CHRISTLICHE MORAL UND ÖKONOMISCHE VERNUNFT – EIN WIDERSPRUCH? - Festvortrag beim Dürnitz-Forum in Burghausen

Wolfgang Huber

I.

Wer sich auch nur ein wenig mit Burghausen, diesem wunderschön gelegenen Ort, beschäftigt, der stößt rasch auf den besonderen Erfahrungsschatz in der Geschichte dieser Stadt. Diese Stadt kennt beide Erfahrungen: Bevorzugung und Begrenzung, Aufschwung und Rückschlag. Die Bevorzugung ergibt sich schon aus der bemerkenswerten Lage an der Salzach, nahe dem Inn; das Erblühen durch den Salzhandel bestimmt die Geschichte der Stadt; als zweite Residenz der niederbayerischen Wittelsbacher wird die Burg zur größten Burganlage in Deutschland überhaupt und die Stadt erfährt neben München, Landshut und Straubing bis ins 17. Jahrhundert hinein große politische Aufmerksamkeit; Burghausen wird „das Frauenzimmer und die Kinderstube, der lustige Tummelplatz der fürstlichen Jugend und der ruhige Witwensitz der niederbayerischen Zweige des Hauses Wittelsbach“ genannt (Johann Georg Bonifaz Huber).

Aber neben dieser Erfahrung von Bevorzugung und Aufschwung steht die Erfahrung von Begrenzung und Rückschlag. Durch den Frieden von Teschen, der 1779 den bayerischen Erbfolgekrieg beendet, wird Burghausen in eine Lage am Rand Bayerns gedrängt. Die Auswirkungen eines historischen Augenblicks lassen Burghausen seine bevorzugte Stellung verlieren, Bildhauer und Maler erreichen die Stadt nicht mehr in dem Maß, das im Rückblick für die Zeit des Barock und des Rokoko zu erahnen ist. Und als Burghausen noch einmal zum für kurze Zeit zum „Mittelpunkt Europas“ wird, geschieht das nur deshalb, weil Napoleon in der Stadt lagert, Gefangene in die Kirche und Verletzte in die Spitäler steckt, und die Stadt regelrecht aussaugt. „Die Einwohner hätten verhungern müssen, wenn ihnen nicht aus entfernteren Gegenden Lebensmittel zugeflossen wären“ (J.G.B. Huber).

Enormer Reichtum gehört zu Burghausens Geschichte ebenso wie bittere Armut und Nächstenliebe. Der Druck der Ereignisse und die Frage nach den Chancen der Zuwendung zum Nächsten, die Eigengesetzlichkeit wirtschaftlicher und politischer Entwicklungen in ihrem Verhältnis zur Nächstenliebe: hier in Burghausen hat man das erleben können. Deshalb liegt es an diesem Ort nahe, zu fragen, wie sich dieses Verhältnis heute darstellt. Wie können wir heute mit dem Verhältnis von Bevorzugung und Begrenzung, von Aufschwung und Rückschlag umgehen? Wie bestehen wir heute die Spannung zwischen christlicher Moral auf der einen sowie politischen Gegebenheiten und wirtschaftlichen Erfordernissen auf der anderen Seite?

Diese Frage ist von unverkennbarer Aktualität. Die gesamte Gesellschaft und unser Sozialstaat sehen sich dieser Spannung zwischen Nächstenliebe und Finanzdruck ausgesetzt. Es ist ja schon bezeichnend, wenn sich Menschen gezwungen sehen, öffentlich dafür einzutreten, dass „Sozialstaat“ kein Schimpfwort werden darf. Wir leben offenbar unter Bedingungen, unter denen dies nicht mehr selbstverständlich ist. Deshalb müssen wir aufs Neue fragen: Worin liegt der Ausgangspunkt unseres Gemeinwesens? Welche Verantwortung haben die Gesellschaft und ihre Glieder? Wie tragen wir als Kirche und Diakonie zu dieser Verantwortung bei? Wie gehen wir mit der Spannung um, die unsere Zeit prägt?

II.

„Es war ein Mensch, der ging von Jerusalem hinab nach Jericho und fiel unter die Räuber; die zogen ihn aus und schlugen ihn und machten sich davon und ließen ihn halbtot liegen. Es traf sich aber, dass ein Priester dieselbe Straße hinabzog; und als er ihn sah, ging er vorüber. Desgleichen auch ein Levit: als er zu der Stelle kam und ihn sah, ging er vorüber. Ein Samariter aber, der auf der Reise war, kam dahin; und als er ihn sah, jammerte es ihn; und er ging zu ihm, goss Öl und Wein auf seine Wunden und verband sie ihm, hob ihn auf sein Tier und brachte ihn in eine Herberge und pflegte ihn. Am nächsten Tag zog er zwei Silbergroschen heraus, gab sie dem Wirt und sprach: Pflege ihn; und wenn du mehr ausgibst, will ich dir's bezahlen, wenn ich wiederkomme.“

Dieses Gleichnis Jesu, das Gleichnis vom barmherzigen Samariter, ist im vollen Wortlaut in weniger als eineinhalb Minuten vorgelesen. Aber es hat Weltgeschichte gemacht. Dieses Gleichnis ist nicht nur ein gutes Beispiel für die Prägekraft von Bibel und Christentum in Geschichte und Gegenwart. Es ist nach wie vor ein hilfreicher Schlüssel für die Bewertung aktueller Situationen und für den Zugang zu dem richtigen oder zumindest dem besseren unter mehreren sich bietenden Wegen. Und es ist zum Urbild helfender Zuwendung zum Nächsten geworden. Seine Wirkungsgeschichte in unserer Kultur – auch in unserer Rechtskultur - reicht bis dahin, dass die unterlassene Hilfeleistung zu einem Straftatbestand geworden ist. Wenn wir die Bereitschaft zur Dienstleistung von Christen und von der Kirche erwarten, dann haben wir bewusst oder unbewusst dieses Gleichnis im Sinn.

Doch mit welcher seiner Figuren wollen Sie sich identifizieren: mit dem Priester oder dem Leviten, die untätig vorüber gehen? Mit dem Samariter, der das Notwendige tut? Oder mit dem Wirt, der sich seine ja nicht unwichtige Hilfe angemessen bezahlen lässt? Gar mit dem, der unter die Räuber fiel? Abwegig ist keine dieser Alternativen. So hat es beispielsweise in jüngerer Zeit eine Diskussion darüber gegeben, ob unsere Diakonie nicht allzu sehr zum Wirt geworden sei, der sich seine Dienste bezahlen lässt, und auf den Samariter hofft, der bei Bedarf noch einmal wiederkommt und den zusätzlichen Aufwand bezahlt. Wir haben es uns angewöhnt, auf die Figuren des Leviten und des Priesters im Gleichnis herabzublicken. Aber – das möchte ich hier besonders betonen – der Samariter ist der einzige, der darauf vorbereitet ist, professionell zu helfen. Er hat das dafür Notwendige: Öl und Wein, um die Wunde zu versorgen, ein Tier, um den Verletzten zu transportieren, Geld, um die weitere Fürsorge für ihn zu bezahlen. Professionalität und Nächstenliebe sind keine Alternative! Sondern genau ihre Kombination macht die besondere Prägung, das „Alleinstellungsmerkmal“ kirchlicher Diakonie aus.

III.

Aber sind Wirt und Samariter wirklich die beiden Personen, mit denen wir uns heute am ehesten identifizieren? Manche halten es für eine „deutsche Krankheit“, sich in der Rolle des Überfallenen zu fühlen und in allen anderen erst einmal zumindest potentielle Räuber zu sehen. Dieses Gefühl, beraubt und allein gelassen zu sein, scheint bei vielen die gegenwärtige Diskussionslage zu bestimmen. Das Gefühl, dass der Wärmestrom gesellschaftlicher Solidarität versiegt, breitet sich aus. Vor allem der Staat versagt nach der Einschätzung vieler Menschen gegenüber der Aufgabe, eine verlässliche und für sie angemessene Versorgung sicher zu stellen. Mit seinem Rückzug von den sozialstaatlichen Aufgaben, so heißt der Eindruck, bestimmen Konkurrenzdenken und wirtschaftliches Profitinteresse das Feld. Der Streit um die Reformpolitik ist untergründig zu einem Streit auch um die Verantwortungsverteilung zwischen Wirtschaft und Staat geworden.

Die Wirtschaft kann – davon bin ich überzeugt – diese Diskussion nur dann bestehen, wenn sie deutlich zu erkennen gibt: Ihre Verantwortung geht über den eigenen Bereich hinaus. Unternehmer müssen klar erkennbar machen, an welchen Stellen sie diese Verantwortung wahrnehmen und welchen Ort die Wirtschaft nach ihrer Auffassung im Gesamtgefüge der Gesellschaft hat. So sehr man Wirtschaft als ein selbststeuerndes System betrachten mag, so sehr fragen wir jetzt neu nach einer Verantwortung in der Wirtschaft, die über das reine Eigeninteresse hinausgeht.

Dafür gibt es viele Beispiele gerade im Handeln mittelständischer Unternehmen, aber auch bei großen Konzernen. Soziale Verantwortung gilt in unterschiedlichen Zusammenhängen als Benchmark unternehmerischen Handelns. Aber manche Beispiele weisen auch in eine ganz andere Richtung. Die Wirtschaft insgesamt leidet unter dem dadurch entstehenden Glaubwürdigkeitsdefizit. Nötig ist deshalb ein offener und fairer Diskurs über das Zusammenspiel von sozialstaatlicher Verantwortung und wirtschaftlicher Effizienz. Inhaltlich richtet sich die Frage darauf, ob die Art und Weise, in der wir auf die Erfordernisse der Globalisierung reagieren, mit elementaren Anforderungen der sozialen Gerechtigkeit vereinbar ist oder nicht.

Soziale Gerechtigkeit bezieht sich nicht nur auf die jetzige Generation. Sondern sie bezieht sich genauso auf die Generation unserer Kinder. Die Frage der sozialen Gerechtigkeit konfrontiert uns mit der Frage, ob wir den nach uns Kommenden die gleiche Freiheit zuerkennen, die wir für uns selbst in Anspruch nehmen. Sie nötigt uns dazu zu prüfen, ob wir ihnen die gleichen Handlungsmöglichkeiten offen halten, von denen wir so selbstverständlich Gebrauch machen. Dann aber hat soziale Gerechtigkeit es nicht nur mit der Frage der Verteilungsgerechtigkeit zu tun, sondern sie muss zugleich als Beteiligungsgerechtigkeit verstanden werden. Wer Jugendliche nicht beteiligt, wer ihnen keine Möglichkeit zur Ausbildung und danach zu eigener Erwerbstätigkeit eröffnet, rührt an den Kern der sozialen Gerechtigkeit; wer die Jugendhilfe unbedacht kürzt, der geht an den Nerv des Sozialstaats. Er wird übrigens damit keine Kosten sparen; sondern die versäumte, vielleicht noch rechtzeitige Hilfe, die Beteiligung eröffnet, wird an anderer Stelle neue, vielleicht weit höhere Kosten hervorrufen.

Aber auch das sei in aller Deutlichkeit hinzugefügt: Wenn man soziale Gerechtigkeit als Leitprinzip bewahren will, dann darf man nicht alles und jedes unter diesen Begriff subsumieren. Wenn man den Sozialstaat zukunftsfähig erhalten will, dann muss man sich davor hüten, ihn systematisch zu überfordern. Weder soziale Gerechtigkeit noch Sozialstaat sind deshalb Leitbegriffe für ein pures Besitzstandsdenken. Aber in ihnen drückt sich die Vorstellung von einem politischen Gemeinwesen aus, das einmal auf die kurze Formel gebracht wurde: Die Stärke des Staates bemisst sich am Wohl der Schwachen. Wir dürfen unseren Blick nicht von denen abwenden, die am Straßenrand liegen. Die notwendige Leistungsorientierung darf die ebenso notwendige soziale Sensibilität nicht verkümmern lassen. Der Wärmestrom der Solidarität darf nicht versiegen.

IV.

Zu einem realistischen Bild der sozialen Lage in Deutschland gehört auch folgende Feststellung: Ganz unabhängig von der Zusammenlegung von Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe ist seit dem Jahr 2000 die Zahl der Sozialhilfeempfänger in Deutschland gestiegen. Zugleich aber - und das ist mir als Hinweis an dieser Stelle noch wichtiger - wächst die Zahl der Hilfsbedürftigen, die auch in diesem Netz noch nicht zureichend aufgefangen werden. In ungefähr vierhundert deutschen Städten gibt es inzwischen Einrichtungen zur Versorgung von Obdachlosen mit Lebensmitteln, Initiativen wie „Laib und Seele“ oder Suppenküchen; Tag für Tag versorgen sie mehr als eine halbe Million Menschen, die sich in einer Notsituation befinden. Solche Hilfe kann gar nicht nachhaltig sein. Immer häufiger stehen an diesen Orten Menschen an, die jäh aus einer bürgerlichen Existenz abgestürzt sind. Und dies ist ein besonderes Drama. Denn diese Menschen benötigen in dieser Situation dringlich psychosoziale Hilfe. Ohne eine solche wird dieser Zustand neue Kosten erzeugen.

Ein klarer und nüchterner Blick auf diese Situation zeigt, dass psychosoziale Beratungsangebote in diesen Fällen genauso wichtig sind wie materielle Hilfe. Ich halte es für unzureichend, dabei nur von der Frage zu reden, welche Transferleistungen wir uns in dieser Gesellschaft noch leisten können. Wir müssen uns auch fragen, welche Zuwendung zum Menschen wir uns in unserer Gesellschaft noch leisten wollen, und welchen Verzicht auf die Zuwendung zu den Menschen wir uns nicht leisten können. Das ist die Frage, die mich zuallererst beschäftigt.

Beteiligung und Befähigung sind bestimmende Kategorien von sozialer Gerechtigkeit. Risikoabsicherungen und Kompensationen für Notlagen treten dem ergänzend zur Seite; aber sie bilden nicht das Zentrum. Familienpolitik und Bildungspolitik werden vielmehr zu Kernthemen einer zukunftsorientierten, zukunftsfähigen und nachhaltigen Sozialpolitik. Sie stehen im Zentrum einer Reformpolitik, die diesen Namen wirklich verdient. Der Leitgedanke ist dabei die im Wirtschafts- und Sozialwort der Kirchen von 1997 gefundene Formel: „Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit“.

V.

Die christliche Ethik hat sich immer wieder als ein entscheidender Motor wirtschaftlichen Engagements erwiesen. Christliche Ethik in ihrer evangelischen Gestalt hat ebenso wie die katholische Soziallehre einen maßgeblichen Einfluss auf Konzeption und Entwicklung der sozialen Marktwirtschaft ausgeübt. „Verantwortete Freiheit“ – so lässt sich der Impuls bezeichnen, den die evangelische Gestalt des christlichen Glaubens in die ethische Begründung wirtschaftlichen Handelns eingebracht hat.

Neue Untersuchungen bestätigen, dass dieser Impuls von durchaus aktueller Bedeutung ist. Sie zeigen nämlich, dass die Lebenshaltung von Christen sich von anderen Lebenseinstellungen durch Verantwortungsbereitschaft und Zuversicht auszeichnet. Menschen, die von Gott auch im Angesicht von Schwierigkeiten Gutes erwarten, stellen sich zuversichtlicher auf die Zukunft ein als diejenigen, für die der Mensch das Maß aller Dinge ist. Menschen, die sich an die Liebe zum Nächsten wie zu sich selbst gebunden wissen, beziehen in ihre Überlegungen auch das Wohl des Nächsten und nicht nur das eigene Wohl ein. Menschen, denen bewusst ist, dass sie für ihr Leben im Letzten Gott Rechenschaft schulden, werden Anstand und Fairness auch dann gelten lassen, wenn die Verletzung dieser Regeln ihnen einen Vorteil bringen würde. Menschen, die aus der Zusage von Vergebung und Rechtfertigung leben, werden in jedem Menschen mehr sehen, als er selbst aus sich macht, und auch den Menschen in seiner Würde achten, der vor den Anforderungen der Leistungsgesellschaft versagt.

 Natürlich gibt es Themen der christlichen Ethik, die nichts oder nur wenig mit ökonomischen Fragen zu tun haben. Aber es gibt kein wirtschaftliches Handeln, das nicht direkt oder indirekt ethische Implikationen hat und auf ethischen Grundsatzentscheidungen beruht oder solche Entscheidungen verletzt. Es wird von einer bestimmten Motivation getragen und verfolgt Ziele, die sich niemals nur innerhalb der Grenzen von Angebot und Nachfrage beschreiben lassen, sondern die stets die Grundfragen menschlichen Seins und menschlichen Handelns berühren. Der Verfasser eines neueren Buchs zu unserem Thema – der Theologe und Manager Ulrich Hemel – hat es kurz auf den Begriff gebracht. Er sieht eine entscheidende Grundlage unternehmerischen Handelns „in der Unverzichtbarkeit persönlicher Verantwortung, im langfristigen Mehrwert ethischer Orientierung auch für wirtschaftlichen Erfolg und in der Forderung nach Professionalität, etwa im Bereich der Strategie und der Wertschöpfung“.

In unserer öffentlichen Diskussion spielen diese Grundfragen allerdings eine marginale Rolle. Weittragende wirtschaftliche Entscheidungen – Entscheidungen zum Abbau von Arbeitsplätzen sind nur ein Beispiel dafür – werden angekündigt, ohne dass der ethische Horizont solcher Entscheidungen ausgeleuchtet wird. Auch die politische Debatte folgt diesem Muster. Über steuerpolitische Details wird intensiver gesprochen als über die Frage nach dem Bild der Gesellschaft, an dem wir uns orientieren wollen. Doch auf diese Frage kommt es ebenso sehr an wie auf die Erhöhung des Spitzensteuersatzes oder der Mehrwertsteuer. Die unterschiedlichen Politikansätze sind von eben so hohem Interesse wie die Frage danach, worin Unternehmer heute ihre Verantwortung sehen, nicht nur für das eigene Unternehmen, sondern auch für die eigene Belegschaft, nicht nur für das eigene Interesse, sondern auch für das eigene Land. Deshalb sind auch die Unterschiede in weltanschaulichen und ethischen Fragen von hohem Gewicht; sie sollten deutlich ins Gespräch mit einbezogen werden.

VI.

Rationalität und Effizienz im Umgang mit Ressourcen sind heute insbesondere im Umgang mit den natürlichen Lebensbedingungen geboten – aus Nächstenliebe, aus Liebe für die nächste Generation und auch aus ökonomischer Einsicht. So kann eigentlich kein Gegensatz zwischen christlichem Menschenbild und ökonomischer Vernunft aufkommen. Da es in beiden Bezugssystemen letztlich um das Wohl des Menschen geht, müsste von vornherein klar sein, dass eine Orientierung aus dem christlichen Glauben und eine Orientierung an wirtschaftlicher Effizienz in dieselbe Richtung laufen. Nachhaltigkeit wird deshalb zu einem wichtigen Kriterium auch für wirtschaftliches Handeln.

Der Welt der Bibel und insbesondere den Traditionen der protestantischen Ethik ist jede Form von Verschwendung und Luxussucht fremd. Sparsamkeit und das kalkulierte zielorientierte Einsetzen von Ressourcen gehören zur Verantwortung des Christen. Man könnte geradezu sagen, dass der - in diesem Sinne - wirtschaftliche Umgang mit Ressourcen aller Art ein Akt der Nächstenliebe ist; denn er ermöglicht es, dass auch andere an diesen Ressourcen Anteil haben können. Immer wieder warnen die biblischen Texte vor der Anhäufung von Reichtum als Selbstzweck.

Unter solchen Gesichtspunkten fällt auch auf die menschliche Arbeit ein besonderes Licht. Sie gehört zum geschöpflichen Dasein des Menschen und bildet eine Grundform, in welcher der Mensch sein geschöpfliches Dasein tätig bejaht. Lieben und Arbeiten – so kann man sagen – sind Grundformen, in denen wir unserer Geschöpflichkeit dankbar innewerden. Dabei dient die Arbeit vor allem dazu, Lebensmittel in einem umfassenden Sinn des Wortes für sich selbst und für den Nächsten, ja für die ganze Gesellschaft bereitzustellen. Die Mitarbeit an der Schaffung von Wohlstand und gesellschaftlichem Reichtum ist in diesem Sinne jedem Christen aufgetragen. Die biblische Tradition ist sich völlig klar, dass in dieser Hinsicht jeder Mensch die Chance haben soll, die ihm von Gott gegebenen Gaben und Talente zu entwickeln, um seinen Beitrag zur gesellschaftlichen Wohlstandsentwicklung zu leisten. Deutlich ist allerdings auch, dass dies nicht zu einer Überforderung der Menschen und zu einer einseitigen Bevorzugung einer besonderen Leistungsgruppe führen darf.

Die Arbeit erfährt in der christlichen Tradition eine hohe Wertschätzung. Es ist schon bezeichnend, dass Martin Luther und Johannes Paul II. mit demselben Vergleich den hohen Rang der Arbeit betont haben: „Die Arbeit gehört zum Menschen wie zum Vogel das Fliegen.“ Um dieses hohen Rangs willen ist sie so zu organisieren, dass alle an ihr Anteil haben, auch die Leistungsschwächeren. Zudem sind der Arbeit durch den Sonntag und durch andere Regelungen Grenzen gesetzt, die zum Wohle des Menschen einzuhalten sind. Wirtschaft soll durch alle betrieben werden. Die Ungleichheit, die mit der Gestaltung der Wirtschaft einhergeht und die den Leistungsfähigeren und den Leistungsbereiteren mehr zukommen lässt als den Leistungsschwächeren und den Leistungsunbereiteren, darf nur so groß sein, dass durch die dadurch gesteigerte Produktivität auch den Schwächeren ein würdiges Leben ermöglicht und ein voller Anteil an der Gesellschaft eröffnet wird. Gerechtigkeit ist auf diesem Hintergrund insbesondere als Befähigungs- und Beteiligungsgerechtigkeit zu verstehen. Eine Gesellschaft, in der so viele Menschen von Arbeitslosigkeit betroffen sind, wie das bei uns gegenwärtig der Fall ist, hat deshalb ein elementares Gerechtigkeitsproblem.

Wenn wir die Würde des Menschen ernst nehmen, dann muss die Wirtschaft im Dienst des Menschen stehen und nicht umgekehrt – oder in Abwandlung eines Wortes Jesu über den Sabbat: Die Wirtschaft ist um des Menschen willen da und nicht der Mensch um der Wirtschaft willen.

Von diesem Gedanken her muss die Kirche allen Tendenzen widersprechen, kulturelle Güter ökonomischen Kalkülen zu opfern – auch dann beispielsweise, wenn Feiertage abgeschafft werden sollen, um dadurch eine geringfügige Steigerung des Bruttosozialprodukts zu erreichen. So weit dafür eine Verlängerung der Arbeitszeit nötig ist – aller Wahrscheinlichkeit nach übrigens nur jeweils branchenspezifisch und nicht einfach generell – , sind dafür sinnvollere und intelligentere Wege zu suchen als die generelle Abschaffung von Feiertagen. Auch die Auseinandersetzung um den Sonntag ist von daher zu verstehen: Der Sonntag symbolisiert aus biblischer Sicht die Grenze des Ökonomischen - “Ohne Sonntag sind alle Tage Werktage“ - und muss deswegen um der Menschlichkeit des Menschen willen erhalten bleiben.

VII.

Aus all diesen Gründen müssen wir uns der christlichen Grundlagen unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens neu bewusst werden und dabei auch die Bereitschaft zu verantwortlichem Handeln in der Wirtschaft stärken und unterstützen.

Heute entsteht ein neues Gespür dafür, dass ein komplett diesseitiges, rein wirtschaftstaumeliges und radikal konsumzentriertes Leben zu banal, zu äußerlich und zu oberflächlich ist. Je unerbittlicher die europäische Welt auf die globalisierte Wirtschaft ausgerichtet wird, je strikter Markt und Finanzkraft, Lohnnebenkosten und Konkurrenzkampf das Leben aller bestimmen sollen, desto stärker wird nach Gegenkräften gefragt. Die meisten spüren, dass Konsum allein nicht Halt gibt, dass Wirtschaft allein nicht Sinn schenkt, dass Funktionieren allein nicht Bedeutung verleiht. Mit der Zuwendung zur Religion rebelliert die Seele der Menschen gegen ihre kommerzielle Reduktion.

Wir müssen für Bedingungen dafür sorgen, dass Menschen sich ihres Glaubens neu gewiss werden und auch das nötige Glaubenswissen aneignen können. Für die Kirchen liegt darin eine große Herausforderung. Aber ebenso müssen wir die Bereitschaft zu verantwortlichem Handeln in den Unternehmen stärken. Es gibt nach meiner festen Überzeugung kein Unternehmen, das nur auf der Grundlage des Eigeninteresses der Beteiligten überleben könnte. Unternehmen, die nur auf kurzfristige Gewinnerzielung setzen, sind ganz schnell auf der Verliererseite. Denn ihnen geht leicht eine wichtige Ressource verloren, die Ressource des Vertrauens. Sie steigern ihre Kapitalrendite, verspielen aber unter Umständen einen wichtigen Teil ihres Vermögens, nämlich das Humanvermögen.

Die evangelische Kirche zeichnet seit Jahren Unternehmen mit einer vorbildlichen Unternehmenskultur sowie einer Personalpolitik, die an der Schaffung und Erhaltung von Arbeitsplätzen, an der Vereinbarkeit von Familie und Beruf, an der Bereitschaft zur Förderung der jungen wie der Achtung der älteren Arbeitnehmer orientiert ist, mit dem Arbeitsplatzsiegel "ARBEIT PLUS" aus.

Zu den großen Herausforderungen unserer Zeit gehört vor allen Dingen die Entwicklung der Weltwirtschaft. Wird sich in ihr das europäische und insbesondere deutsche Modell einer sozial verantworteten Wirtschaft als überholt erweisen? Oder enthält die Globalisierung auch eine Chance dazu, Maßstäbe der sozialen Verantwortung auch international stärker zur Geltung zu bringen, als dies bisher möglich war? Bei aller Globalisierung ist es offenkundig nötig,  dass die Wirtschaft einen realen Bezug zu den Menschen, zu dem Land, zu den Räumen und Zeiten behält, in denen sie sich vollzieht. Es hängt auch an uns, dass christliche Ethik und wirtschaftliches Handeln nicht beziehungslos auseinandertreten, sondern immer wieder miteinander verbunden werden – mit klarem Kopf, aber mit heißem Herzen.