit anderen gelingt. Freiheit hat ihren genuinen Ort in Gemeinschaft und wechselseitiger Verständigung. Sie trägt kommunikativen Charakter.

Derselbe Grundzug lässt sich auch bei Luther beobachten, der darin unmittelbar an Paulus anknüpft. Die berühmte Doppelthese des Traktats über die Freiheit eines Christenmenschen von 1520 schärft zunächst ein, dass Freiheit zuallererst die Freiheit der Person ist: „Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemandem untertan. Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan.“

Luthers These bringt in ihrer Doppelstruktur zugleich den Grundgedanken kommunikativer Freiheit auf eine knappe Formel. Die Freiheit des Christen zeigt sich in der Unabhängigkeit von fremden Verfügungsansprüchen. Sie ist die Freiheit der Person, die durch Gott mit einer unverfügbaren Würde ausgestattet ist. Wenn sich diese Freiheit aber nur im Dienst gegenüber dem Mitmenschen voll verwirklicht, dann ist der Freiheit selbst ein Impuls eingestiftet, der jeder Selbstabschließung vorbeugt. Der Glaube sieht die menschliche Person als eine Person-in-Beziehung. Menschliche Selbstbestimmung wird deshalb von Luther als Bindung an Gott und zugleich als Bindung an die Person des oder der anderen verstanden. Selbstbestimmung und Anerkennung des anderen, Liebe zu sich selbst und Liebe zum Nächsten gehören zusammen.

Das hängt zutiefst mit einem anderen Charakteristikum der christlich verstandenen Freiheit zusammen: Freiheit ist Geschenk Gottes. Sie ist das Geschenk Gottes des Schöpfers: Die Freiheit des Geschöpfes antwortet auf die Freiheit des Schöpfers; gerade darin ist der Mensch das dem Schöpfer entsprechende, das Gott in Freiheit antwortende Geschöpf.

Doch die geschöpfliche Freiheit ist gefährdet. Auch diese Einsicht gehört zur realistischen Sicht des Glaubens. So schildert die biblische Urgeschichte die Verkehrung im Verhältnis des Menschen zu Gott, zu seinem eigenen Bruder, zu der Natur und schließlich auch zu seinen kulturellen Hervorbringungen (Gen 3-11). Menschliche Geschichte ist nicht nur eine Geschichte der Freiheit, sondern auch ihrer Verkehrung. Sie führt in die Abgründe der Orientierungslosigkeit, für die der Begriff der Sünde steht. Die menschliche Freiheit ist deshalb auf die Möglichkeit des Neubeginns angewiesen. Dass diese Möglichkeit Wirklichkeit wird, ist die Gewissheit, die im Zentrum des christlichen Glaubens steht.

Auch hier sind sich Paulus und Luther ganz einig. Freiheit ist Widerfahrnis und nicht ein Resultat menschlichen Handelns: „Zur Freiheit hat euch Christus befreit!“ Diese Befreiung führt in die Freiheit von selbstzerstörerischem Größenwahn und egozentrischer Selbstbezogenheit. Das bedeutet aber gerade nicht die Abwertung einer gesunden Ich-Stärke oder eines gesunden Selbstbewusstseins, das um die eigene Leistungskraft weiß und die eigenen Grenzen nicht verleugnen muss. Die Freiheit der Kinder Gottes kommt vielmehr aus der Befreiung von allem Größenwahn, selbst wie Gott sein zu wollen. In dieser Freiheit von der Selbstverabsolutierung ist auch die Freiheit von allen anderen Herren und Geistern eingeschlossen, die sich in dieser Welt zu kleinen Göttern aufschwingen und Herrschaft beanspruchen über die Seele eines Christenmenschen. Weder Könige noch Konsum, weder leichte Erfolge noch große Erbschaften, weder ideologische Mächte noch finstere Kreaturen dürfen oder sollen Macht haben können über das Gewissen eines freien Christenmenschen.

Die Freiheit des Glaubens hat schließlich einen weiten Horizont. Von der „Freiheit der Kinder Gottes“ redet Paulus geradezu hymnisch dort, wo er die Hoffnung der Schöpfung im ganzen besingt: „Die Schöpfung ist ja unterworfen der Vergänglichkeit – ohne ihren Willen, sondern durch den, der sie unterworfen hat -, doch auf Hoffnung; denn auch die Schöpfung wird frei werden von der Knechtschaft der Vergänglichkeit zu der herrlichen Freiheit der Kinder Gottes“ (Röm 8, 20f).

Am Ende, das ist die Hoffnung des Glaubens, kommt die Freiheit zur Vollendung. Und von diesem guten Ausgang her fällt ein helles Licht schon auf die Gegenwart. Denn dem Tod, dem „hoffnungslosen Fall“, der Beziehungen abbricht und Beziehungslosigkeit an ihre Stelle setzt, ist kraft des Glaubens an die Auferweckung Jesu und in Erwartung der anstehenden Befreiung der ganzen Schöpfung schon jetzt die letzte Macht genommen. Die endgültige Freiheit der Kinder Gottes findet ihren Vorschein in der Freiheit des Glaubens, die dazu hilft, mit dem Leben wie mit dem Sterben schon jetzt hoffnungsvoll umzugehen. Eine selbstbewusste Kirche ist in diesem Sinne „guter Hoffnung“.

Im Jahr des Gedenkens an Dietrich Bonhoeffer sei daran erinnert, wie diese großen Wahrheiten sich im Leben eines Menschen brechen können: Ausgerechnet im Gefängnis zeichnet Bonhoeffer „Stationen auf dem Weg zur Freiheit“ auf: „Freiheit, dich suchten wir lange in Zucht und in Tat und in Leiden. Sterbend erkennen wir nun im Angesicht Gottes dich selbst.“

3. Kirche – Raum und Anwalt der Freiheit

These: Gerade in ihrem Kernbereich und mit ihren Kernangeboten hat die Kirche missionarische Möglichkeiten, wenn die Qualität und das Niveau stimmen.

Im Anschluss an das, was wir eben über das Geschenk der christlichen Freiheit entfaltet haben, dürfte klar sein, dass die Kirche diese Freiheit nicht einfach „hat“, wie man eben „Silber und Gold haben“ (Apg 3) kann. Auch eine selbstbewusste Kirche trägt ihre Freiheit nicht wie einen Besitz mit sich herum und ihren Glauben nicht einfach vor sich her. Sie ist und bleibt darauf angewiesen, dass Gott selbst sie immer wieder neu in die Freiheit ruft und durch seinen Geist in ihr Glauben weckt und erneuert.

Und auch der einzelne Christ „hat“ seinen Glauben nicht ein für allemal, sondern empfängt ihn immer wieder neu. Glaube ist Vertrauen. Und Vertrauen kann man weder herbeiführen noch herbeireden. Denn Vertrauen wird geweckt. Daran hat man immer gedacht, wenn man „Glauben“ und „Erweckung“ zusammenbrachte.

Wir sprechen oft von der „Weitergabe des Glaubens“. Doch der Glaube ist zuallererst ein Geschenk. Weitergeben kann die Kirche, was wir über den Glauben wissen können. Und diese Weitergabe der Glaubensschätze der Kirche ist dem Glauben förderlich, ja, sie ist für den Glauben notwendig. Aber sie weckt ihn nicht selbst. Es kommt alles darauf an, dass das Ja Gottes, sein befreiendes Wort, das in die Freiheit der Kinder Gottes ruft, einem Menschen so entgegentritt, dass er dazu in Freiheit Ja und Amen sagen kann. Dass wir dieser Begegnung den Weg bereiten und dass wir Menschen auf diese Begegnung ansprechen, ist der Kern alles missionarischen Geschehens in der Kirche.

Die Rede von der Kirche als „Raum der Freiheit“ ist angemessen, weil die Kirche nicht über die Freiheit verfügt. Sie lebt zunächst selbst davon, dass sie dem Wort von der Befreiung im Namen des Dreieinigen Gottes immer wieder Raum gibt. Und sie kann alles Menschenmögliche tun, dass sie so etwas wie ein guter Resonanzboden für dieses Wort wird. Dass Gott verheißen hat, sich ihrer Menschlichkeit nicht zu schämen, verhilft ihr zu einem gesunden Selbstbewusstsein. Bewahrt sie aber auch vor falscher Selbstgenügsamkeit.

Einen Raum kann man betreten und erfahren. Wir reden davon, dass ein Raum eine Sprache spricht, dass er ansprechend und einladend ist. Dass er etwas ausstrahlt oder dass er von einem guten Geist erfüllt ist. So hat sich in der alltäglichen Sprache erhalten, was im spezifischen Sinne für die Kirche als Raum der Freiheit gilt. Die alltägliche Sprache kennt allerdings auch andere Raummetaphern: In einem Raum kann es stickig und muffig sein. Er kann wie tot wirken oder so unaufgeräumt, dass man sich fragt, wer wohl hier wohnen mag und ob man wohl selbst überhaupt willkommen ist. Manchmal braucht es einen Gast, der einem die Augen dafür öffnet, wie der eigene Raum auf andere wirkt.

Zum Glück gibt es mehr als ein Beispiel dafür, dass Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in unserer Kirche und ihren Gemeinden den Perspektivwechsel unternehmen: dass sie selbst danach fragen, wie der Raum der Kirche einladend werden kann. Wie er gestaltet sein muss, damit er Menschen Freiheit atmen lässt und ihnen hilft, die selbstbewusste Fröhlichkeit des Glaubens zu entdecken. Dabei verstehe ich das Wort „Raum“ sowohl im wörtlichen wie im übertragenen Sinne.

Es gehört zu den spannendsten Entwicklungen der letzten Jahre, dass die evangelische Kirche ihre Kirchengebäude und Kirchenräume in vielfältiger Weise wiederentdeckt. Kirchen werden „verlässlich geöffnet“, so dass es immer weniger stimmt, dass man eine evangelische Kirche im Unterschied zu einer katholischen daran erkennt, dass sie im Zweifelsfalle außerhalb der Gottesdienstzeiten geschlossen ist. Kirchenpädagogische Angebote erschließen Kindern und Jugendlichen eine „Kirche zum Anfassen“. Gebetswände und Räume der Stille bieten auch in der Woche Menschen Gelegenheit, sich mit allem, was sie bewegt an Hoffnungen und Ängsten, Leid und Freude im Kirchenraum einzufinden.

Kirchenräume sind Orte der Begegnung und der Vergewisserung. Wenn sie in diesem Sinne bewusst angenommen und gestaltet werden, kann ihre Botschaft, kann das Wort der Freiheit, dass in ihnen sonntags verkündigt wird, Menschen auch alltäglich erreichen.

In besonderer Weise ist der Gottesdienst der Ort, an dem zum Ausdruck gebracht wird, was Christen trägt und wozu sie berufen sind. Die Freiheit der Kinder Gottes darf und soll gefeiert werden. Es gehört zum protestantischen Profil, dass Glaube geweckt und verstanden werden will - beidem dient eine evangeliumsgemäße Predigt. Zur Vergewisserung der Wahrheit über unserem Leben helfen aber auch liebevoll und bewusst gestaltete, einladende Formen gottesdienstlicher Feier. Es ist zu begrüßen, dass sich in unserer Kirche neben dem Gottesdienst am Sonntagmorgen, der weiterhin das Rückgrat unserer Feierkultur bildet und in den zu investieren sich allemal lohnt, andere Gottesdienstformen entwickeln, die ebenfalls mit Phantasie und Liebe gestaltet werden und auch für die einladenden Charakter haben, die nicht zur sonntäglichen Gottesdienstgemeinde gehören.

Und es ist gut, wenn sich Kirchengemeinden in einer Region absprechen, wenn sie mit ihren jeweiligen Gaben, Begabungen und Talenten wuchern, um möglichst viele Menschen aus den unterschiedlichen Milieus selbstbewusst und fröhlich anzusprechen. Wo das Thema der Freiheit des Glaubens den Ton angibt, kann man dabei in Stilfragen ein weites Herz haben.

Die Freiheit der Kinder Gottes will im alltäglichen Leben mit seinen Höhen und Tiefen ihre Kreise ziehen. Deshalb ist der ganze Bereich der Kasualien von nicht zu unterschätzender missionarischer Bedeutung. Auch und gerade die, die sich nur von Fall zu Fall am kirchlichen Leben beteiligen, erwarten bei einer Taufe, Hochzeit, Konfirmation oder der Beerdigung eines Angehörigen Lebensbegleitung aus dem Glauben heraus, erwarten Gebet und Segen, biblische Texte und Verkündigung. Ich glaube nicht, dass Menschen bei diesen Anlässen nur die Wiederholung des ihnen schon Bekannten wollen. Sie sind durchaus offen dafür, dass ihnen in der Kirche etwas heilsam Fremdes begegnet, das sie gerade so befreiend und ermutigend erreicht.  Was dabei für Pfarrerinnen und Pfarrer das Alltägliche und Normale ist, ist für die jeweils Betroffenen das Einmalige und Besondere – und sollte deshalb auch mit besonderer Aufmerksamkeit gestaltet werden. Hier sind neben der handwerklichen Sorgfalt mindestens ebenso der Geist bzw. die Haltung wichtig, aus denen heraus das Evangelium kommuniziert wird. Das, was in, mit und unter den Worten und Gesten mitschwingt und nicht weniger wirksam ist. Deswegen sollte auch in diesem Bereich wie bei allen missionarischen Bemühungen eine Frage beachtet werden: Stimmt der Geist unserer Aktion? Wollen wir Gott feiern oder Mitglieder jagen? Merkt man die Absicht und ist verstimmt oder spürt man den einladenden Geist der Freiheit und der Zuwendung und wird gestimmt, so dass man in Freiheit einstimmen kann?

Bei jedem der „Gottesdienste bei Gelegenheit“ wird übrigens über den Kreis der unmittelbar Betroffenen immer ein weiterer Umkreis von Menschen erreicht, darunter immer auch solche, die nicht (mehr) zur Kirche gehören. Und für viele, die (wieder) in die Kirche eintreten, ist nach eigener Aussage eine „gelungene Kasualie“ der letzte Anstoß gewesen: So geben 41% aller Neu-Eingetretenen und 24% aller Wieder-Eingetretenen an, dass sie „eine Amtshandlung angesprochen hat“.

Es gilt im guten Sinne: Gelegenheiten machen Gottesdienste. Deshalb kann es lohnend sein, auch neue und ungewohnte Anlässe für besondere Gottesdienste zu nutzen. „Neue Kasualien“, wie manche sagen, würde ich das allerdings nicht nennen. Denn „Kasualien“ sind diejenigen gottesdienstlichen Anlässe, auf die alle Glaubenden einen festen Anspruch haben, die beurkundet werden und die in anderen Zusammenhängen dann wieder von herausgehobener Bedeutung sind: Taufe, Konfirmation, Trauung, Beerdigung. Von einer Ausweitung dieses Begriffs halte ich nichts; aber von neuen Formen anlassbezogener Gottesdienste halte ich viel. So machen Kirchengemeinden gute Erfahrungen etwa mit einem Gottesdienst zum Valentinstag für Verliebte allen Alters oder einem Gottesdienst zum Ferienbeginn mit einem Reisesegen für alle Aufbrechenden – am besten unter freiem Himmel, so dass auch viele „treue Kirchenferne“ und Nichtchristen gern dazukommen, auch wenn sie bei diesem ersten Versuch nicht gleich eine Kirchenschwelle überschreiten müssen. Eine selbstbewusste Kirche geht mit ihrer Freiheitsbotschaft auf die Marktplätze dieser Welt und an die „Hecken und Zäune“, weil sie die Freiheit der Kinder Gottes allen Menschen gönnt – im Namen Gottes, „der will, dass allen Menschen geholfen wird und sie zur Erkenntnis der Wahrheit kommen“ (1 Tim 2, 4).

Die Kirche verkündigt nicht nur mit ihrem Wort, sondern auch mit ihrer Gestalt. Kirche als Raum gelebter Freiheit ist eine Zeugnis- und Dienstgemeinschaft. Diese aus der 3. Barmer These entwickelte Grundbestimmung bezieht sich auf die Kirche in all ihren Gestalten und Lebensformen; und sie bezieht sich auf alle Glieder der Kirche. Dieser Grundbestimmung entspricht die Kirche, wenn sie die Fähigkeiten und Kompetenzen all ihrer Glieder ernst nimmt. Versteht man die Kirche als Zeugnis- und Dienstgemeinschaft, dann gewinnen die gelebte Frömmigkeit christlicher Gemeinden, das fröhliche Zusammenleben, der aktive Einsatz engagierter Dienstgruppen und die vielfältigen Gestaltungsformen christlichen Lebens, wie sie etwa auf den Kirchentagen zusammentreffen, zentrale Bedeutung. Zeugnishafte Frömmigkeit, heitere Gelassenheit, selbstloses Handeln und furchtloser Einsatz strahlen aus; sie sind Zeichen der Freiheit aus Glauben. Kirche ist dann nicht ein ängstlich um seinen Bestand besorgter Verband, sondern eine offene und einladende, eine helfende und Konflikte austragende Gemeinschaft.

Eine Kirche, die ein Raum gelebter Freiheit ist, kann auch zum Anwalt der Freiheit werden. Schon immer haben die Kirchen hierin eine Aufgabe gesehen: das Eintreten für Menschen, die ihrer Freiheit beraubt wurden, das stellvertretende Reden für die, die sich nicht selbst Gehör verschaffen können, die Parteinahme für Fremde und ausländische Mitbürger, für Unterdrückte und Arbeitslose stehen deshalb auf der Tagesordnung der Kirche.

Dabei ist es im Zeitalter der Globalisierung noch wichtiger, diese Aufgaben nicht nur im engen nationalen Horizont zu sehen und wahrzunehmen, sondern die parochiale Struktur der Gewissen immer wieder zu durchbrechen, sensibel zu werden für die Herausforderungen der Freiheit an allen Orten. Denn die Freiheit ist unteilbar. Deshalb kann es nur darum gehen, die Globalisierung weder zu verteufeln noch zu vergöttern – sondern sie mitzugestalten, damit sie dazu beiträgt, dass Gerechtigkeit, Frieden und Freiheit über Grenzen hinweg Wirklichkeit werden.

Zum Schluss: Unsere jüdisch-christliche Tradition beschreibt Freiheit als Bewegung, als eine Bewegung zwischen Erinnern und Hoffen. Den Raum der Freiheit erreicht man durch Erinnerung: durch die Erinnerung an die freiheitliche Geschichte Jesu, in dessen Namen Menschen wieder auf die Beine kommen. In einer Kirche, die aus dieser Erinnerung lebt, ist die Hoffnung stärker als die Angst; in ihr ist die Gelassenheit stärker als die Sorge; in ihr ist der Mut der Freiheit stärker als die Erfahrung der Krise. Im Vertrauen auf Gott, in dem die Freiheit der Kinder Gottes gründet, kann sie selbstbewusst sein.

Jeder hat dafür seine Urerfahrungen. Eine meiner grundlegenden Erfahrungen für die Kirche als Raum der Freiheit fand in Südafrika statt, in der Mitte der achtziger Jahre. Von meinen Gastgebern hatte ich erbeten, dass ich einige Tage in einer schwarzen Township leben dürfe. Das war damals eine unerhörte Bitte; aber man traute sich nicht, sie mir abzuschlagen. Im Gegenteil: Manche jungen Weißen haben mir das später nachgemacht, zum Teil mit erheblichem Risiko. Ich aber war ein Gast, von der Regierung argwöhnisch beäugt. Aber man ließ mich gewähren. Meine Gastgeber nahmen mich mitten in der Woche in einen Gottesdienst mit: Ein schlichter Raum, durch den der Wind pfiff, karge Bänke, auf denen man sich nicht einmal anlehnen konnte, kein Schmuck – außer dem Leuchten in den Augen der Menschen. Sie sangen das Lied von der Freiheit. Sie wussten: We shall overcome. Wenige Jahre später waren sie wirklich frei. Sie hatten einen Raum der Freiheit geschaffen, aller Unterdrückung zum Trotz. Und sie waren vorbereitet, als die äußere Freiheit kam.

So stelle ich mir Kirche vor, unter welchen äußeren Bedingungen auch immer.