"Glaube, Werte, Differenzen" - Laudatio für Erhard Eppler in Berlin

Wolfgang Huber

I.

Im Herbst 1968 begegnete ich Erhard Eppler zum ersten Mal. Ich war 26 Jahre alt und gerade Mitarbeiter der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft in Heidelberg geworden; er stand kurz vor seinem 42. Geburtstag und war ein Hoffnungsträger der SPD, der gerade zum Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit ernannt worden war. Bei ihm sah ich an diesem Tag vor mehr als 38 Jahren zum ersten Mal die Methode, mit kleinen Karteikarten in der Hand Vorträge zu halten. Inzwischen haben die Fernsehmoderatoren das von ihm übernommen; ich habe es nie gelernt. Und er hat es, nachdem andere es nachgemacht haben, wieder bleiben lassen.

Die Evangelische Akademie in Herrenalb veranstaltete damals, im Herbst 1968, eine Tagung zur politischen Rolle der Kirche; „Kirche und Öffentlichkeit“ war das Thema, das mich damals von der Gemeinde zurück zur Wissenschaft und, soweit es die Wissenschaft betraf, vom Studium der frühen Christenheit zur Systematischen Theologie und Sozialethik brachte.

Dass wir fünf Jahre später zusammen in der Kammer für öffentliche Verantwortung der EKD und zehn Jahre später zusammen im Präsidium des Deutschen Evangelischen Kirchentags sitzen würden, konnte niemand ahnen. Nicht einmal Mitglied der SPD war ich, als ich Erhard Eppler das erste Mal hörte; dass es dazu kam, war noch ein bisschen stärker Willy Brandt als ihm zuzuschreiben. Aber für den baden-württembergischen Spitzenkandidaten der SPD setzte ich mich später von Herzen gerne ein, sogar in einer Wahlkampfwoche Anfang 1980, in der ich eigentlich bei meiner Frau, unserer neu geborenen Tochter und den beiden älteren Söhnen hätte bleiben sollen. Weil ich ihn kannte, dachte ich auch, man müsse seine Überzeugungen nicht aufgeben, wenn man Bundestagsabgeordneter würde. Dass ich es, anders als er, dann doch nicht wurde, ist eine andere Geschichte. Wichtiger als diese Geschichte ist, dass wir bald nach der Geburt der schon erwähnten Tochter nacheinander Präsidenten des Deutschen Evangelischen Kirchentags waren. Das gehört zu den Erfahrungen, die bleiben.

Im Blick auf diese gemeinsame Geschichte müssen Erhard Eppler und ich  beide schmunzeln, wenn ich heute auftrete, um eine Laudatio auf ihn zu halten. Ich denke dabei nicht nur an die Situation, in der wir uns mit 26 und 42 Jahren kennen lernten, oder an die Jahre, in denen wir nacheinander Kirchentagspräsidenten waren. Ich denke auch an das Jahr 1981, in dem wir uns unter den missbilligenden Blicken von Kollegen im Präsidium des Deutschen Evangelischen Kirchentags auf den Weg zur großen Friedensdemonstration beim Evangelischen Kirchentag in Hamburg machten, um uns drei Monate später bei der Demonstration im Bonner Hofgarten wieder zu treffen.

Für uns beide gilt gerade nicht, was ich dieser Tage bei einer anderen Geburtstagsrede hörte, bei welcher der gerade Gelobte, an den Laudator gewandt, bekräftigte: Ja, im Alter rückt man sich näher. Nein, so jung ist die Nähe nicht. Und ich hoffe, es geht mir bei meinen dankbaren Worten an Erhard Eppler auch nicht wie dem englischen Porträtisten, der sein künstlerisches Tun so beschrieb: Bei jedem Porträt verliere ich einen Freund.

Eher ist es das erstaunte Reiben der Augen, mit dem Erhard Eppler auf den Brief des Ratsvorsitzenden der EKD zu seinem 80. Geburtstag reagierte: Das hätte vor drei Jahrzehnten niemand gedacht: dass der junge Theologe aus Heidelberg ... dem weit älteren Schwaben aus dem Schwarzwald zum 80. Geburtstag als Ratsvorsitzender der EKD ... gratulieren würde. Und er fügte hinzu: Dass es nun doch so gekommen ist, spricht dafür, dass wir beide ... Grund zur Dankbarkeit haben. Diese Dankbarkeit gilt unserer Kirche, noch mehr dem, für den sie da sein soll.

Aber was wir damals nicht gedacht hätten, ist jetzt der Fall: Die Evangelische Kirche in Deutschland hat vielfältigen Grund, Erhard Eppler zu danken und seinen Beitrag zum Weg unserer Kirche und insbesondere zur Wahrnehmung ihrer politischen Verantwortung ins Licht zu rücken. Und ich darf der Sprecher dieses Dankes sein. Dass ich das aus einer großen persönlichen Verbundenheit heraus tue, mag eine solche Laudatio erleichtern. Aber die subjektive Sichtweise kann die Aufgabe auch erschweren. Ich lasse deshalb zunächst einmal andere Stimmen zu Wort kommen, um mich dem Phänomen Erhard Eppler gleichsam von außen zu nähern.

II.

Beginnen wir mit einigen publizistischen Schlagzeilen, die sich um den 80. Geburtstag von Erhard Eppler rankten. Sie wirken wie äußerliche Etiketten auf mich, die ihn zum Teil besser, zum Teil weniger gut charakterisieren. Was heißt es da so alles? Protestantisch, schwäbisch, idealistisch / Der Friedensbewegte / Stets seiner Zeit voraus / ... dass eine künftige Generation leben kann. Viel Richtiges und Wichtiges wird unter solchen Überschriften gesagt. In die Tiefe dringt das alles freilich nicht, und schon gar nicht wird ein Gesamtbild daraus.

Vielleicht nähert man sich dem Phänomen Erhard Eppler etwas besser, wenn man Zeitgenossen und Wegbegleiter zu Wort kommen lässt.

Zunächst möchte ich einen Menschen zitieren, dem wir beide, vor allem durch die kirchliche Herkunft und den Bezug zum Kirchentag und zur Kammer für Öffentliche Verantwortung eng verbunden sind, wenn auch mit anderer Parteizugehörigkeit. Richard von Weizsäcker berichtet in seinem Erinnerungsbuch Vier Zeiten , wie Erhard Eppler und er zusammen 1968 in Ostberlin die EKD-Denkschrift Friedensaufgaben der Deutschen verfassten. Auch damals konnten zwei kongeniale Autoren das nur dann in relativ kurzer Zeit hinbekommen, wenn die zuständige Kammer der EKD das zuließ. Andernfalls schreibt ein größeres Autorenkollektiv jahrelang an einer solchen Friedensdenkschrift. Entscheidend war, dass die beiden Hauptautoren sich über Parteigrenzen hinweg auf eine gemeinsame Plattform von Wertvorstellungen einigten. Das verdient den allergrößten Respekt. Und es war auf seine Weise auch ein Beitrag dazu, dass von 1969 bis 1989 in der alten Bundesrepublik eine bei allen politischen Veränderungen und trotz des Regierungswechsels von 1982 recht kontinuierliche Ost- und Entspannungspolitik den Weg zur deutschen Einheit bahnen konnte.

Eine andere Person, die Erhard Eppler zwar nicht kirchlich, aber durch die gemeinsame Parteizugehörigkeit nahe stand, war der SPD-Vordenker und frühere Bundesgeschäftsführer der SPD, Peter Glotz. In seinen Memoiren verteidigt er Erhard Eppler immerhin gegen Herbert Wehners ebenso ungerechten wie unsinnigen Pietkong-Vorwurf und kennzeichnet ihn, was auch wieder verblüffend ist, als einen Kulturprotestanten. Auf diese Einschätzung kann, ehrlich gesagt, nur jemand kommen, der den Protestantismus nicht genau kennt. Die Charakterisierung ist jedenfalls bei Glotz keineswegs nur positiv gemeint, denn der programmatische Dissident der späten siebziger und frühen achtziger Jahre machte dem damaligen Bundesgeschäftsführer der SPD, so fand der jedenfalls, das Leben nicht nur leicht. Glotz kennzeichnet den damaligen Vorsitzenden der Grundwerte-Kommission der SPD als einen asketischen Programmatiker. Er bezeichnet ihn zugleich als den besten Kopf der Programmkommission der SPD in den Achtzigerjahren sowie als unbestrittene Zentralfigur des linken Flügels der SPD.

Freilich wirft er zugleich dem Berliner Programm von 1989, das ohne Zweifel stark von Erhard Eppler geprägt war, vor, es sei gesinnungsstark und analysefrei und predige zu viel. So gehen eben Parteifreunde miteinander um. Die SPD der Achtzigerjahre, besonders Hans-Jochen Vogel, Johannes Rau und Erhard Eppler bezeichnet der zu früh verstorbene Peter Glotz als die guten Hirten, und konstatiert: In den achtziger Jahren waren wir sehr evangelisch geworden.  Der Agnostiker Glotz, der selbst den Katholiken Hans-Jochen Vogel offenbar für gesinnungs-evangelisch hielt,  verlieh damit Erhard Eppler, der SPD und der evangelischen Kirche eine Art Ehrentitel, mit dem sich, ganz gegen die Intention des Urhebers, gut leben lässt.

III.

Im vergangenen Jahr erschien ein umfangreiches und beeindruckendes Werk zur Geschichte der Bundesrepublik, das den Titel trägt: Die geglückte Demokratie; es wurde mir neulich in Heidelberg zum Geschenk gemacht. Der Autor Edgar Wolfrum hebt Erhard Epplers Rolle an drei markanten Stellen hervor und steckt damit Dimensionen einer Gesamtsicht ab.

So schildert Wolfrum erstens, Eppler sei es als Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen 1968 und 1974 gelungen, die Entwicklungspolitik als dritte tragende Säule der Außenpolitik - neben der West- und der Ostpolitik - zu etablieren. Nun mag das Verbum etablieren in diesem Zusammenhang etwas euphorisch, vielleicht sogar euphemistisch klingen. Denn es war gerade die faktische Nebenrolle der Entwicklungspolitik bis zum heutigen Tag, die Erhard Eppler vor knapp 33 Jahren zu seinem spektakulären Rücktritt veranlasste. Aber richtig ist, dass die Entwicklungspolitik dank Erhard Epplers Wirken bis zum heutigen Tag in unserem Bewusstsein und in unserem moralischen Urteil einen weitaus größeren Stellenwert hat als zuvor. Als ich Erhard Eppler 1973 zum ersten Mal in der Kammer der EKD für öffentliche Verantwortung hörte, ließ Bischof Hermann Kunst, der damalige Bevollmächtigte der EKD bei der Bundesregierung, seinen legendären Bericht zur Lage völlig fahren und bat den Minister zu berichten: von seinem Einsatz für den Kontinent Afrika und gegen den weltweiten Hunger, für Entwicklung und gegen die Ausbeutung der Entwicklungsländer.

Edgar Wolfrum hebt zweitens Erhard Epplers Rolle für den Deutschen Evangelischen Kirchentag hervor, dessen Präsident er zweimal war. Erhard Eppler nutzt den Kirchentag bis heute als Forum, um sein Verständnis von Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden zu entfalten. Auf Kirchentagen bezog er Stellung gegen Rüstungsexporte und gegen die Apartheid; er trug zuweilen lila, dann wieder gelbe Gesinnungstücher und fand dabei auch bei vielen Respekt, die anderer Auffassung waren und erst sehr viel später einräumten, er habe doch Recht gehabt.

Schließlich erwähnt der Verfasser des Buchs über die geglückte Demokratie Erhard Eppler, man höre und staune, in einem Atemzug mit Helmut Schmidt und erinnert an das politische Bonmot: Mit Schmidt und Eppler für und gegen Kernenergie. Dieses Bonmot beschreibt den sozialdemokratischen Umgang mit dem politischen Dilemma der Sozialdemokratie in den siebziger und frühen achtziger Jahren. Im Rückblick muss man es ja zugeben: Die scharfe Kontroverse zwischen Eppler und Schmidt war damals ein unentbehrliches Mittel für die Integration der SPD. Sie erzeugte sogar einen klassischen politischen Witz, der denen, die ihn nicht kennen, aber erst am vorgerückten Abend erzählt wird.

Erhard Eppler war damals seiner Zeit voraus. Ich erinnere mich aus jener Zeit an Diskussionen in der Evangelischen Studiengemeinschaft in Heidelberg sowohl mit Erhard Eppler als auch mit Helmut Schmidt. Der eine wies nüchtern darauf hin, dass Politik sich im Vierjahresrhythmus vollziehe; der andere war davon überzeugt, dass politisches Handeln einen ganz anderen Horizont habe: Ende oder Wende. Die Zuordnung überlasse ich Ihnen.

Keiner hat früher als Erhard Eppler Zweifel an der Nachhaltigkeit der Nuklearenergie als Energiequelle angemeldet- Mit einer Nein danke-Haltung hatte das nichts zu tun. Diese Haltung benutzte vielmehr Epplers Argumente und machte sie populär, sie schöpfte aus seinem schier unerschöpflichen Reservoir an guten Gedanken und orientierenden Differenzen. Erst nach der Katastrophe von Tschernobyl fasste die SPD auf dem Nürnberger Parteitag im August 1986 die entscheidenden Beschlüsse zum Einstieg in den Ausstieg aus der friedlichen Nutzung der Kernenergie. Wenn manche heute wieder für die Kernkraft votieren, sollten sie jedenfalls die Argumente von damals nicht vergessen. Die damals schon beschriebene Entsorgungsfrage ist bis heute ungeklärt. Denn wer Atommüll einlagert, muss ihn für Zehntausende von Jahren sicher lagern können. Ob dies möglich ist, darf füglich bezweifelt werden. Solche Argumente brachte Erhard Eppler frühzeitig zur Geltung.

Aber das sind nur Beispiele. Sie zeigen, warum Erhard Eppler einen unverwechselbaren und unverlierbaren Platz in der geglückten Demokratie hat. Zu deren Glück gehört, dass Christen ihren Glauben im politischen Engagement nicht verstecken. Zu ihr gehört, dass es Menschen gab, denen die gemeinsamen Aufgaben der Deutschen auch in der Zeit wichtig waren, in denen Deutschland geteilt war. Zum Glück dieser Demokratie gehört, dass sie Sensibilität in Fragen entwickelte, deren Berücksichtigung sich nicht im Vierjahresrhythmus von Wahlen auszahlt. Zu ihrem Glück gehört, dass die Einheit in Freiheit Wirklichkeit wurde, die wir doch allenfalls am fernen Horizont sahen, ohne zu wissen, wie man zu ihm gelangen könne.

IV.

Erhard Eppler ist ein Mensch, der auch dann neugierig bleibt, wenn andere mit dem Fragen aufhören. Wie er in den letzten Jahren den Funktionswandel von Staat und Politik, von Krieg und Gewalt beschrieben hat, ist von weit größerer Geistesgegenwart, als man sie, ernüchtert, wie wir alle sind, von weit Jüngeren erwarten würde. Seine Eingriffe in diese aktuellen Diskussionen werden noch den ganzen Nachmittag bestimmen. Deshalb will ich auf die neueren Beiträge dieses begnadeten politischen Schriftstellers nicht weiter eingehen. Fragen will ich vielmehr nach der Tiefenstruktur, nach den impliziten Axiomen seines Lebens und Handelns. Ich will versuchen, sie in drei Regeln zu beschreiben.

Die erste Regel: Du lebst aus dem Glauben und glaubst für das Leben. Es gibt Protestanten, denen der Grundsinn dieses Wortes wichtig ist; sie sind nicht nahe beim Wasser gebaut, sondern nahe beim Protest angesiedelt. Buße, Metanoia, Umkehr zum Leben, Mentalitätswandel ist ihr Thema. Ende oder Wende war eine früh gefundene Überschrift für diese Umkehr zum Leben. Von einem notwendigen Mentalitätswandel haben wir in diesen Tagen beim Zukunftskongress der EKD viel gesprochen und uns neu darauf verpflichtet, eine Kirche der Freiheit zu sein. Ich habe in diesen Tagen in Wittenberg wieder erklärt, warum es eine zweite Auflage des viel diskutierten Impulspapiers der EKD Kirche der Freiheit nicht geben werde. Aber wenn sie zu schreiben wäre, würde ich sie gern zusammen mit Erhard Eppler schreiben. Denn er bezieht stets Glauben und Leben aufeinander. Nicht, dass Glauben in Handeln, Ethik in Politik aufgelöst werden könnte, aber das eine ist nicht ohne das andere zu haben – und erst recht nicht verantwortlich zu leben.

Die zweite Regel: Wer Werte bewahren will, darf sich nicht an Strukturen klammern. Die Unterscheidung zwischen wertkonservativem und strukturkonservativem Denken gehört zu Erhard Epplers bleibenden Beiträgen zur politischen Sprache. Diese Unterscheidung schärfte er ein – in der Kirche, in der Politik, in der SPD-Grundwertekommission und in der Programmkommission der SPD. Auf dieser Grundlage bringt er sich ein – als Mann des Wortes und der Feder, der zugleich ein Mensch der Tat war und ist. Von ihm kann man lernen, dass politisches Handeln, wenn es nachhaltig sein soll, in wissenschaftlichen Erkenntnissen und theoretischen Einsichten ebenso wie in sittlichen Maximen und ethischen Leitlinien fundiert sein muss. Wenn die Kirchen heute übereinstimmend formulieren, dass unsere Demokratie vorrangig Tugenden brauche, um in der Gegenwart bestehen zu können, so vertreten sie damit eine Position, die Erhard Eppler schon lange einnimmt.

Die dritte Regel: Wer unterscheiden kann, dient dem Gemeinsamen. Auf der Möglichkeit des Unterscheidens beruht alles Denken; und alles Verstehen verdankt sich der Entfaltung und Profilierung von Differenzen. Daraus hat Erhard Eppler ein politisches Projekt gemacht. Ende oder Wende, struktur- oder wertkonservativ – diese Unterscheidungen sind uns schon begegnet, Wachstum oder nachhaltige Entwicklung ist ein anderes Beispiel. Die kluge Unterscheidung zwischen der Größe von Schritten und der Richtung, in die sie gehen, ist ein anderes.

Und es muss gesagt werden: Auch die Unterscheidung zwischen Gesinnung und Verantwortung ist, wenn auch nicht neu, so doch notwendig. Das Beispiel dafür war spektakulär. Als die SPD im April 1999 auf einem Sonderparteitag den Einsatz deutscher Soldaten im Kosovokrieg strittig diskutierte, sprang Erhard Eppler, ganz gegen die Erwartung mancher Teilnehmer, dem damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder bei. Dabei unterschied er zwischen traurig und tragisch, zwischen schuldig und weniger schuldig. Gerhard Schröder hat das unlängst in Erinnerung gerufen. Epplers Auffassung nach war das Handeln der damaligen Regierung tragisch, aber es konnte dazu beigetragen, dass wir ein bisschen weniger schuldig werden, als wenn wir nichts täten. Im Geist von Dietrich Bonhoeffers Schuldübernahme vertrat Erhard Eppler eine Ethik des Abwägens und eine Moral des Maßes, die der vernünftigen Argumentation und dem Gespräch zwischen unterschiedlichen Positionen Raum gibt. Wie auch immer man die Entscheidung von 1999 einschätzt – zur evangelischen Verantwortung gehört die Bereitschaft zum Kompromiss. Sie ist unbequemer, aber überzeugender als eine Prinzipienethik, die Prinzipien so hoch aufhängt, dass sich dem Hochspringer gar nicht die Frage stellt, wie er die Latte überspringen könne, da doch unter ihr ausreichend Platz ist.

V.

Ich habe den Witz bereits verschwiegen, der Erhard Eppler als Antipoden von Helmut Schmidt darstellt. Aber der Historiker Edgar Wolfrum sieht das genauso. Dass Erhard Eppler in den frühen achtziger Jahren die Kritik am Doppelbeschluss der NATO anführte, ist ebenso wenig zu leugnen wie die Tatsache, dass dieser Doppelbeschluss im Rückblick für die Vorbereitung der europäischen Wende sein Gutes hatte. Ich selbst habe das aus Anlass des 85. Geburtstags von Helmut Schmidt in einem Brief an ihn – leicht fiel mir das nicht – folgendermaßen formuliert: Als Sie Ende der Siebzigerjahre den NATO-Doppelbeschluss anregten, gehörte ich selber zu denen, die meinten, der Sicherheit der Bundesrepublik und Europas und dem Weltfrieden sei besser durch einen Verzicht auf die Nachrüstung mit Mittelstreckenraketen gedient. Im Rückblick kann man nicht verkennen, welchen Beitrag der NATO-Doppelbeschluss zur Entwicklung der Achtzigerjahre geleistet hat, an deren Ende die Teilung Deutschlands und Europas überwunden werden konnte.

Im Rückblick urteilen wir über die Geschichte anders, als wir sie im Vorblick antizipieren. Darüber, wie die Entwicklung ohne den NATO-Doppelbeschluss verlaufen wäre, wissen wir nichts. Dass er daran mitgewirkt hat, in Europa einen Frieden in Freiheit zu sichern, wussten nicht einmal die, die sich so vehement für ihn einsetzten. Die einen wie die anderen haben zu Selbstgerechtigkeit keinen Grund. Dass es anders kam, als wir damals dachten, gehört zu den größten Glücksmomenten unseres Lebens.

Daran sieht man: Es steht Christen gut an, positive Enttäuschungen nicht zu unterdrücken. Wir neigen eher dazu, hervorzuheben, wann es schlechter kam, als wir dachten. Wir sollten aber nicht verschweigen, wann es besser kam, als wir erwarteten. Der große Theologe Aurelius Augustinus schrieb ein ganzes Buch über seine Irrtümer: Retractationes (Zurückziehungen) heißt es. Diese Gattung ist sehr in Vergessenheit geraten. Sie steht freilich auch nur ganz großen Geistern zur Verfügung. Erhard Eppler würde ich ein solches Buch zutrauen. Es passt übrigens gut zum Selbstverständnis evangelischer Christen; trotzdem haben nur wenige von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht. Wir könnten ja von der Einsicht, dass niemand von uns unfehlbar ist, durchaus einen etwas beherzteren Gebrauch machen. Man braucht sich ja seiner Irrtümer nicht zu schämen. Schämen muss man sich allenfalls, wenn man sie auch im Nachhinein nicht zugibt.

VI.

Nah ist
und schwer zu fassen der Gott.
Wo aber Gefahr ist, wächst
das Rettende auch.

1981 war es gefährlich, dieses Wort zu zitieren. Denn damals konnte es noch als Bildungszitat durchgehen. Diese Gefahr ist deutlich gesunken. Damals ging Erhard Eppler bewusst das Risiko ein, Hölderlin zu zitieren. So vermittelte er dieses nüchterne Glaubensbekenntnis auch denen, die Hölderlin nicht mehr lesen. Hölderlins Wort verkennt die gefährliche Wirklichkeit der Welt nicht. Es leugnet auch nicht die Gottesferne des modernen Menschen. Aber es öffnet sich für Gottes Nähe. Weil Gott uns nahe ist, kann es Rettung für uns geben. Weil er nahe ist, wächst das Rettende auch.

Freilich, wo das Rettende wächst, ist die Rettung noch nicht gewonnen. Man muss das Rettende auch aufsuchen und finden, man muss es hegen, pflegen und sorgsam pflücken wie eine edle Pflanze. In noch so hektischen Zeiten konnte es sein, dass man Erhard Eppler anzurufen versuchte und die Antwort bekam, er sei im Garten – dort also, wo man hegen, pflegen und pflücken kann.

Gott ist uns nahe. Wo der Glaube Raum hat, wo Werte existieren, wo Differenzen wahrgenommen werden, da ist Rettung möglich. Es gibt nichts Schöneres, als einem Achtzigjährigen für die Hoffnung zu danken, die in ihm ist und die er in anderen weckt. Deshalb feiern wir heute Erhard Eppler und wünschen ihm Gottes Segen.