Gesellschaftlicher Wandel und seine Auswirkung auf Bildung und Erziehung - Vortrag auf dem Fachkongress „Schule in der Gesellschaft“ in Hannover

Wolfgang Huber

I.

Vermessen wir die Landschaft des gesellschaftlichen Wandels unter der Perspektive der Auswirkungen auf Bildung und Erziehung, dann werden drei Orientierungsangebote schnell auf Zustimmung stoßen.

1. In der Informationsgesellschaft sind Schule und Gesellschaft nicht voneinander zu trennen. Angesichts des gesellschaftlichen Wandels am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts beschrieb die Europäische Kommission bereits 1995 in ihrem Weißbuch „Lehren und Lernen auf dem Weg zur kognitiven Gesellschaft“ die großen Umwälzungen, welche die Bedingungen der Wirtschaftstätigkeit und das Funktionieren unserer Gesellschaft tiefgreifend und nachhaltig beeinflussen. Es sind zugleich jene Umwälzungen, die sich auf die Bildungssysteme ebenso auswirken wie auf die Orte des informellen Lernens, nämlich die Familie, die außerschulischen Bildungsangebote und das Lernfeld der jugendlichen Peergroups. Wenn wir Bildung nicht gleichsetzen mit Schulbildung, und wenn wir Erziehung nicht vorschnell professionalisieren und sie an bestimmte Berufsgruppen delegieren, dann müssen wir in der Informationsgesellschaft Schule und Gesellschaft zusammensehen.

2. Bildung unterliegt dem Einfluss globaler Veränderungen. Antriebskraft für den gegenwärtigen gesellschaftlichen Wandel ist neben der Herausbildung der Informationsgesellschaft und der wissenschaftlich-technischen Zivilisation zwar vor allem die Globalisierung der Wirtschaft mit ihren Auswirkungen auf das Wirtschaftssystem; sie zieht nahezu alle Aufmerksamkeit auf sich. Aber aus dieser Veränderung werden häufig verkürzte Folgerungen gezogen. Allzu leicht schließt man aus ihr, dass wirtschaftliche Konkurrenzfähigkeit das einzige Kriterium für Bildung unter den Bedingungen der Globalisierung sei. Man verkennt dabei, dass Orientierungsfähigkeit in einer globalisierten Welt eine eigene und nicht zu unterschätzende Bedeutung hat.

3. Der demographische Wandel verändert auch die Bildung. Als dritte Triebkraft sind die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Auswirkungen des demographischen Wandels zu nennen. Hierbei liegt die Brisanz des Alterswandels der Gesellschaft für unser Thema nicht allein in der Frage nach der Funktionsfähigkeit der Rentensysteme. Es ist auch unzutreffend, diesen Alterswandel unter die Überschrift der „Überalterung“ zu stellen. Denn niemand ist dafür zu kritisieren, dass die Menschen heute im Durchschnitt älter werden. Was zu beklagen ist, ist vielmehr die Unterjüngung der Gesellschaft. Es ist vor allem der Kindermangel, aus dem sich weitreichende Folgen für die Gesellschaft insgesamt und so auch für Bildung und Erziehung ergeben. Während einerseits durch den demographischen Wandel Bedingungen für das Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen entstehen, unter denen es schwer ist, die Teilhabefähigkeit am gesellschaftlichen Leben zu erlernen, werden andererseits in unseren Bildungseinrichtungen durch die milieubedingte Kanalisierung von Teilhabefähigkeit viel zu viele vom gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen.

Informationsgesellschaft, Globalisierung, demographischer Wandel – wie wirken diese drei Orientierungspunkte sich auf Bildung und Erziehung aus? Wenn häufig davon die Rede ist, dass die Schule, um Lernort sein zu können, zunehmend zum Lebensort werden muss, dann enthält diese Forderung zugleich eine Defizitanzeige. Gibt es denn keine Lebensorte, die die Schule vor dieser Überforderung bewahren können? Pathetisch erklärte man früher, man lerne nicht für die Schule, sondern für das Leben – non scholae, sed vitae discimus. Heute aber soll die Schule nicht mehr der Ort sein, an dem man für das Leben lernt. Sondern die Schule soll selbst das Leben sein – nicht nur Lernort, sondern Lebensort, nicht nur an einem halben, sondern am ganzen Tag. Die Schule soll leisten, was andere Lebensorte nicht mehr in ausreichender Weise zu leisten vermögen.

Aber Bildung und Erziehung dürfen sich nicht in der Schule erschöpfen. Bildung ist mehr als Schulbildung und Erziehung ist nicht nur das Geschäft der professionellen Erzieherinnen und Erzieher. „Um ein Kind zu erziehen, braucht es ein ganzes Dorf“, so lautet ein afrikanisches Sprichwort. Um den formellen Lernort Schule lagern sich die informellen Lernorte, allen voran die Familie und die Peergroups der Kinder und Jugendlichen. Und die als handelnde Personen identifizierbaren Eltern, Lehrenden, Erzieherinnen und Erzieher werden unterstützt oder behindert, begleitet oder übertönt durch die erzieherische und bildende Wirkung der Medien.

Obwohl den Schulen und anderen institutionalisierten Bildungseinrichtungen ein hohes Maß an Verantwortung und ausdrücklich die Hauptaufgaben der allgemeinen und beruflichen Bildung zukommen, können sie nicht die gesamten Erziehungs- und Bildungsaufgaben übernehmen. Denn es ist ihnen gar nicht möglich, alle Potentiale der Kinder und Jugendlichen zur Entfaltung bringen. So hängen die Leistungsmotivation vieler Schülerinnen und Schüler und die soziale Einstellung zu anderen Menschen stark von den Vorgaben der Familie ab. Unbequeme Erziehungsaufgaben können nicht einfach an andere gesellschaftliche Instanzen delegiert werden. Die Wirkungen des gesellschaftlichen Wandels auf den Bildungsraum Familie und die Erziehungskompetenz der Eltern bilden darum einen Schwerpunkt in meinen Überlegungen.

II.

Die Familie wieder ernst nehmen. Wer Bildung und Erziehung ernst nimmt, muss die Familie hoch halten. Zunächst natürlich wegen der Bildungswirkungen für die Eltern. Sich beim Wickeln entwickeln – diese Erfahrung gehört zu den Bildungserlebnissen, die nur schwer zu ersetzen sind. Dass weitsichtige Firmen die Sozialkompetenz von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern mit Elternerfahrung schätzen, wird nur deshalb nicht öffentlich gesagt, weil Kinderlose sich diskriminiert fühlen könnten. Aber vor allem gibt es für gelingende Erziehung der Kinder keinen vergleichbaren Ort – so sehr das Aufwachsen in Familien auch scheitern und in Verwahrlosung umschlagen kann, so hoch ferner die Leistung von Alleinerziehenden zu schätzen und zu würdigen ist und so beeindruckend schließlich familienähnliche Formen des Aufwachsens beispielsweise in der Jugendhilfe sind. So sehr gerade die evangelische Kirche die Vielfalt der Lebensformen auch würdigt, so sehr tritt sie zugleich dafür ein, dass die Familie als Lebens- und Erziehungsraum neu geachtet wird. Deshalb engagiert sich unsere Kirche bewusst und mit Nachdruck für Familien.

Im Gegensatz zu den Katastrophenmeldungen über den „Zerfall“ und die Erziehungsunfähigkeit der Familie vermittelt die Forschung ein im Ganzen positives Bild. Gewiss hat die moderne Gesellschaft für Kinder und Jugendliche ein Leben in Spannungen und widersprüchlichen Verhältnissen mit sich gebracht. Erwachsene nehmen sich oft zu wenig Zeit für ihre Kinder. Die für die Entfaltung einer Persönlichkeit dringend notwendigen Gespräche zwischen Eltern und Kindern, die zugleich auch wie nichts anderes die Sprachentwicklung fördern, werden seltener. Ohne die Unterstützung der Familien ist aber eine erfolgreiche Schulbildung sehr erschwert. Nicht nur die Werteerziehung und die Einführung in religiöse Wirklichkeitsdeutungen, sondern auch die für jeden Beruf notwendige Grundbildung beginnen in der Familie.

Darum plädiere ich für einen Perspektivenwechsel hin zu den Kindern. Dabei stelle ich fest, dass es heute wieder in verstärktem Maße zu den wichtigsten Wünschen der allermeisten jungen Menschen zählt, eine Familie und eigene Kinder zu haben. Darin, dass dieser Wunsch für so viele Menschen nicht Wirklichkeit wird, liegt eine zentrale Herausforderung für unsere Gesellschaft. Neben den äußeren Voraussetzungen, die unbedingt schnellstens verbessert werden müssen, erfordert dies auch eine Arbeit an den inneren Rahmenbedingungen. Die gesellschaftlich wirksamen Werte, Normen und Rollenbilder verdienen verstärkte Beachtung.

Vor allem junge Frauen werden heute verstärkt mit einer dreifachen Erwartung im Blick auf Bildung, Beruf und Familie konfrontiert. Weil darin eine Überforderung liegen kann, werden junge Frauen auf vielfältige Weise vor der Mutterschaft gewarnt. Wer wollte, konnte im März 2006 die Empfehlung „Finger weg vom Kinderkriegen“ in sich aufnehmen. „Kinder“, so schrieb Iris Radisch am 16. März dieses Jahres, „machen einsam, blöd und spießig. Man wird zum Gespött der ‚hippen Freunde’, die besser wissen, was heute angesagt ist. Jedenfalls nicht Hausaufgaben kontrollieren, Bilderbücher blättern und Puzzleteile sortieren. Elterngeld“, so kann man lesen, „wird als Anreiz nicht genügen, den Wunsch nach Kindern zu beflügeln. Nicht einzelne Leistungen“, heißt es, „sondern das Zusammenspiel unterschiedlicher Maßnahmen, politischer, wirtschaftlicher, sozialer Maßnahmen. Geld ist das eine. Familien brauchen Sicherungen gegen einen Absturz, wenn von zweien ein Ernährer ausfällt, wenn sich das Geld halbiert und mit jedem Kind die Kosten steigen. Geldregen reimt sich auf Kindersegen. Das schuldet die Gesellschaft den Familien.“

Laut Angaben des Familienministeriums stattet der Staat in Deutschland die Familien mit üppigen 100 Milliarden Euro Transferleistungen und Steuererleichterungen aus, was im europäischen Vergleich immerhin im oberen Drittel liegt. Investitionen in Betreuungsinstitutionen sind dagegen zu gering. Im Unterschied zu den skandinavischen Ländern, in denen etwa zwei Drittel in die Infrastruktur geht, ist es in Deutschland nur ein Drittel. „Der Staat gibt viel Geld für Familien aus“, kritisiert Wassilios Fthenakis, vielen als Streiter für den Bildungsauftrag von Kindertageseinrichtungen bekannt. „Der Staat gibt viel Geld für Familien aus. Aber wir setzen es nicht effizient genug ein.“

Schon der siebte Familienbericht der Bundesregierung kam zu dem Ergebnis: „Die Aufwendungen haben nicht dazu beigetragen, dass junge Erwachsene in gleicher Weise wie etwa in Frankreich Kinder als Teil einer gemeinsamen Lebensplanung begreifen.“ Vermutlich sind es auch gar nicht zuallererst finanzielle Gründe, die den potentiellen Eltern hierzulande die Lust an Kindern vergällen. „Neue gesellschaftliche Ideale und eine andere Arbeitsteilung“ sind nach den Erkenntnissen ganz unterschiedlicher Forschungsinstitute “viel wichtigere Voraussetzungen dafür, dass mehr Kinder geboren werden.“

Viel zu lange wurde übersehen, dass Leistungen der Familien für die Gesellschaft nicht naturwüchsig sind, sondern erbracht werden, und dass es die Frauen sind, die diese Hauptlast tragen. „Deutsche junge Frauen“, so ist im Familienbericht zu lesen, „verbringen ihre Lebenszeit in einer Art ‚Achterbahn-Effekt’. Da fliegt der Kinderwunsch leicht aus der Kurve: Ausbildung, Mutterschaft in Abhängigkeit vom Hauptverdiener, Beruf, Pflege der Eltern.“ Rushhour nennt man diese Phase im Leben von Frauen. Andere Länder zeigen, dass man mit dieser Phase auch anders umgehen kann. Sie nehmen beispielsweise wahr, dass gestaffelte Ausbildungsabschlüsse die Vebindung von Familie, Ausbildung und Beruf erleichtern können.

Wir müssen deutlicher erkennen, was dazu führt, dass viel zu viele Frauen sich mit einem Kind eher geschlagen als beschenkt fühlen. Es muss doch Gründe dafür geben, dass in anderen Ländern vier von fünf Frauen mit universitärer Laufbahn Mütter werden und in Deutschland nur eine. Inzwischen ist es fast ein Ritual, auf jene vierzig Prozent der Akademikerinnen zu verweisen, die ohne Kinder bleiben. Die problematische Basis dieser Statistik ist inzwischen mehrfach erörtert worden. Wichtiger ist aber die Nachfrage, warum niemand von den männlichen Akademikern spricht, die ohne Kinder bleiben. Bei dieser Frage stößt man in den entsprechenden Jahrgängen nicht auf vierzig, sondern auf über sechzig Prozent. Die Gesellschaft mit besseren Unterstützungssystemen auszustatten, ist nur das eine. Das Vertrauen in die Leistungsfähigkeit von Familien und das Zutrauen in das Leben mit Kindern ist das andere.

Der erste Raum der Welteinwohnung für Kinder ist die Familie. So plural Lebensformen gegenwärtig auch sein mögen: Familie haben alle, schon, weil sie aus einer kommen. Keine Gesellschaft kann ohne Familien leben. Kein Gemeinwesen kann die Solidarität ersetzen, die in Familien entsteht.

Der Zeitgeist der siebziger und achtziger Jahre wollte uns glauben machen, Familie sei ein Instrument der Repression auf dem Wege zu individuell verwirklichter Freiheit. Das war schon damals falsch und wurde durch die Erfahrungen mit instabilen, frei schwebenden und leicht lösbaren Verbindungen widerlegt. Familienstrukturen bieten im guten Fall Gelegenheit, die Muster und Rollen des Zusammenlebens einzuüben, mit denen man es auch in den umfassenderen Institutionen der Gesellschaft immer wieder zu tun haben wird. Die Familie ist Lebens- und Erfahrungsraum der künftigen Bürger. Sie vermittelt lebenspraktische Orientierung, sie sorgt für innere Stabilisierung, für Prägungen, denen der veränderliche Augenblick nichts anhaben kann. Sie stabilisiert die Beziehungen ihrer Mitglieder nach außen, macht die Umwelt berechenbar, zeigt das Ordnungsgefüge auf, das eine Gesellschaft zusammenhält.

Natürlich wissen wir, dass Familien nicht nur Schonräume und Inseln der Seligen sind. Sie sind auch Trainingsräume zur Vorbereitung auf Angst und Kälte im Zusammenleben. Sie sind Erfahrungsräume des Glücks und Erschreckensräume des Scheiterns. Beide Erfahrungen sind in der Familie zu Hause: Liebe und Geborgenheit ebenso wie Gewalt und Leid. Familie als Wattepackung ist eine Illusion. Wer das voraussetzt, verweigert auch die erzieherische Funktion der Familie. Denn zu ihr gehört auch die unvermeidliche Konfrontation. Weil viele Eltern das Ziehen von Grenzen nicht als Aufgabe in der Familie wahrnehmen, geben sie aus Hilflosigkeit oder Angst ihre Erziehungsaufgabe preis und überlassen ihre Kinder sich selbst. Soziale Dienste können nicht ersetzen, was Familien für den sozialen Zusammenhalt leisten – oder eben auch verweigern. Darum: Wer Kindern beim Aufwachsen beisteht, steigt gesellschaftlich nicht aus. Im Gegenteil: Kindererziehung ist ein verschärfter Einstieg ins Leben der Gesellschaft.

Wie ein Geplänkel am Rande, aber gleichwohl bezeichnend für den Lernbedarf von Männern als doch wohl auch durch Kinder Beschenkten konnte eine vor wenigen Monaten in der Presse diskutierte Frage erscheinen. Es ging darum, ob Wickeln zu dem Repertoire gehört, mit dem uns Kinder in die Schule nehmen. Im Siebten Familienbericht der Bundesregierung kann man dazu die autoritative Feststellung lesen: „Das Wickeln ist zwar ein gesundheitlich wichtiger, aber lerntheoretisch nicht sonderlich bedeutsamer Vorgang.“ Mit dieser Einschätzung im Hinterkopf fällt es manchem gestandenen Mannsbild dann auch leicht zu meinen, „dieses Wickel-Volontariat nicht haben zu müssen“.

Doch welche Lerntheorie liegt einer solchen Behauptung zu Grunde? In der Begegnung, im Kontakt spüren Menschen, auch kleine Menschen, Menschlichkeit. So gesehen ist dann auch Wickeln mehr als nur Gesundheit, ist auch Blickkontakt, ist Sonnenlächeln im Babykinderhimmel, ist Gespräch mit Wohllaut ohne feste Worte, ist Singsang, der Vertrauen schafft. Es geht um Behutsamkeit und Zärtlichkeit bei aller Festigkeit, sonst sitzt die Windel eben einfach nicht.  Von allem Anfang an verbindet Eltern und Kinder auf diese Weise die Erfahrung, dass geduldig Grenzen zu setzen ein Ausdruck von Liebe ist. Interesseloses Laissez-faire am Wickeltisch birgt bekanntlich die Gefahr in sich, dass die abstürzen, die doch unsere Obhut brauchen. Auch an diesem Lernort, der offiziell nicht so genannt werden darf, lässt sich einüben, was Kinder brauchen, um zu gedeihen. Bei genauerer Betrachtung ist auch Wickeln ein lerntheoretisch bedeutsamer Vorgang. Sich beim Wickeln entwickeln: das ist keineswegs die schlechteste Lernerfahrung. In einer Umkehrung üblicher Vorstellungen von Bildung und Erziehung soll damit festgehalten werden, dass Kinder die Erwachsenen lebendig halten und sie als Bildungsmacht ganz eigener Art vor der Erstarrung schützen.

Im Grunde muss man den Mut und das Vertrauen bewundern, mit denen Eltern heute ihre Kinder wie Rettungsringe in die Gesellschaft werfen, um absehbare Katastrophen abzuwenden. Denn ihre Kinder müssen Spitzenkräfte werden und Spitzenkräfte haben. Sie sind die Hoffnungsträger, die das gesellschaftliche Leben weitertragen sollen, wenn ab 2012 die Lücke unumkehrbar wächst, weil eine Generation in Rente geht, die an eigenem Nachwuchs offenkundig wenig Freude hatte. Diese Kinder werden, das ist nachzurechnen, sich nicht nur bei den eigenen Eltern revanchieren und sie im Alter stützen müssen, sondern viele andere Alte auch. Und sie brauchen auch noch Bärenkräfte für die erhofften eigenen Kinder.

Was viele nur ahnen, lässt sich inzwischen wissenschaftlich erhärten. Die Familien sind nach wie vor die mächtigsten Sozialisationsagenturen. Aber sie brauchen zunehmend mehr Unterstützungssysteme. Es fehlt der Aufbau einer verlässlichen Infrastruktur mit leicht erreichbaren Hilfsangeboten für diejenigen Familien, die ihren Kindern und ihrer Entwicklung aus eigener Kraft nicht gerecht werden können. Kinder sind nicht nur Anhängsel von Familien. Sie sind Subjekte mit einem eigenen Recht auf Entfaltung ihrer Talente. Da sie es selbst nicht einklagen können, liegt hier die pädagogische Verantwortung der Erwachsenen, der Gesellschaft überhaupt – nicht nur der Eltern.

Noch vertrauen viele Eltern ihre Kinder den gesellschaftlichen und dabei in hohem Maß  auch den kirchlichen Bildungseinrichtungen an. Daraus spricht ein hohes Maß an Vertrauen und Wertschätzung. Dass die Kindertagesstätten neben den Schulen gegenwärtig im Zentrum der Debatte stehen, hat natürlich mit dem PISA-Schocks, mit der Sorge vor dem Mangel an Fachkräften und mit der Angst vor Armut und Vergreisung zu tun. Doch es gibt dafür noch einen weiteren Grund. Wenn die Familien sich als Übungsfeld für soziales Verhalten auflösen, steuert unsere Gesellschaft – so ist zu hören - auf eine Ansammlung von Egoisten zu.

Angestoßen durch Frank Schirrmachers Buch „Minimum. Vom Vergehen und Neuentstehen unserer Gemeinschaft“ titelte der Spiegel am 6. März dieses Jahres: „Jeder für sich. Wie der Kindermangel eine Gesellschaft von Egoisten schafft.“ Wenn die Familie als wichtigstes Bindemittel der Gesellschaft zerfällt, hält man Ausschau nach Ersatzlernfeldern – unbeschadet aller Bemühungen, die Familien zu stärken und den Kinderwunsch zu beflügeln. Die Kindertagesstätten und auch die Ganztagsschulen erscheinen als besonders geeignet für die Entwicklung jenes offenbar unverzichtbaren Kapitals, das ebenso wichtig ist wie die Hebung von Bildungsreserven zu Zwecken ihrer wirtschaftlichen Nutzung; ich meine mit diesem ebenso unverzichtbren wie unverzinslichen Kapital die nachgewiesenermaßen in der Familie am besten trainierte Fähigkeit zu Rücksichtnahme und Selbstlosigkeit.

III.

Über den Mut, Maßstäbe zu nennen. Will man die Landschaft des gesellschaftlichen Wandels unter der Perspektive der Auswirkungen auf Bildung und Erziehung vermessen, ist es erforderlich, nicht nur Orientierungspunkte anzugeben, sondern auch Maßstäbe kenntlich zu machen.

Die Evangelische Kirche in Deutschland hat sich in ihrer Denkschrift „Maße des Menschlichen. Perspektiven zur Bildung in der Wissens- und Lerngesellschaft“ vor drei Jahren grundsätzlich zu ihrem Bildungsverständnis geäußert. Um einen evangelisch profilierten Bildungsbegriff ging es dabei, der an der menschlichen Biographie, an der Selbstbildung des Menschen in den verschiedenen Phasen des Lebenslaufs orientiert ist. Die evangelische Kirche tritt für eine am ganzen Menschen orientierte Bildung ein, welche sich an den Lebenslagen, Interessen und Möglichkeiten der einzelnen Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen ausrichtet. Der Kirche liegt daran, dass die Unterschiede zwischen langsamer und schneller Lernenden, zwischen Bildungsbegünstigten und Bildungsbenachteiligten mit unterschiedlichem ethnischem und religiösem Hintergrund stärker berücksichtigt werden.

Eine solche ganzheitliche Bildungsvorstellung sieht sich allerdings heute neuen Herausforderungen ausgesetzt. Wir leben heute nicht (mehr) in einer einheitlich strukturierten Lebenswelt. Als modern zeichnen sich die Verhältnisse dadurch aus, dass sie sich rasch verändern. Das, was als modern gilt, ist daher selbst einem Prozess der andauernden Entwertung unterworfen. Erneuerung ist der Imperativ. Der Fortschritt ist nur noch formal durchs Neue definiert. Er ist ein offener Raum, kein Ziel, das irgendwann erreichbar wäre. Niemand kann mehr sagen, wohin die Reise geht; dafür sollen sich alle anstrengen, umso schneller dort zu sein. Die zunehmende Beschleunigung des ökonomischen und gesellschaftlichen Lebens – insbesondere die Veränderung der Arbeitsverhältnisse – entwertet immer schneller und immer massiver die überlieferten kulturellen Muster der Lebensführung. Alle stehen fortwährend unter Veränderungs- und Handlungsbedarf. Beschleunigung und Unübersichtlichkeit sind die auffälligsten Merkmale dieses Prozesses. Dies führt unter anderem zu Sinn- und Orientierungsverlusten – und zu  individuellen wie gesellschaftlichen Suchbewegungen, um diese zu reduzieren.

"Orientierung ist darum heute ungemein wichtig geworden, aber ihr Fehlen wird vielfach nicht als Krise gedeutet oder als existenzbedrohend empfunden. Nicht die Orientierungskrise, sondern die Normalität eines hohen, stetig wachsenden Orientierungsbedarfs ohne stabile Orientierungsdaten ist darum gegenwärtig zentraler Ausgangspunkt von Bildungsarbeit." (Orientierung in zunehmender Orientierungslosigkeit, EKD 1997) Orientierung erfordert Wissen, Orientierungswissen eben. In einem Vortrag aus dem Jahre 2001 hat Jürgen Mittelstrass Folgendes ausgeführt: "Wo sich Wissen, Information und Orientierung auseinander bewegen, wo der Markt das Maß aller Dinge zu werden und der Mensch hinter seinen ökonomischen Werken zu verschwinden beginnt, wird Bildung zu einer konkreten Utopie und zur Zukunft einer Wissensgesellschaft, die wieder über einen intakten Wissensbegriff verfügt. ... In der modernen Welt hält die Zunahme an Orientierungswissen nicht mehr Schritt mit dem Anwachsen des Verfügungswissens. Der wissenschaftlich-technische Verstand ist stark, die praktische Vernunft schwach. Der Streit um einen Wertewandel versperrt den Blick auf die Zukunft der praktischen Vernunft."

Mittelstraß war es auch, der bereits in den neunziger Jahren Verfügungs- und Orientierungswissen so voneinander unterschieden hat: "Verfügungswissen ist ein Wissen um Ursachen, Wirkungen und Mittel; es ist das Wissen, das Wissenschaft und Technik unter gegebenen Zwecken zur Verfügung stellen. Orientierungswissen ist ein Wissen um gerechtfertigte Zwecke und Ziele; gemeint sind Einsichten, die im Leben orientieren (z. B. als Orientierung im Gelände, in einem Fach, in persönlichen Beziehungen), aber auch solche, die das Leben orientieren (und etwa den ‚Sinn’ des eigenen Lebens ausmachen)."

Ich bin davon überzeugt, dass von Bildung nur dann die Rede sein kann, wenn damit nicht nur Verfügungswissen, sondern auch Orientierungswissen gemeint ist. Ich glaube, dass wir die Ganzheitlichkeit von Bildung nicht nur darin sehen sollten, Körper, Seele und Geist in der Balance zu halten. Sie liegt auch darin, im Blick auf den menschlichen Geist nicht nur auf diejenigen Bildungsinhalte zu setzen, die jemand braucht, um für die Informationsgesellschaft fit zu sein. Vielmehr sind mit dem gleichen Gewicht diejenigen Bildungsinhalte zur Sprache zu bringen, die jemand braucht, um sich in seiner Welt orientieren und ethisch verantwortlich handeln zu können. In einer Schule, die dieser Vorstellung gerecht würde, wäre Ethik so wichtig wie Englisch, Religion so wichtig wie Mathematik, Geschichte so wichtig wie Informatik.

Wir erleben gegenwärtig eine äußerst paradoxe Entwicklung. Auf der einen Seite verstärkt sich die Tendenz, Bildungsprozesse auf verwertbares Wissen oder anwendbare Fertigkeiten auszurichten. Auf der anderen Seite lässt sich beobachten, dass immer neue Versuche unternommen werden, die dadurch entstehende Einseitigkeit zu kompensieren. Auch solche Kompensationsversuche haben ihren Wert. Auf eigentümliche Weise sind beispielsweise Sport- und Religionsunterricht dadurch miteinander verbunden, dass sie für solche Kompensationsversuche immer wieder auf je spezifische Weise in Anspruch genommen werden. Vom Sport verlangt man Bewegung, von der Kirche Werte. Doch Kompensation genügt nicht. Eine Neuausrichtung unseres Bildungsbegriffs ist nötig.

In der Diskussion um Verfügungswissen und Orientierungswissen ist ferner zu beachten, dass es zwischen beiden nicht zu falschen Abgrenzungen kommen darf: Auf der einen Seite stünde dabei ein Verfügungswissen, das sich "lernen", "erwerben" und empirisch prüfen lässt. Auf der anderen Seite fände sich ein Orientierungswissen, das als Konglomerat sogenannter "weicher Bildungsziele" nebulös und wenig fassbar ist, sich sowohl einer gezielten "Aneignung" als auch einer kriterienbezogenen Prüfung weithin entzieht.

Mit einer solchen Gegenüberstellung kann man sich deshalb nicht zufrieden geben, weil es doch um Orientierungs-Wissen geht. Es geht um ein Wissen, das in die Lage versetzt, sich in einer modernen und pluralen Welt zurechtzufinden. Dazu gehören bestimmte Fertigkeiten und Fähigkeiten, die Kenntnis von Sachverhalten und Zusammenhängen, das Verständnis der Folgen von Handlungen. Sie lassen sich durchaus in Lernprozessen organisieren und evaluieren. Darum geht es allerdings nicht allein. "Orientierungswissen ist ein Wissen um gerechtfertigte Zwecke und Ziele." Dazu braucht man einen Horizont von Werten und moralischen Kategorien sowie ein Urteilsvermögen, das sich außerhalb der verhandelten Sache gründet und begründet. Damit ist Orientierungswissen, theologisch gesprochen, letztlich auf die Fähigkeit des Menschen bezogen, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden. Ein solches Urteilsvermögen ist aus evangelischer Perspektive ohne den Bezug auf Gott nicht konsequent begründbar.

IV.

Es ist an der Zeit, neu nach dem Verhältnis zwischen Bildung, Erziehung und Gerechtigkeit zu fragen. Es geht mir am heutigen Tag darum, Bildung und Erziehung im Zusammenhang zu sehen. Dieser Zusammenhang wird in der gegenwärtigen Bildungsdebatte meist vollständig vernachlässigt. Erziehung, die sich ja wesentlich in den stärker informellen Bereichen der Familie oder der Peergroups abspielt, ist vielmehr weithin durch Bildung abgelöst worden, für die man die Institutionen von Staat und Gesellschaft für verantwortlich ansieht. Und diese Bildung wird zum anderen überwiegend als formale Bildung angesehen, die diejenigen Fähigkeiten und Fertigkeiten vermittelt, die Heranwachsende brauchen, um für die Informationsgesellschaft fit zu sein. Diese Dominanz formaler, technischer, instrumenteller Bildungsziele entspricht nur einem Teil von meist kurzfristigen ökonomischen Erfordernissen und übersieht den gesamtgesellschaftlichen Bildungsbedarf. Es ist jedoch verfehlt, wenn auf das schlechte Abschneiden Deutschlands oder einzelner deutscher Bundesländer in internationalen Vergleichsstudien wie PISA oder IGLU allein mit der Frage reagiert wird, welche Kompetenzen stärker entwickelt werden müssen und wie sie durch entsprechende Tests überprüft werden können. Wer allein dadurch eine Steigerung des Bildungsniveaus unter Beweis stellen will, lässt wichtige Dimensionen unberücksichtigt. In einer differenzierten und pluralen Gesellschaft, die von zunehmender Vielfalt und Differenzierung geprägt ist und in der Lebenschancen ungleich verteilt sind, muss sich Bildung der Frage nach Gerechtigkeit stellen. Ein evangelisches Bildungsverständnis orientiert sich am Recht auf gleichen Zugang zu Bildung.

Studien, wie sie unter den Kürzeln PISA oder IGLU bekannt geworden sind, müssen also neue Anstrengungen zur Reform des Bildungswesens auslösen. Sie dürfen sich nicht darauf beschränken, den Erwerb von sprachlichen und mathematisch-naturwissenschaftlichen Kenntnissen und Wissensbeständen zu prüfen. Blieben wir dabei stehen, würden wir Bildung verkürzen und beschädigen.

Vielen Schülerinnen und Schülern fehlen elementare Lernvoraussetzungen. Sie sind nur unter Mühen bereit und fähig dazu, sich zu konzentrieren und ihr Leistungsverhalten zu strukturieren. Von den Unterrichtenden wird vielfach ein mangelndes Sozialverhalten beklagt. Ausreichende soziale Kompetenzen wie Regelbewusstsein, Rücksichtnahme, Kooperationsbereitschaft und Teamfähigkeit sind aber für eine spätere Berufsausübung und ein gelingendes Leben mindestens ebenso wichtig wie kognitive Fähigkeiten und inhaltliche Kompetenzen. Solchen Problemen kann nicht mit allgemein formulierten Bildungsstandards und Maßnahmen zur Erhöhung des Selektionsdrucks begegnet werden. Vielmehr konfrontieren uns viele Vorgänge in unseren Schulen, bis hin zu schreckenerregenden Signalen wie dem Amoklauf des Schülers Sebastian B. in der Geschwister-Scholl-Schule von Elmsdetten, mit unbequemen Fragen. Zu ihnen gehört, ob der Zerfall der Kommunikation zwischen Eltern und Kindern – durch den Konsum von Fernsehen und Internet gefördert – Jugendliche so unansprechbar machen kann, dass sie von niemandem mehr erreicht werden. Dazu gehört aber auch die Frage, ob unser Bildungssystem junge Menschen aussondert, statt sie zu integrieren, abstempelt, statt zu befähigen, ausgrenzt, statt einzubeziehen. Die grundlegende Erfahrung, auf die jeder Heranwachsende angewiesen ist, besteht jedoch darin, dass er gefordert wird, weil er wertgeschätzt ist, dass ihm etwas zugetraut wird, weil ihm etwas anvertraut ist: nämlich eine Person zu sein, die wichtig ist und Würde hat.

Eine solche Wertschätzung hat in jedem Unterrichtsfach ihren Ort. Aber sie braucht Lehrkräfte, die für mehr qualifiziert sind als nur für bestimmte Fächer. Zu wirklicher Pädagogik gehört die Einsicht, dass in der Schule nicht Fächer und Gegenstände unterrichtet werden, sondern Menschen. Deshalb verweist die Rede von einer „Lernkultur“, „Schulkultur“ oder pädagogischen Kultur auf ein großes Problem hin. Ebenso verweist die neue Betonung des sozialen Lernens und die Suche nach Formen, in denen auch in deutschen Schulen Verantwortung gelernt werden kann, auf ein dringendes, nicht in Fächern und Zuständigkeiten einzusperrendes Desiderat. Versuchsschulen und Schulen in freier Trägerschaft zeigen überzeugend, was hinsichtlich einer solchen Schulentwicklung und einer auf solche Inhalte bezogenen Profilbildung von Schulen möglich ist. Schulen stehen heute unter stärkerem Druck, als viele wissen; trotzdem ist in Schulen mehr Erziehung zur Verantwortung möglich, als viele denken.

V.

Nicht nur der gesellschaftliche Wandel wirkt sich auf Bildung und Erziehung aus; höchst folgenreich ist vielmehr zugleich der gesellschaftliche Stillstand. Wenn man sich an die enorme gesellschaftliche Aufmerksamkeit für Fragen der Bildungspolitik in den sechziger und siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts erinnert, so wird einem deutlich, dass es der Nachfragedruck aus der Gesellschaft war, der die Bildungsreform stark machte. Die Zugkraft der Diskussion ergab sich dagegen weniger aus der Überzeugungskraft inhaltlich definierter Bildungsziele.

Damals wie heute wird Bildungspolitik im Kern von gesellschaftlichen Interessen bestimmt. Zumeist gilt Bildung dabei als Mittel zum Zweck. Heranwachsende sollen dazu befähigt werden, den beruflichen, sozialen und kulturellen Anforderungen ihres Lebens gerecht zu werden. Wer „Bildung“ sagt und sich etwas von ihr verspricht, meint in der Regel nicht einen Vorgang im Menschen, eine Aneignung der Welt oder eine Selbstbildung der Person. Er meint vielmehr mit Bildung „Bildungsabschlüsse“. In der Koppelung mit dem Beschäftigungssystem ist das Bildungssystem das Schlüsselsystem jeder modernen Gesellschaft. Es ist erstaunlich, wie frisch, lesbar und praktisch unausgeschöpft Veröffentlichungen aus der Zeit sind, in der solche Zusammenhänge schon einmal bedacht wurden. Vor vierzig Jahren haben diese Veröffentlichungen schon einmal erhebliches Aufsehen erregt. Georg Pichts „Deutsche Bildungskatastrophe“ aus dem Jahre 1964 oder „Bildung ist Bürgerrecht“ von Ralf Dahrendorf, veröffentlicht 1965, oder „Aufbruch ins Jahr 2000. Erziehung im technischen Zeitalter“ von Hildegard Hamm-Brücher, erschienen 1967, sind Beispiele dafür.

Aber es gibt auch Klassiker ganz anderer Art. Seit dreißig Jahren steht ein Cartoon mit verschiedenen Tieren – sie sollen alle auf einen Baum hinauf – für den Begriff der Chancengleichheit. Da stehen sie, der Elefant, der Fisch im Glas, der Affe und der Seehund und werden aufgefordert: „Zum Ziel einer gerechten Auslese: Klettert auf den Baum.“ Und so wenig der Elefant mittlerweile den Gipfel erklommen hat und der Fisch sein Element verlassen hat, so wenig besucht das durch seine Familiensituation benachteiligte Kind heute das Gymnasium, so wenig haben die Studienchancen von Migrantenkindern sich verbessert.

Vor drei Jahren hat jemand den Klassiker mit den Tieren von Hans Traxler neu gezeichnet. Denjenigen, die sich bisher nur an der hübschen Idee freuten, dass da ein Elefant und ein Fisch das Klettern lernen sollten, ist die Sache näher auf den Leib gerückt. Da stehen sie nun, wie im richtigen Leben: Der Brillenträger mit dem Geigenkasten neben dem Sportfreak, mit Seil und Wurfanker gut ausgestattet, das knöchellang verschleierte Mädchen steht neben der übergewichtigen Couchpotatoe, neben dem Skater mit der Baseballkappe hockt der Rollstuhlfahrer. Und wiederum lautet die Aufforderung: Der Chancengleichheit wegen, klettert alle auf den Baum. Zu wenig also hat sich im letzten Vierteljahrhundert geändert. Zu viel hat sich nicht verändert. Zu den alten Ungleichheiten sind neue Benachteiligungen hinzugekommen. Nicht nur der gesellschaftliche Wandel wirkt sich aus auf Bildung und Erziehung. Wirkung zeigt auch der gesellschaftliche Stillstand.

Es ist nicht zu bestreiten: Globalisierung, Zeitverdichtung, Zeitdruck und Flexibilisierung sowie die dafür eingesetzten Technologien dynamisieren unsere Lebensverhältnisse grundlegend. Und der entstehende Anpassungsdruck soll – so die verbreitete Hoffnung – vor allem durch Bildung bewältigt werden. Im Hintergrund steht dabei unverkennbar die Befürchtung, dass der Wirtschaftsstandort Deutschland andernfalls den Anschluss an die globale Entwicklung verliert. Wissen und Lernen werden in diesem eher angstbestimmten Kontext zu Schlüsselbegriffen unserer Gesellschaft.

Der Wirtschaftsstandort Deutschland ist nur zu sichern durch ausreichend qualifizierte Menschen in allen Arbeits- und Lebensbereichen. Angesichts der demographischen Entwicklung ist es darum auch ein Gebot der ökonomischen Vernunft, kein Kind, keinen Jugendlichen verloren zu geben. Darüber hinaus wird Bildung als die entscheidende Möglichkeit gesehen, die individuelle Zukunft und die soziale Ausgangslage zu entkoppeln. Bildung erscheint – so gesehen – als die entscheidende Möglichkeit, schlechte Startbedingungen zu überwinden und das individuell erreichbare Maß an Beteiligung am Arbeitsleben wie am gesellschaftlichen Leben zu erreichen.

Angesichts dieser Situation ist es nicht erstaunlich, dass der im Juni diesen Jahres gemeinsam von Bund und Ländern vorgelegte Bildungsbericht ein intensives Presseecho fand. Die Süddeutsche Zeitung titelte „Das planmäßige Scheitern: frühe Auslese, geringe Durchlässigkeit, zahlreiche Abbrecher; zu viele Schüler bleiben auf der Strecke“. Und das ist ja nur der Start. Wer hier verloren geht, hat auch später kaum noch Chancen. Es gehört zu den bedrückenden Erkenntnissen, dass die diversen Hilfssysteme diese Schere selten schließen. Und es verdient großen Respekt, wenn ehrenamtliches Engagement den schulischen Bemühungen zur Seite tritt und die gefährliche Klippe zwischen Schule und Ausbildung zu überwinden hilft. Der Bertelsmann-Preis hat im vergangenen Jahr Beispiele dafür hervorgehoben und gewürdigt.

In Deutschland hat ein Ausbildungsabschluss für den erfolgreichen Start ins Berufsleben und den Verbleib im ersten Arbeitsmarkt große Bedeutung. Je geringer die formale Bildungsqualifikation, desto schlechter die Position auf dem Arbeitsmarkt. Darum ist es mehr als bedenklich, dass ungefähr acht bis zehn Prozent aller Schulabgänger keinen Schulabschluss erhalten. Ungefähr fünfzehn Prozent aller Jugendlichen bleiben ohne Ausbildung – mit zunehmender Tendenz. Unter Jugendlichen mit Migrationshintergrund haben gegenwärtig vierzig Prozent keine Ausbildung. Die Gesamtzahl der Jugendlichen zwischen 20 und 29 Jahren ohne abgeschlossene Berufsausbildung liegt mittlerweile weit über einer Million. Für die Zukunft unseres Landes und für die gesellschaftliche Integration liegt in diesen Zahlen eine Sprengkraft, die endlich wahrgenommen, aber auch konsequent entschärft werden muss. Jugendliche, die von unserem Bildungs- und Beschäftigungssystem in seiner jetzigen Form nicht aufgefangen werden, brauchen dringend mehr Unterstützung. Dazu ist ein entschlossenes gesamtgesellschaftliches Handeln erforderlich.

„Wir brauchen hier jeden, hoffnungslose Fälle können wir uns nicht erlauben“, sagte Jukka Sarjala, seinerzeit Präsident des finnischen Zentralamtes für Unterrichtswesen. Diese Bildungsphilosophie des PISA-Siegers Finnland fasst bündig zusammen, was die Quintessenz jedes zukunftstauglichen Bildungswesens sein sollte: „Keiner darf verloren gehen.“ Das gilt nicht nur im Blick auf die gesellschaftliche und wirtschaftliche Nützlichkeit gut ausgebildeter junger Menschen; es gilt vielmehr um der Würde jeder einzelnen Person willen. Und es gilt nicht erst seit die Unterjüngung unserer Gesellschaft einen dramatischen Mangel an jungen Leuten zur Folge hat; es gilt vielmehr unabhängig davon, ob es viele oder wenige Kinder und Jugendliche gibt. Es ist ein Armutszeugnis, wenn erst der Mangel an Kindern und Jugendlichen bewusst macht, wie kostbar sie sind. Aus all diesen Gründen sollten jede Schülerin und jeder Schüler so gefördert werden, dass sie zumindest einen mittleren Leistungsstandard erreichen. Dass dies nicht illusionäres Wunschdenken, sondern eine anerkannte und wirksame Zielvorgabe ist, zeigen Beispiele aus anderen europäischen Ländern.

Alle finnischen Schulen sind mit einem Fördersystem ausgestattet, dass sich wie die Gestaltwerdung des Engagements Jesu für die Randständigen seiner damaligen Gesellschaft lesen lässt, und das als Ideal beispielsweise allen evangelischen Schulen zu Grunde liegt. Es handelt sich um eine gestufte Integration, die sich an den Möglichkeiten der Schüler orientiert – das gilt besonders für lernschwache oder leicht behinderte Kinder, die nur im Notfall auf eine der wenigen Sonderschulen geschickt werden. Neun Jahre lang hat in Finnland keine Lehrkraft die Möglichkeit, schwächere Schüler an die nächstniedrigere Schule abzuschieben.

Dass es oft alles andere als einfach ist, junge Menschen bei der Stange zu halten, sie für den Unterricht zu begeistern und Lernfortschritte mit ihnen zu erzielen, hat Bundespräsident Köhler im September in seiner mit Bedacht in einer Hauptschule gehaltenen Berliner Rede zum Bildungsthema nicht ausgeblendet. „Wir alle wissen“, sagte der Bundespräsident, „in den Hauptschulen bündeln sich viele Schwierigkeiten. Das hat allerdings auch damit zu tun, dass manche es sich zu leicht machen, indem sie Schüler mehrfach sitzenbleiben lassen oder von einer Schule zur anderen weiterreichen.“

Solange unser Schulsystem um einer angestrebten Homogenität willen wie eine Kombination von Hackbrett und Presse funktioniert, das unten abschneidet und oben deckelt, werden viele Kinder und Jugendliche zum bloßen Rest. Ihre Bildungsgänge haben den Charakter von Verlustgeschäften. Ohne Chance auf Entfaltung ihrer Talente reicht man sie weiter, genauer gesagt, man reicht sie tiefer. Die Abgeschnittenen werden zur gesellschaftlichen Resteverwertung vorzugsweise in Restschulen komprimiert. Die Volksschulen seien „aus ihrer immer noch spürbar verbleibenden Isolierung als Elementar- und Armenschulen zu befreien“, erklärte Paul Kaestner, ein preußischer Ministerialbeamter, schon um 1920. Ohne Frage: Es bleibt noch viel zu tun.

„Keinen verloren geben!“ Diese Zielangabe hat einen eindringlichen Ton. Einen solchen Ton wählt man, wenn etwas nicht so sein soll, wie es ist. Und unbestreitbar ist es so: Es sind viel zu viele, die verloren gehen. Nicht nur in wirtschaftlicher Hinsicht ist dies eine Bankrotterklärung. Denn wer andere verloren gibt, wird selbst zum Verlierer. Dass zu viele verloren gehen, ist auch eine moralische Bankrotterklärung. Bei einem bildungspolitischen Fachgespräch erklärte ein Vertreter der Unternehmerseite: „Wir brauchen die zehn Prozent Besten eines Jahrgangs. Die schöpfen wir aus jedem Bildungssystem ab.“ Ende des Zitats! Über den Rest schwieg er sich aus. Aber auch aus Unternehmersicht war das verkehrt.

Ein solches Schweigen ist der Kirche nicht erlaubt. Als Kirche verlieren wir nicht nur unser Profil, wir verlieren als Kirche auch den Boden unter den Füßen, wenn wir uns nicht mehr nach jedem verlorenen Groschen bücken, wenn wir nicht mehr jedem verlorenen Schaf nachlaufen, wenn wir nicht mehr, wie es in einem unserer viel gesungenen Abendmahlslieder heißt: die „Gebeugten stärken und die Schwachen schonen“. Bildungschancen in unserem Bildungssystem sind daher unter den Gesichtspunkten der Befähigungsgerechtigkeit und der Solidarität zu prüfen. Wer sich als Christ taub stellt, wenn die Ungerechtigkeit zum Himmel schreit, beschädigt sich selbst und verleugnet seinen Glauben im Kern. Von Anfang an wurzelt die Hoffnung auf mehr Gerechtigkeit in der Mitte des biblischen Glaubens. Gerechtigkeit bezieht sich immer auf Gemeinschaft. Beteiligungsgerechtigkeit ist ein Maßstab für Beziehungsqualität. Im Zentrum evangelischer Frömmigkeit steht die Gewissheit, dass Gott uns Gerechtigkeit zuspricht und dass wir deshalb die eigenen Gaben in das gemeinsame Leben einbringen und andere darin bestärken, dies auch zu tun.

Aus einer solchen Perspektive liegt das eigentlich Aufregende an den PISA-Studien darin, dass eine Gesellschaft am Beispiel der Bildungspolitik höchst Unangenehmes über sich selbst in Erfahrung bringt. Der Schmerzpunkt, an dem es richtig weh tut, ist das uneingelöste Versprechen der Chancengerechtigkeit. Deutschland ist erwiesenermaßen Weltmeister im Aussortieren und Separieren. Keiner spreizt sich im Spagat zwischen guten und schlechten Schülern so wie wir. Die Dummen werden dümmer und die Schlauen schlauer. „Die einen häufen Bildung an, die andern fallen raus“, sagt Eckart Klieme, einer der Autoren des Bildungsberichts. Einige sammeln Zeugnisse und Diplome, andere sammeln Niederlagen. Die einen schwänzen und verabschieden sich dauerhaft aus dem Klassenzimmer. Die anderen sind schon als Schülerinnen und Schüler Gäste an der Uni. Doch selbst die besonders Begabten kämpfen gegen Deckelungen. Die einen werden abgeschnitten, die anderen werden gedeckelt. Nicht einmal Spitzenleistungen bringt die Selektion - und auf die zielte doch das ganze Unternehmen.

Unser Bildungssystem ist zwar durchlässig, aber überwiegend nach unten. Auf einhundert Schüler und Schülerinnen, die absteigen, kommen höchstens elf, die aufsteigen. Die schulische Ghettoisierung von Minderheiten stabilisiert die gesellschaftlichen Ghettos. Wenn Bildungsräume keine Förderräume sind, entwickeln sie sich zwangsläufig zu Trainingsarenen für den gesellschaftlichen Konkurrenzkampf mit unfairen Startbedingungen. Erwiesenermaßen wird am Übergang von der Grundschule zu den weiterführenden Schulen von Lehrerinnen und Lehrern die Messlatte für Kinder aus ohnehin benachteiligten Milieus fast um ein Drittel höher gelegt als für Mitschülerinnen und Mitschüler aus der bildungsnahen Mittelschicht. Aus schwierigen Verhältnissen heraus muss man kraftvoller springen, um für höhere schulische Weihen empfohlen zu werden. Was ändert die Mentalitäten? Im Dauerclinch mit den Strukturen halten sie die Chancenungerechtigkeit recht stabil.

Umgekehrt wäre es richtiger: Ebenso wie Begabte, das heißt in der Regel genauer: bereits zu Hause Geförderte auch in der Schule gefördert werden sollen, verdienen auch diejenigen Förderung, die es von Hause aus schwerer haben. Sie auf ihre Startbedingungen festzulegen, ist ebenso unchristlich, wie ihre Förderung davon abhängig zu machen, ob man gesellschaftlich etwas mit ihnen anzufangen weiß. Es sollte deshalb nicht nur ökonomisch gemeint sein, wenn ein Bildungskongress von McKinsey vor einem Jahr unter dem Motto stand: „Wer an den Kindern spart, wird in Zukunft verarmen.“ Noch immer weiß man nicht sicher, ob aus solchen Einsichten konsequente und zukunftsfeste Schritte folgen. Wo man doch auch den anderen Satz nicht nur ökonomisch verstehen sollte: Frühes Investieren erspart weitgehend späteres Reparieren.

VI.

Aufbruch aus der Erstarrung. Kinder und Jugendliche sind anziehend, sie sind erziehend – sie verändern jene, die mit ihnen leben. Sie sind ein Heilmittel gegen den Stillstand. Mit ihnen ist das Leben zu Gast in unser aller Leben. Ein starker Satz des rastlosen, sich verbrauchenden Filmemachers Rainer Werner Fassbinder hieß: „Schlafen kann ich, wenn ich tot bin.“ Erstarren kann die Gesellschaft immer noch, wenn das Leben aus ihr ausgewandert ist. Doch noch ist reichlich Leben da. Das Leben ist nach wie vor zu Gast. Nicht nur im Raum der Schule, sondern an vielen Orten ist es zu Gast und führt reichlich Gastgeschenke mit sich. Wer Kinderschritte mitgeht und sich mit den Augen Jugendlicher auf Entdeckungsreisen begibt, der mag vielleicht nicht „hipp“ sein und sein Leben auch nicht „stylisch“. Es ist uns nicht versprochen, dass er bequem ist, unser Nachwuchs. Doch war genießen je bequem?

Die Bewegung, in die Kinder uns bringen, lässt einen Pulsschlag spüren, der tiefer ist als die Herzrhythmen eines erfolgsverhetzten, globalisierten Lebens. Kinder und Jugendliche sind uns ans Herz gelegt, damit sich mit der Freude an ihnen auch die Kraft verbindet, die Ausgegrenzten hereinzuholen und die Verlorenen nicht verloren zu geben. In Kindern und Jugendlichen begegnet uns die Liebe als Triebkraft der Gerechtigkeit, die schon lange unterwegs ist, aber immer wieder aufs Neue ankommen will.

Um ein solches Ankommen geht es auch bei einem Kongress, wie er uns hier in Hannover zusammenführt. Ein solcher Kongress ist ein Übergang. Er führt uns vom bloßen Gedankenspiel zur gelebten Wirklichkeit. Sie fordert uns alle, selbst Gerechtigkeit zu schaffen und Solidarität zu üben, an welcher Stelle im Bildungswesen wir auch stehen. Aufbruch aus der Erstarrung.