"Kirche der Reformation am Beginn des 21. Jahrhunderts - Eine Ortsbestimmung" / Vortrag zum 450jährigen Reformationsjubiläums in Baden

Wolfgang Huber

Zwar bin ich weder in Baden getauft noch ordiniert. Das eine geschah in der westlichen, das andere in der östlichen Nachbarregion der badischen Landeskirche. Aber aufgewachsen bin ich in Baden; hier habe ich die längste Zeit meines beruflichen Weges verbracht. Hier in Baden bin ich konfirmiert, übrigens genau vor fünfzig Jahren. Ich freue mich schon auf die Goldene Konfirmation in der Christuskirche in Freiburg. So ist es doch ein Dank an Heimat und Herkunft, den ich heute zum Ausdruck bringen will. Ich habe deshalb die Einladung zu diesem Tag mit großer Freude angenommen. Das Thema freilich hat es in sich.

I.

Den Spuren der Reformation in Baden nachzugehen, ist eine ähnlich vielschichtige Aufgabe, wie die Entwicklung des Landes selbst nachzeichnen zu wollen. „Fürstentümer und Gewalten ...“. Für das Jubiläumsjahr der Reformation, deren 450jährige Wiederkehr die badische Landeskirche heute feiert, lassen sich demgemäß äußerst vielfältige Ansatzpunkte finden. Darauf, dass nun gerade das Jahr 1556 als Schlüsseljahr für die Reformation in Baden gelten soll, führen einen die vorherrschenden Darstellungen der Reformationsgeschichte jedenfalls nicht automatisch hin. Deshalb mag es doch gut sein, vor der „Ortsbestimmung“ der „Kirche der Reformation am Beginn des 21. Jahrhundert“ zunächst einmal ihren Ausgangspunkt speziell hier in Baden in den Blick zu nehmen, um dann zu einer Diagnose unserer Zeit weiterzuschreiten und daran einige pointierte Wegmarkierungen anzuschließen.

II.

Mit guten Gründen ließe sich, lange vor dem Jahr 1556, der 26. April 1518 als ein reformatorischer Meilenstein sowohl für die Kurpfalz als auch für Baden bezeichnen. Luther disputiert auf dem deutschen Ordenskapitel der Augustiner im kurpfälzischen Heidelberg. Die Reformation gewinnt dadurch in hohem Maß an Reputation und Anhängerschaft im südwestdeutschen Raum. Johannes Brenz und Martin Bucer seien nur stellvertretend für viele und bedeutende andere genannt. Die großen Reichsstädte im Südwesten – Worms, Speyer, Straßburg, Ulm und Konstanz beispielsweise – schließen sich bald schon der Reformation an. Die Landesfürsten im Gebiet des heutigen Baden freilich verhalten sich recht unterschiedlich zu der neuen Bewegung. Bald zustimmend und aktiv voranbringend – wie der pfälzische Kurfürst Friedrich II., der Luthers deutsche Messe für die Heidelberger Pfarrkirchen vorschreibt –, bald abwartend und ausgleichend – wie Markgraf Ernst, der im später Baden-Durlach genannten Territorium zwar seine Kinder lutherisch erziehen lässt, sich aber offiziell nie gegen die Habsburger stellt –, bald antireformatorisch – wie die Nachfolger des protestantisch gesinnten Bernhard III. im baden-badischen Teil des Landes: Es ist ein buntes Bild, das uns in jener Zeit im Gebiet der heutigen badischen Landeskirche entgegentritt. Manche badische oder kurpfälzische Gegend war schon zur Reformation übergegangen, dann aber wieder katholisch geworden, bevor die Reformation schließlich dauerhaft in ihr Fuß fasst.

Den entscheidenden Durchbruch bringt eben doch erst der Augsburger Religionsfrieden von 1555. Denn als Reichsgrundsatz gilt seitdem, dass die Landesfürsten – wie die übrigen Reichsunmittelbaren – die Bekenntniszugehörigkeit in ihrem Territorium allgemein gültig festlegen können.

So führt Ottheinrich, der 1556 die Nachfolge Friedrich II. antritt, bereits am 4. April 1556 die Kurpfalz der Lehre Luthers zu. Am 1. Juni 1556 folgt ihm Karl II. (seit 1553 Nachfolger von Markgraf Ernst), der die Reformation in der Markgrafschaft Baden-Durlach einführt.

Heute ist demnach genau genommen der kurpfälzische Reformationsjubiläumstag. Aber man muss nicht die sprichwörtliche badische Liberalität bemühen, um das Angemessene der heutigen Feierstunde zu würdigen, sondern kann auch auf die Klugheit der Organisatoren verweisen, dass sie einerseits die historische Nähe zum 4. April und andererseits die lokale Nähe zu Durlach, der Residenz Karls II. ab 1565, in ihre Vorbereitungen mit einbezogen haben. Diejenigen Gebiete und Städte, die erst später im Bereich der heutigen badischen Landeskirche zur Reformation übertraten bzw. geführt wurden, werden sich ohnehin gern in diesen Tag einbezogen fühlen.

Auf der Grundlage der durch den Augsburger Religionsfrieden beförderten Entscheidungen wird die Reformation in Baden durch die Einführung einer Kirchenordnung dauerhaft etabliert. Das Selbstverständnis der heutigen Evangelischen Kirche in Baden orientiert sich an diesem Jahr 1556. Die Einführung der Kirchenordnung als historischen Ort der Erinnerung zu wählen, bedeutet, eine „ordentliche Reformation“ zu feiern, sich an jenen Moment zu erinnern, als das reformatorische Verständnis von Freiheit durch die gegebene Ordnung im Leben der Menschen Fuß fasst. An die  Reformation, so scheint es mir, erinnert man sich in Baden nicht als abstrakte Idee, als historische, theologische oder kirchenpolitische Größe, sondern als wirksame und lebenbestimmende Kraft.

Auch das andere muss man gleich hinzufügen. Heidelberg, von dem schon die Rede war, ist in die Reformationsgeschichte nicht nur durch Luthers Heidelberger Disputation, sondern auch durch den Heidelberger Katechismus von 1563 eingegangen. Dass Heidelberg zum Druckort des Katechismus wird, der unter den deutschsprachigen Reformierten am weitesten verbreitet ist und insofern das Gegenstück zu Martin Luthers Kleinem Katechismus darstellt, hat mit der Tatsache zu tun, dass Kurfürst Friedrich III., auch der Fromme genannt, im Jahr 1561 als erster deutscher Reichsfürst zum Calvinismus übertritt und dadurch dem reformierten Bekenntnis in Deutschland Heimatrecht verschafft. Das Nebeneinander von lutherischer und reformierter Konfession, damit aber auch der lange, schließlich glückliche Weg zur Union der reformatorischen Bekenntnisse hat also im Gebiet der heutigen badischen Landeskirche in ganz besonderer Weise seine Heimat. Darauf ist heute – in einer Zeit, in der die reformatorischen Bekenntnisse deutlich und bewusst zusammenrücken, in einer Zeit auch, die uns auf besondere Weise ökumenisch herausfordert – mit Dankbarkeit zu verweisen.

Damit sind wir schon bei der Frage angekommen, was am reformatorischen Aufbruch des 16. Jahrhunderts für uns am Beginn des 21. Jahrhunderts wegweisend ist. Die reformatorische Wiederentdeckung der zentralen biblischen Botschaft ist oft in dem vierfachen Allein gebündelt worden: allein Christus, allein die Schrift, allein die Gnade, allein aus Glauben. Immer wieder hat protestantische Theologie sich neu um die aktuelle Aneignung dieser reformatorischen Konzentration bemüht. Mit besonderer Klarheit und orientierender Standhaftigkeit tat dies die Bekennende Kirche, die in der Barmer Theologischen Erklärung von 1934 jene reformatorische Erkenntnis neu zur Sprache gebracht hat. Sie hat damit den einen, zentralen Glutkern der reformatorischen Erkenntnis freigelegt und neu formuliert.

Allein Christus  bekennen wir als das Wort Gottes, „das wir (wie es im Barmer Bekenntnis heißt) zu hören, dem wir im Leben und im Sterben zu vertrauen und zu gehorchen haben.“ Allein die Schrift erkennen wir als Erkenntnisquelle von Gottes Offenbarung an. Allein die Gnade betont Gottes Barmherzigkeit als die Mitte unseres Glaubens – mit der Folge, um wieder Barmen zu zitieren, dass „die Botschaft von Gottes freier Gnade auszurichten ist an alles Volk.“ Allein aus Glauben verweist auf die Würde und Unverwechselbarkeit jedes Menschen, den Gott als sein Ebenbild anredet und dem er die Fähigkeit verleiht, auf diese Anrede zu antworten. In diesem vierfachen Allein haben wir es bis heute mit einer Mitte, einem Kern, einer Glut zu tun, die vielleicht unter mancher Asche verborgen ist, die aber nach wie vor ein beträchtliches Feuer zu entfachen vermag.

III.

Aber wo stehen wir heute? Wie stellt sich die kirchliche Lage im Licht der beschriebenen reformatorischen Konzentrationsbewegung dar? Ich will mich einer aktuellen Ortsbestimmung mit Hilfe eines Zitats annähern.

„Was an der Haltung beider Landeskirchen auffällt, ist ihre heraushängende Zunge. Atemlos jappsend laufen sie hinter der Zeit her, auf dass ihnen niemand entwische.“ So heißt dieses Zitat. Es klingt nicht gerade freundlich. Aber es stammt auch von Kurt Tucholsky, der im Jahr 1930 so über die Kirchen in Deutschland geurteilt hat. Ungerecht, werden wir sagen – damals wie heute. Doch eine Gefahr jener Zeit, in der das „Jahrhundert der Kirche“ ausgerufen wurde, hat er vielleicht doch skizziert. Und es könnte sein, dass eine vergleichbare Gefahr auch heute akut ist. Derzeit bemühen wir uns, so scheint es bisweilen, gleichzeitig darum, mit der Säkularisierung gleichauf zu sein und die Zeichen für eine Wiederkehr der Religion nicht zu verpassen. Auch das kann atemlos machen und dazu führen, dass die Zunge heraushängt. Säkularisierung oder Wiederkehr der Religion: Beide Zeitdiagnosen kann man gegenwärtig jedenfalls hören.

Die eine Diagnose heißt: Säkularisierung. Zwar kann man in einer globalen Perspektive nicht von einem Rückgang der Bedeutung von Religion sprechen; vielmehr muss man von einer wachsenden Resonanz aller großen Weltreligionen ausgehen. Aber im Blick auf bestimmte Regionen, zu denen nicht nur die Mitte Europas, sondern beispielsweise auch Australien und Neuseeland gehören, kann man nicht bestreiten, dass sie in den letzten Jahrzehnten durch eine Erosion der Bedeutung von Religion für das persönliche Leben wie für das gesellschaftliche Zusammenleben geprägt waren. In Deutschland haben wir diesen Prozess verstärkt erlebt. Denn als er im Westen Deutschlands auf seinem Höhepunkt angelangt war, verknüpfte er sich infolge der Vereinigung Deutschlands zugleich mit den Folgen der Entkirchlichung im Osten Deutschlands.

Die andere Diagnose heißt: Wiederkehr der Religion. Auch in der deutschen Gesellschaft deuten sich gegenwärtig Verschiebungen an. Es gibt eine Wiederkehr der Religion. Aber sie wirkt sich keineswegs automatisch in einer verstärkten Zuwendung zum christlichen Glauben aus. Menschen verstehen sich wieder als religiös. Aber Klarheit darüber, was sie damit meinen, suchen sie oft nicht in den Kirchen.

IV.

Die Diagnose, wir seien Zeugen einer weit fortgeschrittenen und weiter fortschreitenden Säkularisierung, ist oft zu hören. Doch sie ist bei weitem nicht so klar, wie sie klingt. Denn schon der Begriff der Säkularisierung steckt voller Ambivalenzen. Sein Gebrauch ist so weit gespannt, dass es ihm oft an klaren Konturen fehlt.

Selten kennt man den Ursprung eines Wortes so genau wie in diesem Fall. Deshalb will ich Sie zu einem weiteren geschichtlichen Ausflug verlocken. Er führt uns nach Münster in Westfalen; wir sind Zeugen der Verhandlungen, die mit dem Westfälischen Frieden, dem Frieden von Münster und Osnabrück besiegelt wurden. Am 8. Mai 1646 nimmt der Herzog von Longueville, der französische Ambassadeur bei den Friedensverhandlungen in Münster, das Wort. In seinem Vortrag fällt zum ersten Mal der Ausdruck „säkularisieren“. Bis dahin meinte saecularisatio den Übergang eines Mönchs in den Stand des Weltpriesters, seinen Wechsel vom status regularis in den status saecularis. Nun erklärte der Herzog von Longueville, die katholischen Mächte könnten hinsichtlich geistlicher Güter, die der katholischen Kirche entzogen - secularisiret - würden, keinen ewigen Vergleich ohne ausdrückliche Zustimmung des Papstes abschließen. Die Aufhebung geistlicher Fürstentümer und die Einziehung von Kirchengut durch protestantische Reichsstände war also das Thema.

Ähnlich war es bei der großen Säkularisation der Jahre 1802/03. Dabei bezeichnete seit dem Reichsdeputationshauptschluss vom 25. Februar 1803 Säkularisation nicht nur die Überführung von Gütern, sondern auch von Regentenfunktionen in weltliche Hände. Beides traf vor allem die katholischen Stände und Bistümer. Die durch den Reichsdeputationshauptschluss vollzogene Säkularisierung führte folgerichtig das Ende des Heiligen Römischen Reiches herbei, das im Jahr 1806 besiegelt wurde. Das war übrigens genau vor zweihundert Jahren. Es ist ein Jubiläum, von dem man vergleichsweise wenig hört. Dabei hat es nachweisbare Auswirkungen bis zum heutigen Tag.

Säkularisierung meint im Gefolge dieser Vorgänge zunächst eine Veränderung der politischen Ordnung. Geistliche Fürstentümer gehören der Vergangenheit an; die Staatsangehörigkeit wird nicht mehr durch die Konfessionszugehörigkeit bestimmt; die Religionsfreiheit gilt für alle in gleicher Weise. Diese Veränderung der politischen Ordnung hat zu einer aufgeklärten Säkularität geführt, die man heute auch aus Gründen des christlichen Glaubens aktiv vertreten und verfechten muss. Denn diese aufgeklärte Säkularität und die mit ihr verbundene kategoriale Unterscheidung zwischen Staat und Religion hat sich als unumgängliche Voraussetzung für die Achtung der gleichen Würde jedes Menschen wie für die Wahrung der Religionsfreiheit erwiesen.

Häufig ist allerdings von einer Säkularisierung in einem viel weiteren und unbestimmteren Sinn die Rede. Es wird von einer Säkularisierung der Gesellschaft gesprochen, die mit einem rasanten Bedeutungsverlust der Kirchen verbunden sei. In diesem Sinne ist Säkularisierung immer wieder zu einem Synonym für die Zukunftslosigkeit des christlichen Glaubens geworden. Er habe, so wird gesagt, keine Zukunft, weil die Menschen nicht nach ihm fragen.

Es gibt eine Betrachtungsweise, die einen solchen Vorgang deshalb mit Gelassenheit sieht, weil dank einer Umbesetzung (Hans Blumenberg) die Gehalte des christlichen Glaubens gleichwohl aufbewahrt werden. Diese Betrachtungsweise versteht unter Säkularisierung vor allem die Umdeutung christlicher Gehalte zu Themen weltlicher Verständigung.

Genau dieser Vorgang ist nun allerdings am allerwenigsten dazu geeignet, aus der Säkularisierung auf eine Zukunftslosigkeit des christlichen Glaubens zu schließen. Dass Gehalte des christlichen Glaubens weltliche Entsprechungen finden, kann vielmehr gerade ein Hinweis auf deren nicht abgegoltene Kraft sein. Dass die Gottebenbildlichkeit des Menschen in der Vorstellung einer unantastbaren Würde oder die Verheißung einer Gemeinschaft, in der nicht Jude noch Grieche, nicht Mann noch Frau ist, im Gedanken einer herrschaftsfreien Kommunikationsgemeinschaft wiederkehren, lässt gerade nicht auf die Schwäche der Ursprungsmotive schließen. Sie müssen allerdings immer wieder in ihrem ursprünglichen, jede Säkularisierung überschreitenden Gehalt erkennbar gemacht werden. Gott lässt sich nicht säkularisieren, hat der Theologe Christof Gestrich zu Recht in diesem Zusammenhang festgestellt. Deshalb ist es ein Trugschluss, wenn die Kirche selbst auf die Säkularisierung der ihr anvertrauten Glaubensgehalte mit einer Selbstsäkularisierung antwortet, statt unter der Asche der Säkularisierung die Glut der ursprünglichen Glaubensmotive freizulegen.

Im Blick auf die Aspekte der Säkularisierung, die ich unterschieden habe, lässt sich also festhalten: Die Säkularisierung der politischen Ordnung ist eine Bedingung der Freiheit, auch der Religionsfreiheit. Diese Säkularisierung entspricht einem Motiv des christlichen Glaubens selbst: dem Respekt vor der gleichen Freiheit jedes Menschen. Die Säkularisierung im Sinn einer Transformation von Gehalten des Glaubens in Themen weltlicher Verständigung entzieht dem Glauben keineswegs seine Wahrheitskraft, sondern bezeugt sie. Sie sollte zum Anlass genommen werden, das für die Entschlüsselung solcher Vorgänge nötige Glaubenswissen wieder zum Bewusstsein zu bringen. Diese Art der Säkularisierung stellt also eine große Herausforderung wie eine große Chance christlicher Bildungsanstrengungen dar.

V.

Die andere Diagnose heißt: Wiederkehr der Religion. Die Begegnung mit der Religion steht wieder auf der Tagesordnung. Menschen fragen wieder weiter. Auch in unseren Breiten nehmen sie sich wieder wahr als die selbsttranszendenten Wesen, die sie sind. Religiöse Interessen werden lebendig. Kirche wird wieder gefragt.

Schon wird von einer Renaissance des Glaubens gesprochen. Aber die Religion ist nicht mehr nur die Angelegenheit der christlichen Kirchen, sondern begegnet in vielen individualisierten und privatisierten Formen. Viele Menschen sind fasziniert von der Esoterik mit ihrer bunten Mélange von Lebensbewältigungs- und Welterklärungsmodellen. Es gibt kaum einen kulturellen oder gesellschaftlichen Bereich, in dem man nicht Zeichen für eine Wiederkehr des Religiösen beobachten kann.

Gemessen an gängigen Urteilen ist das selbst schon eine Sensation. Ob Sie nun an den neuzeitlichen Fortschrittsoptimismus denken mit seiner These, mit der Zeit würden Gott und Glauben schlicht überflüssig werden, oder an den Anspruch der Wissenschaften, die Welt auch ohne die Hypothese Gott erklären zu können: inzwischen ist die Fraglichkeit der einen wie der anderen Position offenkundig geworden. Ob Sie sich an die Utopie einer klassenlosen Gesellschaft erinnern und an die Voraussage, die Religion als Opium des Volkes werde sich von allein erledigen, wenn denn nur die Verhältnisse gerecht geworden seien, oder ob Sie an die pseudowissenschaftlich-darwinistische Weltanschauung der Nazi-Zeit denken mit ihrem Ziel, nicht nur das Judentum auszurotten, sondern auch den schwächlichen Geist des Christentums: solche totalitären Ideologien haben sich selbst widerlegt. Auf andere Weise ist es auch um die Großerzählung des Projektes Aufklärung still geworden; denn auch eine sich selbst überlassene Vernunft, eine ohne Wertebindung existierende Rationalität überschreitet die Grenzen ihrer Zuständigkeit, wenn sie sich selbst absolut setzt.

Aber zugleich ist richtig: Der christliche Glaube hat gerade in der europäischen Entwicklung der letzten zwei Jahrhunderte seine Selbstverständlichkeit eingebüßt. Zwar wird inzwischen wieder verstärkt nach der Verwurzelung unserer Kultur in der jüdisch-christlichen Tradition gefragt. Aber dazu, diese Verwurzelung in einer europäischen Verfassung auch ausdrücklich zur Sprache zu bringen, sind wir noch nicht im Stande. Zwar merken wir, dass menschliche Verantwortung ihre Grenzen anerkennen muss und deshalb Verantwortung vor Gott und den Menschen ist. Aber in der Präambel einer europäischen Verfassung hat das noch keinen Platz.

Es entsteht ein neues Gespür dafür, dass ein komplett diesseitiges, rein wirtschaftstaumeliges und radikal konsumzentriertes Leben zu banal, zu äußerlich und zu oberflächlich ist. Je unerbittlicher die europäische Welt auf die globalisierte Wirtschaft ausgerichtet wird, je strikter Markt und Finanzkraft, Lohnnebenkosten und Konkurrenzkampf das Leben aller bestimmen sollen, desto stärker wird nach Gegenkräften gefragt. Die meisten spüren, dass Konsum allein nicht Halt gibt, dass Wirtschaft allein nicht Sinn schenkt, dass Funktionieren allein nicht Bedeutung verleiht. Mit der Rückkehr der Religion rebelliert die Seele der Menschen gegen ihre kommerzielle Reduktion.

Unverkennbar ist die Spagatsituation, in die wir als Kirchen in Deutschland dadurch geraten. Während die faktischen Handlungsmöglichkeiten der Kirchen zurückgehen, weil ihre finanziellen Spielräume enger werden, wächst zugleich die Nachfrage nach der geistlichen Orientierung, die von ihnen ausgeht. Die Kirchen und Gemeinden müssen darauf antworten mit der Konzentration auf das, was allein sie vertreten können: die Orientierung an der Wirklichkeit Gottes. Entwickeln wir Zutrauen zu den neuen und überraschenden Wegen, auf denen das geschieht.

In den Kirchen bedarf es eines noch stärkeren Bewusstseins dafür, dass das Vertrauen in ihre Kernkompetenz belebt und verstärkt werden muss: nämlich ein Raum für das Heilige zu sein, die Fähigkeit zu Glauben und Gebet zu erneuern, Menschen in der Mitte wie an den Grenzen ihres Lebens beizustehen. In evangelischer Perspektive muss sich das verbinden mit der Offenheit für Freiheit und Mündigkeit, für Säkularität und Wissenschaft. Das schließt die Einsicht in das gerade heute notwendige Grenzbewusstsein ein, also das Bewusstsein dafür, wo den menschlichen Bemächtigungsversuchen Grenzen gesetzt sind. Das eine Licht Jesu Christi soll auch gesehen und bezeugt werden in einer diesseitig gewordenen, wissenschafts-, wirtschafts- und machbarkeitsorientierten Welt, die die Sinnressourcen, die sie braucht, selbst nicht herzustellen vermag. Evangelisches Christsein ist in meinen Augen der stellvertretende Weg, einen aufgeklärten Glauben unter den Bedingungen der modernen Welt zu bezeugen.

VI.

Das führt mich zu einigen Wegmarkierungen, mit denen ich schließen möchte.

Zunächst: Jedes Reformationsgedenken vollzieht sich heute in einem ökumenischen Kontext. Wir erinnern uns dankbar daran, dass der entscheidende reformatorische Durchbruch, nämlich die Einsicht, dass die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, auch Gott allein zu ihrem Urheber hat, inzwischen von den getrennten Kirchen gemeinsam anerkannt wird. Man mag zu den Formulierungen der Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre im Einzelnen differenzierte Meinungen haben und gelegentlich die Frage erneuern, was denn am 31. Oktober 1999 in Augsburg unterzeichnet wurde: dass die Lehrverurteilungen, mit denen die Kirchen sich gerade in dieser Frage im 16. Jahrhundert überzogen, ihre Zeit hinter sich haben, steht außer Zweifel. Doch das bedeutet nicht, dass damit die konfessionellen Unterschiede obsolet und die jeweiligen kirchlichen Profile ohne Interesse wären. Die Kirchen der Reformation haben vielmehr unverkennbar einen besonderen Auftrag darin, in einem Zeitalter der Freiheit die christliche Freiheit zu vertreten, im Licht der gleichen Würde jedes Menschen die guten christlichen Gründe für die gleiche Beteiligung von Frauen und Männern an den kirchlichen Ämtern, die Leitungsämter eingeschlossen, geltend zu machen, kurz die christliche Verbindlichkeit von Freiheit und Gleichheit neu ins Bewusstsein zu heben.

In einer Zeit, in der sich ein individualistisches Freiheitsverständnis unverkennbar in Sackgassen verrannt hat, ist es eine besondere Aufgabe evangelischer Kirchen, eine Lebensform vorbildhaft zur Anschauung zu bringen, in der Freiheit und Verantwortung, Selbstbestimmung und Verlässlichkeit sich miteinander verbinden. Das übrigens ist der Gesichtspunkt, unter dem das christliche Ja zur Familie in der Vielfalt ihrer Formen gerade heute an der Zeit ist. In einer Zeit, in der wir mit guten Gründen nach den ethisch zu verantwortenden Grenzen für Forschungsmethoden wie für den Einsatz von Forschungsergebnissen der modernen Lebenswissenschaften fragen, ist es besonders wichtig deutlich zu machen, dass dies im Horizont der reformatorischen Tradition auf der Grundlage eines klaren Ja zur forschenden Durchdringung der Welt, ja auf der Grundlage eines Bündnisses von Glauben und Wissenschaft, Glauben und Bildung, Glauben und Aufklärung geschieht. Es liegt gerade im Interesse ökumenischen Zusammenwirkens, dass die evangelische Kirche sich ihres Kerns und ihres Auftrags auf neue Weise bewusst wird. Dass hier im Südwesten Deutschlands ein neues Gespräch über den Kanon der für evangelisches Glaubenswissen wichtigen Texte und Lieder in Gang gekommen ist, steht für mich übrigens in diesem Zusammenhang. Und ich freue mich darüber.

Im Licht solcher Entwicklungen sage ich: Der deutsche Protestantismus ist nicht erschöpft, sondern er lebt! Er wandelt sich, er zieht aus mancher vertrauten Wohnung aus und benutzt auch wieder einfachere Zelte und Unterstände. Das belastet und macht auch Kummer. Aber wir haben keinen Grund, Trübsal zu blasen.

VII.

Auf die Wiederkehr der Religion können wir nur aus dem Kern des christlichen Glaubens antworten. Aber worin besteht dieser Kern? Er hat es damit zu tun, dass wir in unserem Leben nicht nur auf die eigene Kraft bauen, sondern unseren Ort in der Welt wie unser persönliches Leben als Gabe empfangen. Glaube ist Vertrauen, weil er sich auf Gott richtet, der sich uns in Jesus Christus liebend zuwendet, bevor er etwas von uns fordert. Dieses Vertrauen bestärkt uns darin, mit unserer Gegenwart im Licht der Hoffnung umzugehen und uns die Zukunftsgewissheit nicht durch widrige Umstände aus der Hand schlagen zu lassen. Und schließlich enthält dieses Vertrauen die Kraft zur Umkehr. Schöpfung, Liebe, Hoffnung und Umkehr: so lassen sich die vier zentralen Motive eines Glaubens beschreiben, der in seinem Kern Vertrauen ist. Es geht darum, dass diese Grundmotive des Glaubens einen Ort im eigenen Leben wie in unserer Gesellschaft finden. Es geht darum, dass Menschen erleben und erfahren können: Gottvertrauen, Vertrauen in unsere Mitmenschen und Selbstvertrauen gehören zusammen.

Nach meiner Überzeugung sollte es nicht länger als typisch protestantisch gelten, dass wir das Innenleben des Glaubens, die spirituelle Landschaft im Herzen, die geistige Tiefe in der Seele vernachlässigen. Vielmehr werden wir gerade aus solcher geistigen Tiefe und theologischen Klarheit, aus dem Miteinander von theologischem Profil und spiritueller Dichte heraus auch in unseren Taten, in unserem Sagen und in unserem Trösten zu Tiefe und Klarheit kommen.

Ich bin davon überzeugt, dass neben kritischer Aufklärung und dialogischer Toleranz, neben sozialem Engagement und diakonischem Tun auch eine gereifte Innerlichkeit, auch eine an Bibel und Bekenntnis orientierte Sehnsucht nach einem Ankommen bei Gott eines der kräftigsten Widerstandsnester ist gegen allen religiösen Terrorismus und Fundamentalismus.

Neben dieser Arbeit an einer gereiften Innerlichkeit nenne ich als eine heute vordringliche Aufgabe die Erneuerung unseres Verhältnisses zur eigenen Kirche.

Protestanten verwechseln leicht die nötige Kritik an der Kirche mit einer Abwertung der eigenen Kirche. Viele unter uns reden von der eigenen Kirche sehr viel schlechter, als sie es verdient. Aber wie wollen wir eigentlich Menschen motivieren, in unserer Kirche mitzumachen, wenn wir sie selbst schlecht reden? Wen soll das überzeugen? Kritik an der Kirche ist nötig – nicht damit sie madig gemacht, sondern damit sie besser gemacht wird. Deshalb muss in solcher Kritik immer die Liebe zur Kirche erkennbar sein. Zugleich sollten wir uns unbefangen an dem freuen, was in der Kirche gelingt und was wir an ihr nicht missen möchten. Unsere Kirche braucht und verdient Menschen, die zu ihr halten, die gut von ihr reden, die sie mittragen und mitgestalten.

Die evangelische Kirche ist eine Gestalt und Konkretion der einen, heiligen, allgemeinen und apostolischen Kirche wie andere Kirchen auch. Wir haben Anteil an der gesamten Geschichte der Christenheit, nicht nur an den letzten fünfhundert Jahren. Unsere Grundtexte stehen in der Bibel; die frühesten Summarien unseres evangelischen Glaubens sind die altkirchlichen Glaubensbekenntnisse. Die Geschichte der frühen wie der mittelalterlichen Christenheit ist auch unsere Geschichte. Die Geschichte der Reformationskirchen beginnt also zur gleichen Zeit wie diejenige der katholischen und der orthodoxen Kirchen. Wir haben keinen Grund, uns für eine verspätete Kirche zu halten.

Dies tut dem Respekt vor den anderen Kirchen keinen Abbruch.

Als evangelische Kirche halten wir fest an einem ökumenischen Grundverständnis, in dem wir uns als Kirchen in unseren Unterschieden mit gegenseitigem Respekt und in gegenseitiger Achtung wahrnehmen, um so das gemeinsame Zeugnis zu stärken. Ich habe die Phase, in der wir uns derzeit befinden, eine Phase der „Ökumene der Profile“ genannt. Es gilt heute, das je eigene Profil zu entwickeln, den Respekt vor der Verschiedenartigkeit der Kirchen zu vertiefen und das Gemeinsame an unserem Zeugnis für das Evangelium zu kräftigen.

Es ist an der Zeit, dass wir den Wert unserer Kirche schätzen lernen und anderen liebenswert machen. Nur so können wir andere dazu motivieren, die Kirche als das zu nehmen, was sie ist: Gemeinschaft derer, die Gott vertrauen, Gehilfin des Glaubens, Verantwortungsgemeinschaft zur Weitergabe des Evangeliums, Mund der Stummen und stumm Gemachten, Wegweiser zur Quelle der Barmherzigkeit, Raum und Anwalt der Freiheit.

„Erinnern und Erneuern“ – das Motto des badischen Reformationsjubiläums führt beides zusammen: Den Blick auf die reformatorischen Wurzeln und den Blick voraus. Erinnern ist kein Selbstzweck. „Wer die Hand an den Pflug legt und sieht zurück, der ist nicht geschickt zum Reich Gottes“, sagt Jesus dazu mit schneidender Schärfe. Der Blick zurück ermutigt zum Blick nach vorn. Auf dem Weg nach vorn, auf dem Weg einer Kirche der Freiheit im 21. Jahrhundert, sei der badischen Landeskirche von Herzen Gottes Geleit gewünscht.