Lesen lernen - Zur Wiederentdeckung einer kulturellen Grundkompetenz aus evangelischer Perspektive

Wolfgang Huber

Vortrag bei der Jahrestagung des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels in Berlin

„Lesen lernen“ – mit diesem ebenso schlichten wie prägnanten Programm startet Philipp Melanchthon in den dreißiger Jahren des 16. Jahrhunderts ein einzigartiges Bildungsprogramm, dessen Erben wir in vielem noch heute sind. Schulen werden gegründet, Universitäten erhalten neue Lehrpläne, Lehrer werden ermahnt, auch Mädchen zu unterrichten. Melanchthon erarbeitet Schulordnungen, er schreibt Grammatiken und unterrichtet selbst mit großer Leidenschaft. Der „Praeceptor Germaniae“, der Lehrer Deutschlands, wie ihn schon die Zeitgenossen nennen, ist als 21jähriger Professor für Griechisch und Rhetorik an die Universität von Wittenberg gekommen und erlebt als enger Mitarbeiter Martin Luthers die heiße Phase der reformatorischen Bewegung. Sein Anliegen ergänzt die große Passion, die sich mit dem Einsatz Martin Luthers für das unverfälschte Evangelium von der Rechtfertigung des Gottlosen verbindet und hat in diesem Evangelium seinen eigentlichen Ursprung: es ist das Anliegen der Mündigkeit. Was aber haben Luthers Kampf für die Freiheit des Gewissens und das Alphabetisierungsprogramm des Melanchthon miteinander zu tun?

Für Melanchthon ist das Lesen keine Kulturtechnik unter anderen, sie ist für ihn schlicht die Grundlage für ein gottgefälliges Leben. Mündigkeit, als Fähigkeit verstanden, sich selbst ein Urteil zu bilden und dieses Urteil eigenständig vertreten zu können – diese Eigenschaft des Menschen wird, davon ist der im humanistischen Geist erzogene Gelehrte überzeugt, dadurch auf den Weg gebracht und gefördert, dass schon Kinder Bekanntschaft mit Büchern machen und dass aus dieser Bekanntschaft eine Freundschaft werde, die ein ganzes Leben andauert.

Nun, wird der eine oder andere einwenden, kein Wunder, dass ein Professor, der das protestantische Bekenntnis als Theologe maßgeblich prägt, sich auch dafür einsetzt, dass jeder Christenmensch eigenständig in der Bibel lesen kann. Das Buch der Bücher, von Luther so grandios in die deutsche Sprache übersetzt, braucht Leser und Leserinnen.

Indes: Melanchthons Engagement für die Verbreiterung der Lesefähigkeit richtet sich primär gar nicht auf die Lektüre der Heiligen Schrift. Sein Bücherkanon, an dem er Zeit seines Lebens arbeitet und den er immer wieder verändert, weil die Suche nach der perfekten Bücherliste offenbar unabgeschlossen bleiben muss, zeichnet sich durch eine denkbar weite Spannweite der Empfehlungen aus. Von den großen antiken Philosophen über theologische Kommentare bis hin zu den lateinischen Klassikern der Rhetorik, von Einführungen in die Astronomie über Musikhandbücher bis zur Dichtung und der literarischen Verarbeitung der griechischen Mythenstoffe ist alles dabei. Wissenschaftliche Literatur, alltagspraktische Ratgeber und große sprachliche Kunst, der Reformator spielt die Gattungen nicht gegeneinander aus, für ihn ergänzen sie sich aufs Schönste zu einem Bild der idealen Bibliothek, die alle Dimensionen des menschlichen Weltzugangs zugänglich macht. Melanchthons Lektüreempfehlungen umfassen folglich die ganze Bandbreite dessen, was in der Bibliothek der frühen Neuzeit Platz hatte.

„Lesen lernen“ – dieses Programm in der ausgreifenden Bedeutung, die über die bloße Buchstabierfähigkeit weit hinausgeht, eröffnet einen Zugang zum kulturellen Erbe der Vergangenheit, mehr noch, das Lesen ermöglicht eine Begegnung des Menschen mit sich selbst. Für Melanchthon ist das Buch ein Vermächtnis in buchstäblichem Sinne: etwas, was Generationen und Zeitalter weitertragen, weil es einen unermesslichen Wert für Gegenwart und Zukunft hat. Dieser Wert unterscheidet das Erbe von einem Relikt, dessen Weitergabe irgendwann einfach vergessen werden kann, weil seine Bedeutung unerheblich geworden ist.

Ein evangelischer Bischof, der heute über die Kulturbedeutung des Buches sprechen darf, steht auf den Schultern dieses Riesen Melanchthon. Meine Überlegungen verdanken sich den Einsichten des großen Theologen und Büchermenschen Melanchthon, die in vielem auch heute noch aktuell sind.

1. Bücher prägen Lebensgeschichten

Liest man Melanchthons Briefe an seine Studenten und Schüler, ist man immer wieder überrascht, wie sehr seine Lektüreempfehlungen auf die Biographie, das Alter, den Bildungsstand und den Erfahrungshorizont der einzelnen Adressaten zugeschnitten sind. Melanchthon ist schon ein berühmter Mann mit großen Verpflichtungen, doch er lässt es sich Zeit seines Lebens nicht nehmen, junge Menschen mit Einfühlsamkeit und Klugheit zum nachhaltigen Lesen anzuhalten. Für seine Adressaten soll die Begegnung mit Büchern dabei nicht zur lästigen Pflicht verkommen. Melanchthons Lektüreprogramme verführen eher, als dass sie verpflichten. Der allgemeine Kanon lesenswerter Bücher, der offensichtlich schon zu Melanchthons Zeiten schwer zu bestimmen war, wird von ihm immer wieder durch einen individuellen Kanon ergänzt. Diese individuelle Förderung, vom jungen Erstleser bis zum ambitionierten Jungprofessor, vom Bauernsohn bis zum Spitzenanwalt der damaligen Zeit, zeigt etwas davon, dass Melanchthon um die Macht der Bücher für die individuelle Lebensgeschichte wusste.

Bücher prägen Lebensgeschichten. Wer erinnert sich nicht an all die Abenteuer, für die man nichts weiter brauchte als eine Taschenlampe, damit die Eltern einen nicht erwischten, wenn man nachts durchs wilde Kurdistan ritt oder mit Michael Strogow auf der Flucht vor den Verfolgern Irkuzk erreichte. Kinder, die lesen, verwandeln sich in den Häuptling der Appachen oder in den Kurier des Zaren, sie machen mit der Roten Zora und ihrer Bande Rom unsicher oder sind mit Harry Potter auf der Suche nach dem Familiengeheimnis. Bücher eröffnen Kindern Welten. Sie fördern die Einbildungskraft und ermöglichen das spielerische Experimentieren mit Identifikation und Rolle. Kinder, die so von einem Buch gefangen sind, können stundenlang stillsitzen, ganz bei sich sein und doch weit entfernt in einer aufregenden Welt, die in dem Moment ins Kinderzimmer dringt, in dem ihre Sinne zwischen den Buchdeckeln eintauchen. Bücher als wundersamen Kosmos zu entdecken, den zu erkunden sich lohnt, das ist vielleicht die wichtigste Vermittlungskunst in Schule und Elternhäusern, aber auch in Verlagen und Buchhandel. Hier, in dieser frühen Lebensphase, wird die Voraussetzung dafür geschaffen, ob Bücher zu Freunden werden, auf die man sein ganzes Leben setzen kann.

Zu Melanchthons Zeiten waren übrigens viele Erwachsene, allen voran die Lehrer und die Pfarrer, gar nicht überzeugt davon, dass Kinder alleine lesen sollten. Zu sehr war man darum besorgt, die Einbildungskraft und das stumme Verstehen der Schützlinge nicht kontrollieren zu können. Das Buch erschien eher als Gefahr, weil der Gewinn an Selbstständigkeit, um den es Melanchthon zu tun war, bis weit ins achtzehnte Jahrhundert auch in protestantischen Kreisen suspekt war. Alleinlesen fördere Aufsässigkeit und sei deshalb nur für Männer zuträglich, so kann man in Pamphleten und Predigten lesen. Noch zu Beginn der Aufklärung diskutierten Gelehrte ernsthaft, ob das Alleinlesen Kinder und Frauen nicht in unzuträglicher Weise gefährde und bis zum Wahnsinn führen könne. Der Pater familias, der aus den Büchern seiner Wahl vorliest und Frau und Kinder unterweist, ist mehr als ein Genrebild, es war lange eine soziale Realität.

Melanchthons Einsicht in den großen Wert des Lesens hat sich gegen alle Widerstände durchgesetzt. Heute wissen wir, wie sehr die Fähigkeit des Alleinlesens die Persönlichkeit formt, wie sehr Urteilskraft und die Lust am Selberdenken mit Lektüreerfahrungen verbunden ist, auch wenn die Bücher, die Kinder und Jugendliche verschlingen, aus der Sicht von Erwachsenen nicht immer das Prädikat „wertvoll“ verdienen.

Das kulturelle Erbe, das es hier zu verteidigen gilt, gehört nicht in erster Linie hinter Glasvitrinen, es gehört in Schokoladenfinger und unter Kopfkissen mit Fußballlogo, es darf verknickt werden, man soll es mit ins Freibad nehmen und an den Strand, es passt in die Straßenbahn und dann und wann auch unter die Schulbank. Ich sage das in dieser Deutlichkeit, weil die Leseforschung beweist, dass der Sinn für Bücher am besten in den frühen Lebensjahren geweckt werden kann. Kinder haben ein Recht, lesen zu lernen, und dieses Recht kann sich nicht nur auf die Fähigkeit erstrecken, Straßenschilder und Beipackzettel zu entziffern oder Behördenformulare auszufüllen. Kinder haben ein Recht auf gut erzählte Geschichten; sie haben, davon bin ich überzeugt, auch ein Recht auf gut erzählte biblische Geschichten, weil diese Geschichten unsere Kultur wie eine Tiefengrammatik geprägt haben. Sie haben ein solches Recht in den Familien wie in den Kindertagesstätten, im Gottesdienst wie im Religionsunterricht. Aber in keinem dieser Orte lassen sich diese Geschichten einsperren. Vor allem lassen die Fragen der Kinder selbst sich nicht einsperren.

Kinder haben ein Recht darauf, dass ihre drängenden Fragen, auch Fragen der Religion, so beantwortet werden, dass ihnen die Lust am Fragen nicht vergeht. Kinder haben ein Recht zu erfahren, dass die Welt größer und bunter ist als das, was in ihrem eigenen Umkreis geschieht. Bücher vermitteln den Sinn dafür, dass Menschen anderswo anders leben, Bücher wecken den Sinn für Geschichte, Bücher ermöglichen es, anderer Menschen Leben kennen zu lernen. Und, was beinahe noch wichtiger ist: Bücher schenken fiktive Freunde, mit denen man sich identifizieren kann, die sich freuen und leiden wie man selbst, in denen man lernt, mit Konflikten umzugehen und Freude zu teilen.

Wenn Bücher einen Zugang zu unserer Kultur eröffnen, dann sind Bücher auch ein vorzügliches Mittel zur Integration von Kindern aus Migrantenfamilien. Deshalb müssen in die Programme des Deutschlernens Erstleseförderung und spielerische Lektüreerfahrung einbezogen werden. Bücher, seien es Romane oder Sachbücher, vertiefen nicht nur den Sinn für eine Sprache, in ihnen werden Werte vermittelt. Hier entstehen die Gelingensbilder für eine humane Gesellschaft; und hier kann sich jedes Kind ganz spielerisch einen eigenen Zugang zu den kulturellen Leitvorstellungen unserer Gesellschaft verschaffen.

In den letzten Jahrzehnten ist die Aufmerksamkeit von Wissenschaft und Literaturkritik für Kinder- und Jugendbücher deutlich gestiegen. Eigentlich erst in dieser Zeit sind sie als ein eigenständiger Forschungsbereich wahrgenommen worden. Das ist spät, aber trotzdem erfreulich. Wenn die Evangelische Kirche einen Jugendbuchpreis verleiht, dann will sie an dieser Stelle ebenfalls ein Zeichen setzen.

Bücher prägen Lebensgeschichten. Wie für vieles, was uns prägt, sind auch in diesem Feld die ersten Lebensjahre besonders wichtig. Vor diesem Hintergrund sind aktuelle Entwicklungen, wie sie die Bildungsforschung aufzeigt, dramatisch. Immer mehr Kinder wachsen in Wohnungen auf, in denen es keine Bücher gibt. Der Graben zwischen denen, die bei erstklassiger Förderung schon im Vorschulalter lesen können, und das vielleicht nicht nur in der Muttersprache, sondern zusätzlich auch in einer Fremdsprache, und denen, die bis zur Pubertät nie selbstständig ein ganzes Buch gelesen haben, wird wieder größer. Das dürfen wir nicht hinnehmen. Melanchthon hat mit großer Leidenschaft gegen den Analphabetismus seiner Zeit gekämpft, weil er ahnte, welche Gefährdung in dieser Bildungsarmut für Kirche, Kultur und Gesellschaft lag, die Gefahr nämlich, dass Menschen nicht zur Selbständigkeit gelangen und sich deshalb politisch, ideologisch und auch religiös manipulieren lassen. Mündigkeit war für ihn auch ein Mittel gegen Armut und Bürgerkrieg. Wir sollten uns an seine Einschätzung halten.

Die Demokratisierung des Lesens, die seit der frühen Neuzeit vor allem durch den neu entdeckten Buchdruck, durch das entstehende Verlagswesen und durch neuartige Vertriebswege mittels des Buchhandels möglich wurde, wird aktuell durch zweierlei bedroht: zum einen durch die massiven Mängel in der Integration aller Bevölkerungsschichten in den Prozess des lebenslangen Lesens, zum andern – und beide Ursachen verbinden sich miteinander – durch einen neuerlichen Technologiewechsel. Mit Fernsehen und Internet ist dem Buch eine mächtige Konkurrenz erwachsen, gegen die es schon im Kinderzimmer oft unterlegen ist. Zu verführerisch sind die flimmernden Bilder und schnellen Interaktionsmöglichkeiten, als dass die schnöde Buchstabenschrift auf Papier noch verlocken könnte. Wenn das Buch auf lange Sicht kein elitäres Gut für wenige werden soll, die seinen kulturellen Wert auf Grund ihrer eigenen Herkunftsgeschichte anerkennen, braucht es Räume, wo Kinder, Jugendliche und Erwachsene verlockende Erfahrungen mit Büchern machen können. Um nicht missverstanden zu werden: mir geht es nicht um die Verteufelung der neuen Medien. Der Buchmarkt hat ja mit dem Hörbuch seinen eigenen Weg gefunden, Buch und auditive Medien miteinander zu verbinden. Auch ich genieße es dann und wann, wenn die phantastische Stimme eines großen Rezitators mir Albert Camus, Thomas Mann oder den Briefwechsel zwischen Friedrich dem Großen und Voltaire vorliest. Dennoch sind Strategien nötig, die das Buch langfristig als Leitmedium sichern.

2. Bücher speichern Weltwissen und ermöglichen die Begegnung mit dem Fremden

An Melanchthons Lektüreempfehlungen erstaunt, ich sagte es schon, die Breite der Themen und Bücher, die der Reformator seinen Lesern und Leserinnen anempfiehlt. Kein noch so entlegener Wissensbereich fehlt. Von der Musik zur Astrologie, von der Dichtung bis zum Ratgeber, alles, was die breite Palette von Buchkatalogen heutzutage im Programm anzeigt, ist dem Schlagwort nach vorhanden. Für den Leser wie für den Ratgeber Melanchthon gilt das, was er von Büchern für die Bildung von Kindern und Jugendlichen erhofft, ebenso auch für Erwachsene. Bücher sind Speichermedien für jegliches Weltwissen. Sie lassen uns an Erfahrungen und Erkundigungen teilnehmen, zu denen wir selbst keinen unmittelbaren Zugang haben. Melanchthon geht dabei, anders übrigens als Martin Luther, so weit, auch solche Bücher zur Lektüre zu empfehlen, deren Thesen und Argumentationen er für historisch veraltet oder gar für weltanschaulich bedenklich hält. Ein prominentes Beispiel ist der Philosoph Aristoteles, der damals nach der Meinung vieler hinter Verschluss gehörte. Melanchthon hingegen ist gegen Verbote und für eine intensive Auseinandersetzung. Hier schärfe sich die Urteilskraft, hier, im Umgang mit dem Abweichenden, mit dem, was nicht mehr haltbar ist, oder mit dem, was man nur als Angriff gegen seine eigenen Überzeugungen verstehen kann, erweise sich allererst, ob die Mündigkeit des Lesers wirklich in Vollkommenheit ausgebildet sei. Diese Großzügigkeit hat ihren Grund in der außerordentlichen Kulturbedeutung, die Melanchthon dem Buch zumisst.

Im Buch wiederholt sich die Komplexität der Welt. Bücher sind die vorzüglichsten Speichermedien für jegliches Weltwissen, das Menschen angehäuft haben, und sei es aus der Sicht des gegenwärtigen Lesers noch so skurril. Bücher ermöglichen einen Zugang zum Fremden. Sie führen ein in fremde Gebräuche, Lebensumstände und Erfahrungen. Melanchthon ist vermutlich einer der ersten, die in den Bibliotheken nicht nur Wahrheitsansprüche, sondern auch eine ganze Kulturgeschichte vermuten und in ihr die Zeugnisse zu finden hoffen für all die Deutungskämpfe, die diese Kulturgeschichte ausmachen. Das, was Menschen über die Welt erkundet und erfahren haben, wird in seiner ganzen Faszination, aber auch in seiner ganzen Vorläufigkeit und Fehleranfälligkeit sichtbar. Bücher befragen sich so im Grunde gegenseitig. Übertriebene Ansprüche werden heilsam relativiert; und die Wege des Wissens werden offen gehalten. Das fördert Toleranz und Neugier, aber auch Achtsamkeit im Umgang mit Neuem.
Wer heute die Debatten in den Wissenschaften verfolgt, in denen Wissenstransfer über die schnellen elektronischen Datenwege erfolgt, kann nur hoffen, dass auch in der globalisierten Welt die Bibliotheken erhalten bleiben, weil nur sie den Sinn für das Vergängliche, Vorläufige, Fehlerhafte des menschlichen Wissens dokumentieren. Bücher können, anders als Dateien, deren Inhalt täglich, in manchen Disziplinen beinahe stündlich auf den neuesten Stand gebracht wird, Zeugnisse sein für die Vorläufigkeit wie für die Beständigkeit des Wissens über die Welt. Diese kulturelle Errungenschaft des Buches sollte besonders da ins Gedächtnis gerufen werden, wo Wissenschaften um des ständig Neuen willen auf ihr Gedächtnis verzichten wollen. Amnesie in Sachen Weltwissen kann sehr gefährlich werden, weil den Machtansprüchen, die sich mit Erkenntnissen verbinden, kaum etwas entgegen gesetzt werden kann.

Eine Wissenschaft, die ihrer gesellschaftlichen Verantwortung verpflicht bleiben will, braucht auch weiterhin die klassische Publikationsform des Buches. Deshalb braucht es Wissenschaftsverlage, die gemäß den qualitativen Ansprüchen an ihre Veröffentlichungen, Bücher als die Grundform wissenschaftlicher Publikation hoch halten, denen in Ergänzung und kritischer Begleitung elektronische Publikationsformen zur Seite treten. Anders als das Internet ist das Buch – und das ist keineswegs altmodisch – auf einen identifizierbaren Autor angewiesen, der sich verantwortlich erklärt für das, was er schreibt, der kritisch befragt werden kann und der Inhalte offensiv zu verteidigen bereit ist. Die epochale Errungenschaft verantwortlicher Autorschaft müsste sich eigentlich in einer Zeit, die so viel von Individualität redet, von selbst verstehen; sie muss in Wahrheit jedoch gegen vielfältige Formen ihrer Auflösung verteidigt werden. Sie darf übrigens auch nicht durch ein Veränderung des Urheberrechts gefährdet werden, die für Publizisten und Verlage in Wissenschaft und Künsten, insbesondere für die kleineren unter ihnen, die elementaren ökonomischen Grundlagen in Frage stellt. Bücher sind auf Öffentlichkeit angewiesen. Öffentlichkeit aber ist mehr als ein ökonomischer Markt. Denn sie ist nicht nur ein Ort für den Austausch von Waren, sondern ebenso ein Ort für den Austausch über Ideen. Sie ist also der Ort der ideellen Verständigung einer Gesellschaft. Vielstimmigkeit muss deshalb in ihr ebenso gesichert sein wie die Einhaltung qualitativer Standards. Es muss auch weiterhin Bücher geben, die nicht darauf getrimmt werden, Bestseller zu sein.

3. Bücher sind Medien des (Über)Lebenswissens

Nimmt man die beiden bisher hervorgehobenen Aspekte, unter denen wir das Buch als kulturellen Wert erster Güte charakterisiert haben, zusammen, also das Buch als lebensprägendes und als Weltwissen speicherndes Medium, kann man mit Fug und Recht sagen, Bücher seien Träger von Lebenswissen, ja, um mit dem Romanisten Ottmar Ette noch weiter zu gehen, Bücher seien Medien des Überlebenswissens. In den letzten Jahren ist es üblich geworden, die Rede vom Lebenswissen mit der Rede von den Lebenswissenschaften in Verbindung zu bringen. Wollte man heute eine Umfrage starten, würde vermutlich auf die Frage nach dem Lebenswissen mit dem Hinweis auf Molekularbiologie, Gentechnologie und andere „Lebenswissenschaften“ geantwortet.  „Lebenswissen“ als dasjenige Lebenswissen, das uns zur Orientierung dient, kommt vielen nicht mehr in den Sinn. Dass die Geisteswissenschaften in einem genuinen Sinn als „Lebenswissenschaften“ zu betrachten sind, ist weithin verdrängt.

Genau so aber redet Melanchthon vom Lebenswissen. Wer Bücher liest, wird eingeführt in die Kunst des Lebens. Wer liest, der findet Orientierung. Und wenn Ottmar Ette besonders mit dem Blick auf Literatur und Dichtung von Überlebenswissen spricht, dann erinnert er daran, dass das, was zum gelingenden Leben verhilft, eben nicht nur mit physiologischen und elektronischen Daten zu erheben ist. Ob der Mensch einen freien oder unfreien Willen habe, kann man mindestens so gut bei Dostojewkij studieren wie im Labor der Hirnforscher.

Die Sehnsucht nach Überlebenswissen scheint heute am ehesten noch in dem sprunghaften Anstieg der Nachfrage nach Ratgeberliteratur Ausdruck zu finden. Vielleicht stößt man auch an die Grenzen dessen, was Bücher leisten können, wenn man sich beispielsweise fragt, ob man Kinder aus Büchern erziehen, seine Frau nach einem Vademecum lieben und seine Mitarbeiter nach einem Leitfaden führen kann. Gleichwohl ist das neue Interesse an gutem Rat in Lebens- und Überlebensfragen nicht verächtlich zu machen.

Auch im Bereich der Religion stehen die Zeichen auf Ratsuche. Wie bete ich? Welche Rituale kann ich für meine Hochzeit wählen? Was sind die Grundlagen des christlichen Glaubens? Wie lese ich die Bibel? Wie unterscheiden sich Judentum, Christentum und Islam? Viele Selbstverständlichkeiten, die einmal beiläufig erworben oder praktisch eingeübt wurden, müssen neu erlernt werden. Und viele gute Antwortversuche knüpfen dabei an klassische Auseinandersetzungen mit der Frage nach dem guten Leben an, Antwortversuche, aufbewahrt in Bibliotheken, ohne die das gesammelte Überlebenswissen der Generationen vor uns nicht zugänglich wissen.

Denn Überlebenswissen findet sich auch jenseits der Ratgeberregale. Vor allem findet es sich in der Dichtung. Hier liegt vielleicht die besondere und bleibende Faszination des Buches. In den fiktiven Geschichten, in der kunstvollen Arbeit mit der Sprache verdichtet sich das Überlebenswissen, hier, mit den Protagonisten einer Erzählung oder eines Romans, können auch wir Erwachsenen Erfahrungen machen und unsere gemachten Erfahrungen spiegeln. Hier werden unsere Wertevorstellungen befragt, hier müssen sie das Experiment einer konkreten Geschichte überstehen, hier werden Vorstellungen des Scheiterns und des Gelingens nachvollziehbar. Die Bilder, die im Kopf des Lesers und der Leserin entstehen, sind allein schon deshalb allen Bildmedien überlegen, weil es die eigenen Bilder sind, die man durchs Leben trägt und die einen durchs Leben tragen.

Für Melanchthon und für alle, die auf seinen Schultern stehen, ist das Buch der Bücher, die Bibel, deswegen das ausgezeichnete unter den Büchern, weil es das Überlebenswissen in den weiten Horizont von Gottes Perspektive auf den Menschen stellt. Durch den Bezug auf diesen Horizont sprengt die Bibel ihre Kulturbedeutung. Sie spricht als Gottes Wort. Aber auch als Menschenwort, als Kaleidoskop voller Lebenserfahrung, prall gefüllt mit poetischem und gelehrtem Überlebenswissen, als ein grandioses Vermächtnis des christlichen Abendlandes, ist sie immer wieder einer neuen Lektüre wert. So zeigt das Buch der Bücher eben doch in exemplarischer Weise, worum es beim Lesen geht. Es geht darum, die Zeichen unserer Kultur auch in Zukunft noch entziffern zu können. Und es geht zugleich um ein Wissen, dass zum Leben, ja zum Überleben hilft.