"Kirche im Aufbruch" - Eine Zeitansage zum Kongressthema der Arbeitsgemeinschaft Missionarische Dienste in Leipzig

Wolfgang Huber

I.

Die Stadt Leipzig und das Wort Aufbruch gehören in der Erinnerung unseres Landes untrennbar zusammen. Den Abend des 9. Oktober 1990, ein Jahr nach dem bewegenden Tag in Leipzig, der für die Wende eine so entscheidende Bedeutung hatte, habe ich hier in Leipzig in der Nikolaikirche verbracht; ich werde diesen Abend nie vergessen. Da war der Wille zu spüren, den Geist des Aufbruchs lebendig zu halten in der Gesellschaft wie in der Kirche. Wie weit das gelungen ist, mag ein andermal diskutiert werden. Für die Kirche jedenfalls können wir miteinander wissen, dass wir einen Geist des Aufbruchs nicht nur weiterhin, sondern aufs Neue brauchen. Leipzig ist ein guter Ort, darüber nachzudenken.

Die Friedensgebete in der Leipziger Nikolaikirche waren einer der maßgeblichen Ausgangsorte für die politischen Veränderungen des Jahres 1989. Wir sind das Volk und Keine Gewalt! – dieses doppelte Motto bewegte die Menschen in dieser Stadt und darüber hinaus. Es führte sie in die Kirchen und auf die Straßen. Es half ihnen, zu den Montagsdemonstrationen, die sich von Leipzig über das Land ausbreiteten, aufzubrechen – trotz aller Erfahrungen in der Vergangenheit und trotz ihrer Ängste vor dem, was passieren könnte, trotz aller Ungewissheit darüber, was die Zukunft tatsächlich bringen würde.

Die Mühen der Ebene haben seit 1989 auch manche Enttäuschung mit sich gebracht. Aber entscheidend bleibt die Erfahrung der Veränderung und des Aufbruchs. Die Erinnerung an die Wende führt in Dankbarkeit und Zuversicht:

In den Dank für eine friedliche Revolution, die erhofft und erbeten wurde und die doch letztlich etwas von einem unverfügbaren Kairos gehabt hat.

In die Zuversicht, weil aus der dankbaren Erinnerung an diesen Aufbruch für die Zukunft eine Hoffnung erwachsen ist, die Realitäten weder enthusiastisch zu überspringen versucht noch sich fatalistisch mit ihnen abfindet. Sondern diese Hoffnung setzt darauf, dass Veränderung und Aufbruch auch zukünftig möglich sind.

Viele Menschen spüren, wie entscheidend es ist, ob wir eine solche Hoffnung gewinnen. Sie spüren es vielleicht gerade dann, wenn sie merken, dass ihnen die Hoffnung auf Veränderung abhanden zu kommen droht. Ohne Hoffnung kommt die Zukunft schon alt bei uns an, sagt ein Aphorismus. Das gilt im Blick auf die Zukunft jedes Einzelnen und für die Zukunft unserer Gesellschaft. Und es gilt auch für die Zukunft unserer Kirche und ihrer Gemeinden. Nichts brauchen wir so sehr wie eine lebendige Hoffnung, die uns zum Aufbruch motiviert und für den Weg Kraft und Orientierung gibt.

II.

Dieser Kongress will zur Hoffnung anstiften. ... denn dein ist die Kraft – Für eine wachsende Kirche – so steht es programmatisch über diesen Tagen.

Ich will dieser Hoffnung in vier Schritten nachgehen:

Zunächst frage ich danach, worauf die Zeile des Vaterunsers, die den ersten Teil unseres Themas bildet, grundlegend und hoffnungsstiftend hinweist.

Anschließend skizziere ich die äußeren Rahmenbedingungen, denen sich die Kirche heute und in den nächsten Jahrzehnten stellen muss.

In einem weiteren Schritt soll es um eine theologische Vergewisserung über den Grund der Kirche als Kirche der Freiheit gehen.

Abschließend skizziere ich die wichtigsten Weichenstellungen und daraus folgende Konsequenzen für eine Kirche im Aufbruch.

III.

Gotteslob und Gottesbeziehung

Denn dein die Kraft – das Thema zitiert die Doxologie, mit der das Vaterunser endet.

Das Gebet und das Gotteslob bilden heute Abend zu Recht den Anfang des Kongresses. Sie erinnern uns damit an die grundlegende Wahrheit: Kirche lebt aus der Beziehung zu Gott. Von der Gottesbeziehung lebt auch jeder Aufbruch in der Kirche – von ihren Anfängen bis heute.

Der Rat der EKD hat gerade ein Impulspapier zur Zukunft der Kirche veröffentlicht. Es will einen Impuls zum Aufbruch geben. Doch ob der Kirche insgesamt und ihren Gemeinden ein Aufbruch gelingt, hängt nicht zuerst davon ab, ob wir überzeugungskräftige Perspektivpapiere formulieren. Was von Anfang an die Mitte der Gemeinde Jesu Christi ausgemacht hat, ist auch für ihre Zukunft entscheidend und maßgebend: Und sie waren täglich im Tempel einmütig beieinander und brachen in den Häusern das Brot, sie nahmen die Mahlzeiten ein voll Freude und lauterem Herzen, sie lobten Gott und waren beim ganzen Volk beliebt, so heißt es in dem Bericht der Apostelgeschichte (2, 46f.) über das Leben der ersten christlichen Gemeinde; ich höre diesen Text auch heute als einen Hoffnungstext.

Denn dein ist die Kraft. Die Gottesbeziehung ist der Dreh- und Angelpunkt der Kirche; das Gotteslob ist die Kraftquelle für jeden Aufbruch. Gott sei Dank steht und fällt die Zukunft der Kirche nicht mit uns. Wir sind es doch nicht, die da die Kirche erhalten könnten. Unsere Vorfahren sind es nicht gewesen. Unsere Nachfahren werden’s auch nicht sein; sondern der ist’s gewesen, ist’s noch und wird’s sein, der da sagt: ‚Ich bin bei euch alle Tage.’ (Martin Luther).

Das entbindet uns nicht von der Verantwortung für unser Tun und Lassen. Ein jeder ist an den von ihm verantworteten Bereich gewiesen; doch zugleich darf er wissen, Empfangender zu sein. Wenn David Denicke dichtet Gott loben, das ist unser Amt (EG 288,5), dann zielt dies bekanntlich nicht auf eine Dienstanweisung für Organisten und Chorleiter, sondern auf eine grundsätzliche Platzanweisung für Christen vor Gott und in dieser Welt: Wir sind berufen, in all unserem Tun zum Lob seiner Herrlichkeit (Eph 1,14) beizutragen.

Denn dein ist die Kraft. Dieses Lobgebet steht vor aller Strategie und aller Planung. Es lässt sich nicht verzwecken, sondern antwortet auf die Güte und Gnade Gottes. Und gerade so stellt es die unüberbietbare Kraftquelle für jeden Aufbruch dar. Alle theologische Arbeit, alles Überlegen und Streiten um den Weg der Kirche, zu dem Sie sich in Foren, Seminaren, Workshops und Gesprächsgruppen in den nächsten Tagen treffen werden, stünde ohne die Verankerung im Lob Gottes doch zumindest in der Gefahr, so etwas wie ein tönendes Erz oder eine klingende Schelle (1. Kor 13, 1) zu werden. Das Lob Gottes gibt Halt in aller Veränderung. Es hilft, auf- und durchzuatmen und so die nötige Luft zum Aufbruch zu schöpfen. Denn das ist doch das Geheimnis des Gotteslobes, gerade auch in seiner gesungenen Form: dass es nicht nur die Lunge, sondern auch das Herz weit werden lässt.

IV.

Kirche in unserer Zeit – Chancen und Herausforderungen

Ich will und kann, ich muss es heute Abend aber auch bei einer Skizze belassen.

Wenn ich von Chancen und Herausforderungen spreche, dann steht dahinter die Überzeugung, dass wir uns keinen Gefallen tun, wenn wir die Analyse der Rahmenbedingungen für gegenwärtiges und zukünftiges Handeln der Kirche auf einen einfachen Begriff bringen. Erst recht tun wir uns keinen Gefallen, werden aber auch der Situation nicht gerecht, wenn diese Beschreibung der Rahmenbedingungen einfach in Moll gehalten ist.

Denn wir erleben in unserer Gesellschaft beides nebeneinander: auf der einen Seite einen starken Traditionsabbruch, der dem Bezug auf den christlichen Glauben und seine Überlieferungen alle Selbstverständlichkeit nimmt, und zugleich eine starke Tendenz zur Respiritualisierung, die an die Sprache des Glaubens anknüpfen möchte, aber sich ebenso in fremden Religionen und Kulturen Hilfe sucht.

Heute können viele Menschen – und das gilt nicht nur für die, die nie einer Kirche angehört haben – mit der Bedeutung hoher kirchlicher Feiertage inhaltlich nur noch wenig anfangen. Besonders im jugendkulturellen Milieu der etwa Dreißigjährigen ist eine innere Distanz zu Glauben und Kirche mit Händen zu greifen. Setzt diese Gruppe doch in der eigenen Wertorientierung auf Unabhängigkeit, Lebensgenuss und Attraktivität und meint deshalb, eine vornehmlich als Hilfsorganisation verstandene Kirche nicht zu brauchen.

Doch zugleich spielen religiöse Fragen wieder eine stärkere Rolle. Das zeigen viele persönliche Gespräche. Es wird durch Meinungsumfragen belegt. Das zeigt aber auch ein Blick in die Medien, in die Filmthemen, in die Theaterlandschaft oder in die bildenden Künste. Es ist nicht mehr peinlich, nach Sinn zu suchen, über Halt und Heimat zu diskutieren und nach Gott zu fragen – also nach dem, was größer ist als das Kaufbare und das Machbare. Die öffentlichen Sprecher für solche Fragen sind in den Zeitungsredaktionen ebenso zu Hause wie in Theaterteams oder Literaturzirkeln.

Man kann fragen, ob diese neue Aufmerksamkeit für das Religiöse aus einer glaubenden Haltung heraus wächst. Man wird die Haltung, aus der diese Aufmerksamkeit entsteht, eher fragend, neugierig und offen als bereits glaubend nennen. Und es ist keineswegs sicher, dass dieses diffuse Interesse an Religion einer Aufmerksamkeit für das Evangelium oder dem Interesse an Kirche zu Gute kommt. Dennoch lässt sich nicht leugnen, dass religiöse Themen auch in der öffentlichen Diskussion nicht mehr einfach tabu, sondern durchaus wieder an der Zeit sind. Die christlichen Kirchen haben deshalb im Blick auf ihre eigenen zentralen Themen neue Chancen – und sollten diese bewusst und offensiv wahrnehmen.

Dass die Kirche und ihre Gemeinden nicht über jede Kritik erhaben sind, ist so wahr, wie es wenig motivierend ist. Aus einer Analyse der Schwachstellen allein kommt es nicht zu einem Aufbruch. Deshalb gehört es zur Wahrnehmung der Situation, nicht nur auf die Milieuverengung in unseren Gemeinden oder den manchmal unüberschaubaren Pluralismus in der evangelischen Kirche als mögliche Gefahren hinzuweisen. Noch viel wichtiger ist es, die nach wie vor erstaunlichen Ressourcen für kirchliches Handeln und ebenso das beglückende Gelingen guter kirchlicher Arbeit in den Blick zu nehmen. Zum Lob Gottes gehört auch, dass wir nicht klein reden, sondern groß sein lassen, was er unter uns bewirkt. Bei denen, die unsere kirchliche Wirklichkeit nur schlecht reden, frage ich mich manchmal, ob sie dem Heiligen Geist eigentlich gar nichts mehr zutrauen.

In dieser Woche begleitet uns ein Abschnitt aus dem ältesten Dokument des ganzen Neuen Testaments, dem ersten Brief des Apostels Paulus an die Gemeinde in Thessaloniki. Man darf ja von dieser durch Paulus selbst begründeten Gemeinde keine allzu idyllische Vorstellung haben. In dieser großen Hafenstadt, die auch damals schon viele zehntausende von Einwohnern hatte, werden die Christen in dieser Anfangszeit, wenn es hochkommt, vielleicht fünfzig an der Zahl gewesen sein. Aber Paulus preist diese Gemeinde in den höchsten Tönen: Wir danken Gott allezeit für euch alle und gedenken euer in unserem Gebet und denken ohne Unterlass vor Gott, unserem Vater, an euer Werk im Glauben und an eure Arbeit in der Liebe und an eure Geduld in der Hoffnung auf unsern Herrn Jesus Christus.

 Es würde uns allen gut tun, wenn wir uns diesen Ton zu Eigen machen würden. Denn es gibt viel Grund zur Dankbarkeit für eine oft stabile, engagierte und gelingende Gemeindearbeit. Unsere Kirche lebt und ist lebendig in den vielen Menschen, die treu zu ihr halten.

Es gibt eine beeindruckende Zahl von Mitarbeitenden in unserer evangelischen Kirche, die sich zuversichtlich und überzeugend engagieren. Ermutigend ist die hohe Zahl an Ehrenamtlichen, die bereit sind, in der und für die Kirche zu arbeiten. Wollte man alle Bereiche ehrenamtlichen Engagements aufzählen, gäbe das eine lange Liste: von den Mitgliedern der Kirchenvorstände bis hin zu der hohen Zahl an Sängerinnen und Sängern in kirchlichen Chören, von ungezählten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in (Kinder-) Gottesdiensten bis zu vielen, die in Arbeitskreisen, Initiativen und Projektgruppen arbeiten. Ich denke an die Jugendarbeit, die ein besonders wichtiger Raum ehrenamtlichen Engagements ist, aber ebenso an die Arbeit mit Frauen und Männern wie mit Familien, die in hohem Maß ehrenamtlich getragen ist. Beispielhaft nenne ich auch die Telefonseelsorge, die in diesen Tagen ihr fünfzigjähriges Jubiläum gefeiert hat; ebenso denke ich an alle, die sich in anderen Bereichen der Beratungsarbeit engagieren. Das freiwillige Engagement ist ein immenser Schatz der Kirche.

In Zeiten, in denen die selbstverständliche Bejahung von Institutionen schwindet, gewinnt das personale Element zunehmend an Bedeutung. Umso erfreulicher ist es, dass die weitaus größte Zahl der beruflichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in unserer Kirche ihren Dienst mit hohem persönlichem Engagement versieht; in vielen Zusammenhängen beobachte ich, dass dieses Engagement wächst. Der gute Ruf, den Pfarrerinnen und Pfarrer in der Öffentlichkeit haben, bestätigt diese Binnenwahrnehmung. In jedem Berufs-Ranking stehen sie seit vielen Jahren in der Spitzengruppe und genießen großes Vertrauen.

Erfreulicherweise steigt gegenwärtig die Zahl der Wiedereintritte langsam, aber stetig an, während die Zahl der Kirchenaustritte ebenso kontinuierlich zurückgeht – auch wenn sie nach wie vor zu hoch ist. Mit den in vielen Städten eingerichteten Wiedereintrittsstellen, die das Pfarramt als Ort der Wiederaufnahme nicht ersetzen, aber sinnvoll ergänzen, und mit einem geänderten Mitgliedschaftsrecht, das den Wiedereintritt erleichtert, verfügt die evangelische Kirche über ein Instrumentarium, das dem großen Wiedereintrittspotential in unserem Land Rechnung trägt. Einschließlich der bereits in früheren Jahren Ausgetretenen dürfte sich die Zahl der in unserer Gesellschaft lebenden evangelisch getauften Nichtkirchenmitglieder bzw. Konfessionslosen zwischen 3,5 und 5 Millionen bewegen. Das ist ein gewaltiges Potential für eine besondere missionarische Initiative gegenüber ausgetretenen Getauften. Ebenso wichtig ist das Bemühen um diejenigen, die – aus welchen Gründen auch immer – seit einer oder mehreren Generationen keinen Kontakt mit einer christlichen Kirche haben.

Auch das Folgende lässt sich einmal ausdrücklich festhalten. In dem Vergleich zwischen gesellschaftlichen Institutionen, den die Online-Untersuchung Perspektive Deutschland jedes Jahr vornimmt, wird der Evangelischen Kirche in Jahr für Jahr wachsendem Maß ein Platz unter den in besonderem Maß vertrauenswürdigen Institutionen eingeräumt. Das Interesse an ihr wächst; das Ausmaß, in dem ihre institutionelle Form respektiert – und nicht ein dringender Verbesserungsbedarf angemeldet wird – steigt. Besonders bemerkenswert ist: Aktive Protestanten zeichnen sich durch eine lebensbejahende Grundeinstellung aus, die auch unter schwierigen Bedingungen von Zuversicht und einer hohen Verantwortungsbereitschaft geprägt ist. Dieses verantwortungsethische Profil alltäglicher evangelischer Existenz verdient es, ausdrücklich hervorgehoben zu werden.

Unter den erfreulichen Entwicklungen nenne ich schließlich das Zusammenrücken der verschiedenen evangelischen Frömmigkeitsstile und die in den unterschiedlichen Gruppierungen heute bejahte missionarische Neuausrichtung der Kirche. Dieser erfreuliche Umstand verbindet sich – wie die Wende zehn Jahre zuvor – mit dem Namen Leipzigs, wo die EKD-Synode im Jahr 1999 eine Übereinstimmung über den missionarischen Auftrag unserer Kirche dokumentiert hat, den manche vorher für äußerst unwahrscheinlich gehalten hatten. Konflikte, die in den siebziger und achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts viele Kräfte gebunden haben, sind weitgehend überwunden. An die Stelle von gegenseitiger Abgrenzung und Verurteilung ist vermehrt die Bereitschaft zum wechselseitigen Verstehen und gemeinsamen Lernen getreten. Vielleicht haben auch die sich immer unabweisbarer aufdrängenden äußeren Herausforderungen, von denen gleich noch zu reden sein wird, ihr Teil dazu beigetragen. Jedenfalls ist – das hat Leipzig 1999 deutlich gezeigt – Mission nicht mehr nur etwas für spezielle Gruppierungen in der Kirche. Vielmehr wird Mission als glaubenweckendes Ansprechen der Menschen in unserem Land (und nicht nur in anderen Kontinenten) als Aufgabe der ganzen Kirche anerkannt, die in allen kirchlichen Handlungsfeldern zur Geltung kommen muss.

Dieser Blick auf Chancen und Ressourcen in der gegenwärtigen kirchlichen Situation  sollte uns zuversichtlich machen, dass wir die anstehenden Herausforderungen angehen und bewältigen können. Auch hier kann ich jetzt nur exemplarisch reden.

Eine große Herausforderung für die Zukunft der Kirche liegt in der demographischen Entwicklung in Deutschland. Die Statistiker rechnen bis zum Jahr 2030 mit einem Rückgang der Bevölkerung um gut sechs Prozent, d. h. um fünf Millionen Menschen. Auch wenn Zuwanderungen den damit einhergehenden Effekt der „Unterjüngung“ etwas dämpfen – die Bevölkerung in Deutschland wird kleiner und älter. Für die evangelische Kirche werden daraus Prognosen abgeleitet, die im ungünstigen Fall einen Rückgang um ein Drittel auf circa 17 Millionen im Jahr 2030 voraussagen. Mit dem Rückgang der Mitgliederzahlen wird eine Minderung des Kirchensteueraufkommens verbunden sein; pessimistische Voraussagen sprechen von einem Rückgang der Finanzkraft auf die Hälfte. Genau kann das niemand wissen; aber dass die wirtschaftliche Entwicklung im allgemeinen und die Steuergesetzgebung die kirchlichen Finanzen beeinflussen, ist klar; eine weitsichtige kirchliche Handlungsstrategie wird sich nicht von der Vorstellung finanzieller Zuwächse im Bereich der Kirchensteuer leiten lassen.

Gerade in einer solchen Situation sind neue Initiativen nötig. Wenn wir unserem Auftrag gerecht werden und bisher Kirchenferne mit unserer Botschaft erreichen wollen, brauchen wir dafür neue Ansätze und Impulse. Ohne den Mut, bisher Vertrautes aufzugeben, wird das nicht gehen. Manche Arbeitsfelder werden an Bedeutung verlieren; andere werden stärker betont werden. Manches wird nicht mehr im gewohnten Umfang durch berufliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wahrgenommen werden; die Bedeutung des ehrenamtlichen Engagements wird steigen. Manches am immobilen Besitz der Kirche werden wir abgeben oder umnutzen. Dabei werden wir mit Kirchengebäuden besonders achtsam umgehen, weil wir ihre enge Verbindung mit der Botschaft der Kirche kennen. Die breite Diskussion über die Aufgabe von Kirchengebäuden, die wir gegenwärtig im Raum der katholischen Kirche beobachten können, werden wir uns in dieser Form nicht zu eigen machen. Das wird schon deshalb nicht eintreten, weil die katholische Kirche mit ganz anderen Zahlen zu tun hat. 20 000 evangelischen Kirchengebäuden stehen in Deutschland 60 000 katholische Kirchengebäude gegenüber. Um ein Loslassen wird es aber auch in diesem Bereich immer wieder gehen. Und ein solches Loslassen, das vielerorts schon seit Jahren im Gang ist, ist immer schmerzhaft.

Kirchliche Perspektivüberlegungen können sich nicht am Rasenmäherprinzip orientieren. Man muss vielmehr Wichtigeres und weniger Wichtiges unterscheiden und dementsprechend gewichten. Dabei kann keine Rede davon sein, dass das, was zurücktritt, überflüssig gewesen wäre; es geht vielmehr durchweg um Bereiche, in denen wichtige und sinnvolle Arbeit getan wurde. Aber die additive Ausdifferenzierung kirchlicher Arbeitsfelder und Angebote lässt sich nicht fortsetzen. Es geht nicht darum, Versagen oder Scheitern zu konstatieren, sondern sich einer nötigen Umwandlung zu stellen. Vor uns liegen Konzentrationsübungen, nicht Katastrophenübungen.

Mit solchen Veränderungen ist für uns alle eine große innere Herausforderung verbunden – eine Herausforderung für unseren Glauben. Die Geschichte der Kirche zeigt: jeder Aufbruch der Kirche war und ist verbunden mit der Rückbesinnung auf die Grundlagen unseres Glaubens. Er ist damit verbunden, dass die Veränderung nicht resignativ erduldet, sondern zuversichtlich gestaltet wird. Er hat damit zu tun, dass veränderte Bedingungen als Herausforderung zu einem Mentalitätswandel verstanden werden. Mentalitätswandel – das ist ja genau betrachtet nur ein anderes Wort für metanoia, Wandel des Sinns, Umkehr.

Was ich damit beschreibe, lässt sich nicht zuletzt am reformatorischen Aufbruch zeigen. Zentral ging es in ihm um die Wiederentdeckung und Neuerschließung des Evangeliums für die damalige Zeit. Es ging nicht um die Gründung einer neuen Kirche, auch nicht um die Begründung einer neuen Tradition – wie man vielleicht denken könnte, wenn Papst Benedikt XVI. die Vertreter der evangelischen Kirche unlängst in Regensburg als die Freunde aus den verschiedenen Traditionen der Reformation begrüßt hat. Es war der Versuch, einen Mentalitätswandel aus dem Geist des Evangeliums zu bewirken. Diese metanoia, dieser Wandel des Sinns war deshalb auch das Grundthema der reformatorischen Anfänge. Nicht weil Luther eine neue Kirche gründen wollte, sondern weil sein Verständnis des Evangeliums kraft des päpstlichen Bannes aus der Amtskirche seiner Zeit ausgeschlossen wurde, kam es zur kirchlichen Neubildung. Heute wollen wir den weiteren Weg unserer Kirche in der Gemeinschaft der Ökumene aus einer erneuten Zuwendung zum Evangelium heraus bestimmen lassen. Aus der Freiheit des Glaubens, in die das Evangelium auch heute beruft, erwächst die Freiheit zu einem hoffnungsvollen Aufbruch. Deshalb ist es notwendig, sich die Freiheit des Glaubens in ihren wesentlichen Grundzügen immer wieder vor Augen zu stellen und in ihrer grundsätzlich-theologischen wie praktischen Bedeutung hervorzuheben.

V.

Frei aus Glauben

Freiheit ist die herausragende Existenzform des Glaubens. Als evangelische Kirche haben wir eine besondere Verantwortung dafür, diese Grundbestimmung christlicher Existenz zum Leuchten zu bringen.

Um das zu entfalten, knüpfe ich an Überlegungen an, die Eberhard Jüngel 1992 bei der Europäischen Evangelischen Versammlung in Budapest vorgetragen hat; ich habe diese Überlegungen weiterzuführen versucht, als ich in der vergangenen Woche vor der 6. Vollversammlung der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa – der Leuenberger Kirchengemeinschaft – in Budapest Überlegungen über die evangelische Gestalt des christlichen Glaubens zu entwickeln hatte. Fünf Grundzüge will ich hervorheben, die mir besonders wichtig sind.

Evangelisches Glaubensverständnis hat seine Mitte darin, dass Jesus Christus die über Leben und Tod entscheidende Wahrheit ist. Zu deren Kraft bekennt sich das Johannesevangelium mit der Aussage: Ihr werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen (Johannes 8, 32). Evangelisches Christsein orientiert sich also an der Wahrheit, die Jesus Christus in Person ist. Weil er die Wahrheit ist, ist er der Herr der christlichen Existenz ebenso wie der Herr der Kirche. In diesem sehr präzisen Sinn bekennt sich eine evangelische Kirche zum kyrios Iesous, zum Dominus Iesus. Das Bekenntnis zu dieser Wahrheit markiert nicht nur den Unterschied zwischen Kirche und Welt, sondern ebenso auch die Unterscheidung zwischen Christus, der diese Wahrheit ist, und der Kirche, die dieser Wahrheit dient. Deshalb ist es im evangelischen Sinn ein Ausdruck konsequenten Christseins, die Kirche nicht mit dem Reich Gottes zu verwechseln – wie keine Kirche mit dem Reich Gottes verwechselt und kein Stellvertreter Christi selbst an Christi Statt gerückt werden sollte. Im evangelischen Sinn gilt von der Kirche vielmehr, dass sie die Rechtfertigung allein aus Gnade nicht nur verkündet, sondern ihrer auch bedarf. Und sie erinnert sich immer wieder daran, dass es in dem Sendungswort Jesu Christi am Ende des Matthäusevangeliums nicht um die Kirche geht, sondern um unsere Mitmenschen.

Diese Wahrheit wird – das ist der zweite Grundzug – als befreiende Macht erfahren. Sie befreit aus der Lebenslüge, als könnten wir unser Leben selbst herstellen und dessen Sinn selbst produzieren. Sie befreit zu der Einsicht, dass der Mensch mehr ist, als wir im Bild des homo faber, des sich und seine Welt selbst erschaffenden Menschen denken. Der Mensch ist mehr, als er selbst aus sich macht. Er ist deshalb weder mit seinen Taten noch mit seinen Untaten identisch. Er ist das Lebewesen, das beständig über sich selbst hinausweist. Er ist von der Hoffnung getragen, dass er, indem er sich selbst übersteigt, nicht nur auf sich selbst trifft. Darin, dass er von Gott geliebt und anerkannt ist, findet er die Wahrheit wie den Frieden seines Lebens.

Indem Gottes Wahrheit uns – das ist der dritte Grundzug – in dem Menschen Jesus von Nazareth begegnet, indem Gott uns in Jesus sein menschliches Antlitz zuwendet, tritt uns die Berufung zum Menschsein entgegen. Von Gott wird jede und jeder als menschlicher Mensch angesprochen, als eine von Gott definitiv anerkannte und mit einer unverlierbaren Würde begabte Person. Die Würde, die jedem Menschen zukommt, kann durch keine menschliche Tat überboten und durch keine menschliche Untat zerstört werden (E. Jüngel). Weil es sich so verhält, kommt diese Würde nicht nur der Menschheit als Gattung, sondern in unantastbarer Weise jedem einzelnen Menschen zu. Die darin begründete Hochschätzung des einzelnen Menschen bringt evangelischer Glaube ins Gespräch der Gegenwart ein. Sie ist von Gewicht sowohl im Gespräch der christlichen Konfessionen wie im Gespräch mit dem Islam und anderen religiösen Überzeugungen. Freilich ist diese Hochschätzung des einzelnen Menschen, der in seiner Einmaligkeit von Gott geliebt und anerkannt ist, grundsätzlich wie praktisch deutlich zu unterscheiden von einem Individualismus, der gerade von der Vorstellung geprägt ist, als sei jeder Mensch der Herr des eigenen Lebens und insofern auch nur sich selbst verantwortlich.

Die protestantische Hochschätzung menschlicher Verantwortung und menschlicher Leistung gründet nicht in der Vorstellung, sich durch Eigenverantwortung selbst produzieren oder durch eigene Leistung selbst sichern zu können. Sie gründet vielmehr – und das ist der vierte Grundzug – in dem Dank für die uns anvertrauten Gaben, von denen wir in Freiheit einen verantwortlichen Gebrauch machen können. Dankbarkeit drängt auf das Gotteslob und braucht deshalb einen Raum der persönlichen Glaubensfreiheit wie der gemeinschaftlichen Religionsfreiheit, in dem dieses Gotteslob laut werden kann. Aber sie drängt auf verantwortete Freiheit und damit auf eine Gestalt der Gesellschaft, in der gerechte Teilhabe möglich ist. Dass sich alle an der Gestaltung des gemeinsamen Geschicks beteiligen können, ist ein Grundimpuls des evangelischen Glaubens. Die Verbürgung von Grundfreiheiten und die Ermöglichung von demokratischer Mitwirkung liegen genauso in der Richtung dieses Grundimpulses wie die Ermöglichung von wirtschaftlicher Teilhabe in einer Gesellschaft, in der für Gerechtigkeit und Solidarität Raum ist. In all dem und über all dem bilden der Respekt für die Integrität des anderen Menschen und damit der Verzicht auf Gewalt sowie eine tragfähige Gestalt des gemeinsamen Lebens – also der Frieden unter den Menschen und die Bewahrung der Natur – den unerlässlichen Horizont verantworteter Freiheit.

Eine Kirche, die aus der befreienden Wahrheit lebt, die in Jesus Christus als Person begegnet, ist eine Kirche der Freiheit. Das ist der fünfte und letzte Grundzug, den ich heute hervorheben möchte. Die Kirche der Freiheit ist dadurch geprägt, dass das Gotteslob, das der ganzen Gemeinde anvertraut ist, in Freiheit erklingt. Die Taufe ist die Ordination zu diesem Gotteslob; Frauen und Männer haben an ihm Anteil; die Gemeinde und das ordinierte Amt sind an ihm in gleicher Weise beteiligt. Kirche der Freiheit ist sie, weil sie sich den Herausforderungen ihrer jeweiligen Zeit stellt und ihre Antworten auf die Fragen der Zeit vor der Botschaft der Heiligen Schrift verantwortet. Kirche der Freiheit ist sie, weil sie jeden Getauften dazu befähigen möchte, seinen Glauben zu verantworten und Rechenschaft abzulegen von der Hoffnung, die in ihm ist. Verantwortete Freiheit ist nicht nur der Grundzug evangelischer Existenz in der Welt, sie bestimmt zugleich das Profil einer evangelischen Kirche. Deshalb haben wir in der Evangelischen Kirche in Deutschland den kirchlichen Reformprozess, den wir angesichts der gegenwärtigen Herausforderungen in Gang bringen wollen, unter den Leitbegriff der Kirche der Freiheit gestellt. Dass das Evangelium der Freiheit die Menschen erreichen kann, dass die Botschaft von Gottes freier Gnade wirklich an alles Volk ausgerichtet wird und dass wir die Barrieren abbauen, die wir als Kirche selbst dieser Botschaft in den Weg stellen, ist die Intention dieses Reformprozesses.

VI.

Kirche im Aufbruch – Weichenstellungen für die Zukunft

Nur wenn vor unserem inneren Auge ein Bild der evangelischen Kirche der Zukunft entsteht, wird es gelingen, die heute notwendigen Entscheidungen für den Weg dorthin zu treffen und durchzuhalten. Jeder Weg beginnt mit dem ersten Schritt. Und jede Veränderung beginnt im Kopf und im Herzen. Denn sie hat mit den Zukunftsbildern für unsere Kirche zu tun, die wir im Kopf haben bzw. die uns am Herzen liegen.

Nach meiner Erfahrung ist es deshalb wichtig, dass wir uns untereinander über unsere Zukunftsbilder austauschen und zu verstehen lernen, aus welchen Erfahrungen sie sich speisen. Dabei werden wir Übereinstimmungen feststellen, aber auch Unterschiede nicht vorschnell zudecken.

Für den Weg in die Zukunft unserer Kirche mit ihren Gemeinden ist es ferner wichtig, dass Betroffene zu Beteiligten werden. Nur wenn der Weg ein gemeinsamer Weg wird, können wir ihn auch wirklich gemeinsam gehen. Entscheidungen werden unterwegs mehr als einmal getroffen werden müssen. Um die Beantwortung der Frage, was uns für die Zukunft der Kirche unverzichtbar wichtig ist und was wir – vielleicht unter Schmerzen – loslassen müssen, werden wir nicht herumkommen. Es gibt kein Ja zur Zukunft ohne das eine oder andere Nein zu noch Gegenwärtigem.

In dem Impulspapier Kirche der Freiheit haben wir vier biblisch geprägte Grundannahmen formuliert, die Leitplanken für den Weg in die Zukunft bereit stellen.

Erstens. Geistliche Profilierung statt undeutlicher Aktivität. Wo evangelisch draufsteht, muss Evangelium erfahrbar sein. In diesem Motiv scheint das biblische Bild vom Licht der Welt auf, von dem Licht, das nicht unter den Scheffel gestellt werden soll (vgl. Lukas 11, 33).

Zweitens. Schwerpunktsetzung statt Vollständigkeit. Kirchliches Wirken muss nicht überall vorhanden sein, wohl aber überall sichtbar. Hier ist an die vielfältige Bedeutung des zeichenhaften Handelns Jesu zu denken.

Drittens. Beweglichkeit in den Formen statt Klammern an Strukturen. Nicht überall muss um des gemeinsamen Zieles willen alles auf dieselbe Weise geschehen; vielmehr kann dasselbe Ziel auch auf verschiedene Weise erreicht werden. Im Bild vom Leib Christi wird die Vielfalt der Gaben und Aufgaben besonders betont; und Christen werden geradezu dazu ermutigt, den Juden ein Jude und den Griechen ein Grieche zu sein (vgl. 1. Korinther 9,20).

Viertens. Außenorientierung statt Selbstgenügsamkeit. Auch der Fremde soll Gottes Güte erfahren können, auch der Ferne gehört zu Christus. Das Bild von „Christus als Haupt der Gemeinde” veranschaulicht, dass seine Gegenwart in der Welt immer größer und weiter ist als der je eigene Glaube und die je eigene Gemeinde (vgl. Kolosser 1,15 ff.).

Aus diesen biblischen Schlüsselbildern ergeben sich nicht unmittelbar Handlungsanweisungen für zukünftige Strukturen. Sie haben eine orientierende und vergewissernde Funktion. Sie ermutigen dazu, auf bestimmten Wegen weiter zu gehen; denn wo sich Vertrautes mit neuen Visionen verbindet, wird der Weg des Wandels leichter.

Die Richtung dieses Wandels will ich abschließend in drei Konkretionen beschreiben.

Einer Kirche im Aufbruch, die aus dem Evangelium lebt und sich von ihm Orientierung geben lässt, wird zuallererst daran gelegen sein, den Menschen geistliche Heimat zu geben. Sie wird sich deshalb darum bemühen, Kirche nahe bei den Menschen zu sein. Für die Glaubenden bietet sie Heimat und Identität an und ist für alle, die dies wünschen, ein zuverlässiger Lebensbegleiter.

An diesem Punkt treffen sich die Erwartungen aus der Breite der Mitglieder mit dem Auftrag der Gemeinde. Das hat gerade wieder die jüngste Mitgliedschaftsstudie der EKD gezeigt. Deshalb ist der Bereich der Kasualien von nicht zu überschätzender Bedeutung – auch und gerade in missionarischer Perspektive. Auch und gerade die, die sich nur von Fall zu Fall am kirchlichen Leben beteiligen, erwarten bei einer Taufe, Hochzeit, Konfirmation oder der Beerdigung eines Angehörigen Lebensbegleitung aus dem Glauben heraus, erwarten Gebet und Segen, biblische Texte und Verkündigung.

Ich glaube nicht, dass Menschen bei diesen Anlässen nur die Wiederholung des ihnen schon Bekannten wollen. Sie sind durchaus offen dafür, dass ihnen in der Kirche etwas heilsam Fremdes begegnet, das sie gerade so befreiend und ermutigend erreicht.  Sie erwarten durchaus nicht nur einen allgemeinen Ritus, sondern zugleich konfessorische Bestimmtheit. Was dabei für Pfarrerinnen und Pfarrer das Alltägliche und Normale ist, ist für die jeweils Betroffenen das Einmalige und Besondere – und sollte deshalb auch mit besonderer Aufmerksamkeit gestaltet werden. Hier sind neben der handwerklichen Sorgfalt mindestens ebenso der Geist und die Haltung wichtig, aus denen heraus das Evangelium kommuniziert wird. Deswegen sollte auch in diesem Bereich wie bei allen missionarischen Bemühungen die Frage nach dem Geist unseres Handelns beachtet werden. Wir wollen Gott feiern und nicht Menschen manipulieren. In der „Kirche der Freiheit“ hängt alles daran, dass man den einladenden Geist der Freiheit und der Zuwendung spürt, in den man in Freiheit einstimmen kann.

Bei jedem der Gottesdienste bei Gelegenheit wird übrigens über den Kreis der unmittelbar Betroffenen immer ein weiterer Umkreis von Menschen erreicht, darunter immer auch solche, die nicht oder nicht mehr zur Kirche gehören. Und für viele, die in die Kirche eintreten oder zu ihr zurückkehren, ist nach ihrer eigenen Auskunft eine gelungene Kasualie der letzte Anstoß gewesen: So geben 41% aller Neu-Eingetretenen und 24% aller Wieder-Eingetretenen an, dass sie eine Amtshandlung angesprochen hat.

Eine Kirche im Aufbruch lebt sodann von und in der Vielfalt verschiedener Gemeindeformen. Um mögliche Missverständnisse gleich zu Beginn anzusprechen: Die klassische Parochialgemeinde in ihrer vertrauten Struktur nimmt wichtige Aufgaben in verlässlicher Form wahr. Sie trägt für viele Menschen dazu bei, dass sie sich in unserer Kirche beheimatet fühlen. Es geht nicht darum, dies zu schmälern; es geht erst recht nicht um die Abschaffung der Parochie als bleibender Grundform evangelischer Gemeinden. Es geht um Ergänzung und Entlastung.

Dabei zielt die Ergänzung durch andere Gemeindeformen vor allem auf die bestehenden missionarischen Herausforderungen. Um sich für Menschen zu öffnen, für die die vorherrschenden Beteiligungsformen in unseren Gemeinden in ihrer oft vereinsähnlichen Struktur schwer zugänglich sind oder die sich dem prägenden Milieu einer Kerngemeinde nicht zugehörig fühlen, braucht es die Ergänzung der Parochie durch netzwerkartige und situative Gemeindeformen.

Netzwerkartige Gemeinden haben eine größere räumliche Reichweite, als es die Parochie haben kann. Sie sammeln Menschen um besondere kirchliche Orte (U. Pohl-Patalong) beziehungsweise um besondere Formen des Gottesdienstes oder um geistliche, kirchenmusikalische, soziale oder kulturelle Schwerpunkte. Solche Profilgemeinden sprechen nicht nur die unmittelbare örtliche Umgebung an, sondern entwickeln eine regional bezogene Ausstrahlung. Oft verbinden sie die Grundaufgaben von Ortsgemeinden mit einem Schwerpunktbereich, den sie ausbauen und gestalten. Auf diese Weise nehmen sie in einem Bereich stellvertretend für eine Region eine Gemeinschaftsaufgabe wahr. Solche Gemeinden sind daher auf eine Region angewiesen, in der dies gewollt und gefördert wird.

Mit einer bewussten Schwerpunktsetzung tragen die Gemeinden einer Region zur gegenseitigen Entlastung bei. Die einzelne Gemeinde kann mit ihren Gaben und Begabungen wie mit anvertrauten Pfunden wuchern. Sie darf sich frei machen von dem letztlich überfordernden Selbstbild, alles selbst verantworten und veranstalten zu sollen.

Situative Gemeindeformen zeigen sich dort, wo sich die Teilnahme aus besonderen persönlichen oder gesellschaftlichen Gegebenheiten ergibt. Sie entstehen, wenn die evangelische Kirche anlassbezogene Angebote entwickelt. Dazu zählen Formen der Tourismusarbeit und der Citykirchenarbeit oder anlassbezogene Gottesdienste, sei es zum Gedenken an Unglücksfälle, zur Feier besonderer Gedenktage oder zur Gestaltung von Pilgerwegen. Anlassbezogene, situative Angebote bieten wichtige Möglichkeiten, dass Menschen auf den Glauben aufmerksam werden und ihr Verhältnis zur Kirche neu bestimmen. Nicht immer knüpft sich daran eine dauerhafte Bindung. Aber wollen wir sagen, dass die Zuwendung zu den zufällig oder auf Zeit versammelten Menschen deshalb folgenlos bleibt?

Eine Kirche im Aufbruch gestaltet schließlich das Priestertum aller Getauften und würdigt ihre Pfarrerinnen und Pfarrer mit ihrer Arbeit.

Wir haben es uns zu Beginn dieses Vortrags vor Augen gestellt: Auf verschiedene Art und Weise engagieren sich unzählige Menschen ehrenamtlich und tragen so die Arbeit unserer Kirche. Etwa die Hälfte aller Freiwilligen in Deutschland sind irgendwie kirchlich engagiert – das sind ca. vier Millionen Menschen. Nicht erst die finanziellen Einschränkungen der jüngsten Vergangenheit haben das gezeigt; sondern es gilt auch unabhängig davon: Engagierte Christen sind die entscheidende Basis für alle Aktivitäten der evangelischen Kirche. Entscheidend ist die geistlich-theologische Begründung: Mit der Taufe ist jeder Christ berufen, am allgemeinen Priestertum teilzuhaben. Das Priestertum aller Glaubenden lebt alltäglich überall da, wo ein Christ dem anderen Priester und Nächster wird.

Das Ehrenamt wird heute auch dort besonders wichtig, wo es um die gottesdienstliche und seelsorgerliche Präsenz des Glaubens in der Nähe zu den Menschen geht. Wo die Kirche nicht an jedem Ort und zu jeder Zeit mit ihren Hauptamtlichen präsent sein kann, hilft der Gedanke des allgemeinen Priestertums dabei, die ehrenamtliche Beauftragung darin zu würdigen, dass sie gottesdienstliches Leben und Grundformen seelsorgerlicher Begleitung am jeweiligen Ort ermöglicht.

Die Rolle der beruflichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, speziell der Pfarrerinnen und Pfarrer, wird damit nicht herabgewürdigt oder geschmälert. Pfarrerinnen und Pfarrer haben und behalten in der evangelischen Kirche auch in Zukunft eine Schlüsselrolle. Dies zu sehen und zu würdigen, gehört auch zu einer Kirche im Aufbruch.

Nicht getadelt ist genug gelobt – mit diesem (hier und da als kirchliches Zitat kolportierten) Satz lässt sich keine Mitarbeitermotivation erzeugen. Der Pfarrberuf gehört zu den spannendsten und freiheitlichsten Berufen überhaupt. Es ist die Aufgabe kirchenleitenden Handelns auf allen Ebenen, mit einer ausdrücklichen Würdigung der Arbeit der Pfarrerinnen und Pfarrer dazu beizutragen, dass ihnen die Schönheit dieses Berufs bewusst bleibt und sie ihre besten Kräfte für ihn einsetzen.

Kann also von einer zukünftigen Relativierung des Pfarrberufs keine Rede sein, so wird die beschriebene Stärkung des Ehrenamtes doch auch zu einer Veränderung des beruflichen Dienstes führen. Anleitung und Begleitung des ehrenamtlichen Einsatzes werden eine zentrale Aufgabe für Pfarrerinnen und Pfarrer (und andere beruflich Mitarbeitende) werden. Dazu müssen sie allerdings auch in ihrer Ausbildung oder durch Fort- und Weiterbildung qualifiziert werden. Eine Kirche im Aufbruch braucht qualifizierte und ermutigte Pfarrerinnen und Pfarrer, die sich um Gottes und der Menschen willen mit ihrer Arbeit identifizieren. Dazu möge auch dieser Kongress beitragen.

VII.

... denn dein ist die Kraft – Kirche im Aufbruch. Wir haben einen Weg abgeschritten, der von der Weite des Gotteslobs über die Fragen nach der Zukunft unserer evangelischen Kirche zu unserer eigenen Existenz als Theologinnen und Theologen geführt hat.

Ich erinnere noch einmal an den gesellschaftlichen Aufbruch von Leipzig 1989: Wir sind das Volk! – dieser Ruf hat die Menschen zusammengeführt und auf den Weg gebracht. Und ich erinnere an den kirchlichen Aufbruch von Leipzig 1999: Wir sind von Gott gesandt! – dieser Auftrag hat unserem Handeln eine klare missionarische Ausrichtung gegeben.

Ihr aber seid Gottes eigenes Volk; deshalb sollt ihr die großen Taten dessen verkündigen, der euch berufen hat (1 Petr 2,9). In dieser biblischen Aussage kommen beide Erfahrungen zusammen. Aller Aufbruch in der Kirche beginnt mit Gottes Berufung.  Er lebt von der Hoffnung, dass Gottes Geist die Kirche und jeden Einzelnen immer wieder neu anrührt und lebendig macht - so dass das Gotteslob erklingt und wir nicht bei uns selber bleiben: Denn dein ist die Kraft.