Vor Gott und den Menschen – Der ethische Auftrag der Kirche in unserer Zeit - Vortrag im Studium Generale der Universität Lübeck

Wolfgang Huber

I.

Die christlichen Kirchen, aber auch andere Religionsgemeinschaften stehen heute weltweit, aber ebenso auch in Europa vor neuen Herausforderungen. Diese Herausforderungen ergeben sich zum einen durch den gesellschaftlichen Umbruch, den wir erleben. Demographie und Migration, Globalisierung und neue Armut, Klimawandel und Nachhaltigkeit sind Stichworte für die großen gesellschaftlichen Aufgaben unserer Zeit. Zu diesen Herausforderungen gehört aber zugleich eine Wiederkehr der Religion; sie wird sowohl persönlich als auch öffentlich auf neue Weise zu einem zentralen Thema.

Die meisten Prognosen der letzten Jahrzehnte zur Rolle der Religion haben sich als falsch erwiesen. Zwar hat sich in Europa die Rolle die Kirchen während der vergangenen zweihundert Jahre tiefgreifend verwandelt. In vielen Bereichen haben sie im Prozess der Säkularisierung ihre unmittelbare, mit staatlicher Unterstützung durchsetzbare Bestimmungsmacht verloren. Die Zeit der Staatskirchen ist vorbei; die staatlichen Gesetze werden nicht mehr von den Kanzeln verkündet. Doch die Wirkungsgeschichte des Evangeliums dauert an: Die Botschaft von Gottes Gnade wird verkündet, Menschen gründen ihr Leben im Glauben und lassen sich zu Taten der Liebe anstiften, der Gedanke der christlichen Freiheit wirkt auch dort fort, wo ein Hinweis auf seine Wurzeln fehlt. Viele Gewächse der Moderne gedeihen auf einem jüdisch-christlichen Nährboden, ohne dass das allgemein bewusst ist. Der Gedanke der Menschenrechte, die Ausgestaltung des demokratischen Staates, die Orientierung gesellschaftlichen Handelns an Gerechtigkeit und Solidarität oder die Idee eines Europas der Versöhnung und des Friedens verdanken sich entscheidenden Impulse des christlichen Glaubens und mit ihm der jüdischen Tradition.

Menschen öffnen sich wieder für Glaubensfragen. Religion wird wieder wichtig, wenn auch oft in diffuser Form. Auch in unseren Breiten nehmen die Menschen sich wieder wahr als die selbsttranszendenten Wesen, die sie sind. Religiöse Interessen werden lebendig. Kirche wird wieder gefragt. Nahezu drei Viertel der Deutschen rechnen gegenwärtig damit, dass Religion ein wichtiges Thema bleibt oder an Bedeutung gewinnt. Nur ein Viertel hat die Vorstellung, dass die Bedeutung der Religion schwindet.

Offenbar entsteht ein neues Gespür dafür, dass ein komplett diesseitiges, rein wirtschaftstaumeliges und radikal konsumzentriertes Leben zu banal, zu äußerlich und zu oberflächlich ist, als dass es zureichen könnte. Je unerbittlicher die europäische Welt auf die globalisierte Wirtschaft ausgerichtet wird, je strikter Markt und Finanzkraft, Lohnnebenkosten und Konkurrenzkampf das Leben aller bestimmen sollen, desto stärker wird nach Gegenkräften gefragt. Die meisten spüren, dass Konsum allein nicht Halt gibt, dass Wirtschaft allein nicht Sinn schenkt, dass Funktionieren allein nicht Bedeutung verleiht. Mit der Rückkehr der Religion rebelliert die Seele der Menschen gegen ihre kommerzielle Reduktion. Die Vorstellung, dass sich der Glaube in die Privatsphäre abschieben lasse und dass gesellschaftliches Zusammenleben ohne die öffentliche Erkennbarkeit von Religion und Glaube möglich sei, gehört der Vergangenheit an.

Natürlich bedeutet das keineswegs, dass alle Menschen sich zum Glauben an Gott bekennen. Aber in vergleichsweise kurzer Zeit ist deutlich geworden, dass dies eine der Fragen ist, in denen man zu einer persönlichen Entscheidung kommen muss. Während 1992 noch ein Drittel der (West-)Deutschen auf die Frage, ob sie an Gott glauben, antworteten, sie wüssten das nicht, sind es heute noch drei Prozent. Gestiegen ist in der Zwischenzeit nicht nur die Zahl derjenigen, die sich zum Glauben an Gott bekennen (von 50 auf 64 Prozent), sondern auch die Zahl derjenigen, die diesen Glauben für sich ablehnen (von 20 auf 33 Prozent). Aber das Entscheidende ist: Die Indifferenz ist in einem erstaunlichen Maß zurückgegangen.

Der Wunsch nach Orientierung wird immer stärker auch an die Religionsgemeinschaften herangetragen. Gewiss sind die christlichen Kirchen keine Bundesagentur für Werte; ihr Verantwortungshorizont richtet sich stets über das menschliche Maß hinaus auf die Verantwortung vor Gott als einer letzten, umfassenden Wirklichkeit. Doch ohne Zweifel sind die Kirchen von ihrem Selbstverständnis her dazu aufgefordert, sich den Fragen des menschlichen Miteinanders zu stellen.

Der christliche Glaube ist eine inkarnatorische Religion. Er orientiert sich an der Menschwerdung Gottes. Das bestimmt auch seine Ethik. So wie Christen in der Person Jesu das Zusammenkommen von Gott und Mensch glauben, so wird eine Ethik, die sich in diesem Glauben gründet, stets diese beiden Dimensionen des Lebens miteinander verbinden. Alle Aussagen zur menschlichen Lebensführung sind aus dieser Perspektive vor Gott und den Menschen zu verantworten. Man hat das oft verkannt, weil sich die ethischen Folgen des christlichen Glaubens verselbständigten oder weil die Begründung christlicher Grundhaltungen in den Gewissheiten des Glaubens als selbstverständlich angesehen wurden. Das sind sie jedoch keineswegs; deshalb muss die Zusammengehörigkeit der beiden Dimensionen christlicher Ethik heute wieder ausdrücklich bewusst gemacht werden.

Die Verantwortung für Gerechtigkeit und Frieden, für die Würde des Menschen und die Bewahrung der Natur ergibt sich für ihn aus dem gottesdienstlichen Handeln und geistlichen Leben der Kirche selbst: aus dem Lob Gottes, der es gut mit seiner Welt meint und ihren Frieden will; aus der Perspektive Jesu, der auf die Seite der Leidenden tritt; aus der Hoffnung auf das Reich Gottes, in dem, wie der Psalmist sagt, Friede und Gerechtigkeit sich küssen.

II.

Ich will der Frage nach dem ethischen Auftrag der Kirche in unserer Zeit am Beispiel der Verantwortung der Wissenschaft nachgehen. Dies entspricht sowohl dem Forum eines Studium Generale als auch den Herausforderungen in den Wissenschaften selbst.

Wie aktuell dieses Thema ist, zeigt die neu aufgeflammte Diskussion zur Forschung mit menschlichen embryonalen Stammzellen. Die in Deutschland geltende Regelung, dass die Forschung mit embryonalen Stammzellen verboten ist und Ausnahmen nur bei hochrangigen Forschungszielen und unter der Voraussetzung möglich sind, dass die dafür aus dem Ausland importierten Stammzellen vor dem Stichtag des 1. Januar 2002 entstanden sind, wird neuerdings wieder lebhaft in Frage gestellt. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft hat im November des vergangenen Jahres ausdrücklich die Aufhebung dieser Stichtagsregelung gefordert. Wir sind wieder in eine Phase eingetreten, in der darüber gestritten wird, ob das Verbot verbrauchender Embryonenforschung in Deutschland Bestand haben soll. Manche Forscherinnen und Forscher gehen freilich weiter und stellen nicht nur das Stammzellgesetz vom 28. Juni 2002, sondern auch das Embryonenschutzgesetz vom 13. Dezember 1990 in Frage. Sie sehen eine Behinderung der Forschung darin, dass der menschliche Embryo schon mit der Verbindung von weiblichem und männlichem Genom unter den Schutz des Rechts gestellt und nicht erst – wie in Großbritannien – mit dem Zeitpunkt der Nidation, der Einnistung in die Gebärmutter als ein Mensch im Werden anerkannt wird.

Um ein zweites Beispiel für die Aktualität wissenschaftsethischer Fragestellungen zu nennen, möchte ich an die Stellungnahme des Nationalen Ethikrates aus dem vergangenen Jahr erinnern, die unter dem Titel „Selbstbestimmung und Fürsorge am Lebensende“ veröffentlicht wurde. Der Nationale Ethikrat hat sich den umstrittenen Fragen im Umkreis des menschlichen Sterbens zugewandt, die dadurch entstehen, dass Menschen dank der Fortschritte der Medizin nicht nur länger leben, sondern unter Umständen auch länger leiden. Der Nationale Ethikrat hat dabei einen wichtigen Beitrag zur ethischen Klärung geleistet, indem er die gebräuchliche Begrifflichkeit, die zwischen „aktiver“, „passiver“ und „indirekter“ Sterbehilfe unterscheidet, grundsätzlich in Frage gestellt hat. Denn weder lassen sich die so bezeichneten Handlungsweisen immer klar voneinander unterscheiden noch wird ihre ethische Problematik durch die gewählten Begriffe deutlich gemacht. Der Nationale Ethikrat unterscheidet stattdessen zwischen Sterbegleitung, Therapie am Lebensende, Sterbenlassen, Beihilfe zur Selbsttötung und Tötung auf Verlangen. Doch in den damit genauer bezeichneten, besonders problematischen Fällen der Beihilfe zur Selbsttötung und der Tötung auf Verlangen kommt der Nationale Ethikrat nicht mehr zu einer gemeinsamen ethischen Position.

Zwar spricht sich der überwiegende Teil dieses Gremiums gegen die Zulassung des ärztlich assistierten Suizids und gegen die Etablierung der organisierten Beihilfe zum Suizid aus; aber ein anderer Teil des Gremiums bejaht solche Entwicklungen und stellt damit den in Deutschland bestehenden Konsens über das ärztliche Ethos in Frage. Einmütig erklärt der Nationale Ethikrat, das strafrechtliche Verbot der Tötung auf Verlangen solle nicht aufgehoben werden; doch die Begründung für diese Aussage steht auf einer erschreckend schmalen argumentativen Basis. So stimmt ein Teil des Gremiums der Fortführung dieses Verbots nur wegen der besonderen Situation zu, in der Deutschland sich angesichts der Euthanasieverbrechen des nationalsozialistischen Regimes befindet. Dabei wird allein von „politischer“, nicht aber von „moralischer“ Rücksicht auf diese Situation gesprochen. Politische Rücksicht aber richtet sich nach politischer Opportunität. An einer für die Zukunft des ärztlichen Ethos entscheidenden Stelle wird auf eine ausdrücklich ethische Argumentation verzichtet.

Ein letztes Beispiel füge ich an: Im Rahmen der Jahresversammlung 2006 der Max-Planck-Gesellschaft hat der Tübinger Molekularbiologe Detlef Weigel einen Vortrag über die spannende Frage gehalten, was eine Pflanze zum Blühen bringt. Ganz am Schluss dieses Vortrags wies er darauf hin, dass nach seiner Auffassung der dramatische Anstieg des Energieverbrauchs auf der Erde nur dann bewältigt werden kann, wenn in gewaltig ansteigendem Maß Pflanzen zur Verfügung stehen, die gentechnisch so verändert sind, dass die in ihnen gespeicherte Sonnenenergie für die Deckung des globalen Energiebedarfs eingesetzt werden kann. Über die aktuelle Diskussion, die gentechnisch veränderte Pflanzen vor allem unter den Gesichtspunkten des Einflusses auf das Ökosystem und der Auswirkungen auf die menschliche Ernährung betrachtet, führt eine solche Perspektive gewiss hinaus. Sie richtet sich darauf, ob angesichts der  absehbaren Erschöpfung fossiler Energieträger und der Tatsache, dass ein Ausbau der Atomenergie von vielen skeptisch gesehen wird, aber in dem zur Deckung des wachsenden Energieverbrauchs nötigen Maß auch gar nicht möglich wäre, die grüne Gentechnologie einen Lösungsweg aufzeigen kann.

Gewiss muss man dieser Überlegung zunächst entgegenhalten, dass in einer solchen Überlegung der sparsamere Umgang mit Energie – also Energiesparen als Energiequelle – nicht zureichend berücksichtigt wird. Nach wie vor sollten die darauf zielenden Überlegungen, die Ernst Ulrich von Weizsäcker unter dem Stichwort des „Faktors Vier“ vorgetragen hat, viel intensiver aufgegriffen und beherzigt werden. Die neusten Einsichten über das Ausmaß des drohenden Klimawandels müssten das Nachdenken unbedingt in dieser Richtung lenken. Aber darüber hinaus mag es durchaus sein, dass auch Fragen der grünen Gentechnologie unter Gesichtspunkten einer nachhaltigen Energieerzeugung noch einmal neu bedacht werden müssen.

An den drei Beispielen der Stammzellforschung, des Umgangs mit dem menschlichen Sterben und der grünen Gentechnologie wollte ich verdeutlichen, wie aktuell und wie dringlich das Nachdenken über eine Ethik der Forschung wie über eine Ethik der Anwendung von Forschungsergebnissen ist. Mit dem Wachstum wissenschaftlicher Möglichkeiten wächst auch die Notwendigkeit, sie ethisch zu beurteilen und unter mehreren Möglichkeiten wissenschaftlichen Handelns die jeweils vorzugswürdigeren auszuwählen. Ohne Zweifel bildet die Frage nach der Verantwortung der Wissenschaft heute eine ethische Schlüsselfrage.

III.

Wenn heute von der Verantwortung der Wissenschaft die Rede ist, bildet häufig der philosophische Vorstoß von Hans Jonas aus dem Jahr 1978 den wichtigsten Bezugspunkt. Wenn ich auf diesen großen Philosophen zu sprechen komme, kann ich gar nicht daran vorbeigehen, dass Björn Engholm es war, der mich gemeinsam mit anderen vor vielen Jahren in Kiel mit Hans Jonas zu einem denkwürdigen Gespräch zusammenbrachte.

Jonas hat 1978 die Verantwortung, die er als leitendes Prinzip nicht nur der Wissenschaft selbst, sondern alles Handelns im wissenschaftlich-technischen Zeitalter betrachtete, konsequent als Folgenverantwortung konzipiert. Handle so, dass die Folgen deines Handelns vereinbar sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden, so hieß sein Kategorischer Imperativ, sein moralisches Credo. Die weitreichenden Wirkungen wissenschaftlicher Entdeckungen und der von ihnen bestimmten technischen Innovationen geben diesem Credo eine hohe Plausibilität. Für eine Wissenschaft, die ihrer Verantwortung gerecht werden will, stellt sich die Aufgabe, künftige Folgen abzuschätzen und das Ergebnis in gegenwärtige Entscheidungen einzubeziehen, mit unausweichlicher Dringlichkeit. Nachhaltigkeit wird zu einem Prüfmaßstab nicht nur für politische Entscheidungen, sondern auch für wissenschaftlich-technische Innovationen.

Aber vor einer einseitigen Betonung des Jonasschen Kriteriums muss man zugleich warnen. Denn da die künftigen Folgen gegenwärtiger Handlungen immer nur mit einem erheblichen Maß an Unsicherheit vorausgesagt werden können, verwandelt dieses Kriterium, wenn es absolut gesetzt wird,  die wissenschaftsethische Diskussion weithin in einen Streit über die Folgenabschätzung, in dem man sich wechselseitig Alarmismus beziehungsweise Verharmlosung vorzuwerfen pflegt. Es enthält durchaus auch problematische Züge, wenn man Hypothesen über die Zukunft zum maßgeblichen Kriterium für die Rechtfertigung oder Verwerfung von Handlungen macht. Es erscheint deshalb als unumgänglich, zugleich die Frage zu stellen, ob Handlungen in sich selbst rechtfertigungsfähig sind. Ob die Zwecke und Mittel wissenschaftlichen Handelns intrinsisch gerechtfertigt werden können, ist ein nicht zu vernachlässigender Maßstab dafür, ob dieses Handeln in seinen Folgen gerechtfertigt werden kann.

Man wird dabei übrigens feststellen, dass Handlungen, die im Blick auf ihre Folgen problematisch sind, häufig auch schon in sich selbst Anlass zu ethischen Zweifeln bieten. Maßnahmen beispielsweise, die durch hohen Ressourcenverbrauch gekennzeichnet sind, verdienen Kritik nicht nur, weil sie auf künftige Generationen negative Auswirkungen haben, sondern auch, weil sie die Ungleichheit der Ressourcenbeanspruchung unter den gleichzeitig Lebenden verstärken.

Insofern erscheint es mir als angezeigt, die Frage nach der Verantwortung der Wissenschaft noch einmal aufzugreifen. Dabei will ich in einem nächsten Schritt die Struktur beschreiben, in der sich das wissenschaftsethische Problem heute stellt. Im Anschluss daran will ich fragen, ob die Theologie zur Klärung wissenschaftsethischer Fragen etwas Spezifisches beitragen kann. In aller Kürze will ich dann die Ebenen heutiger wissenschaftsethischer Urteilsbildung erörtern und dazu einige praktische Vorschläge machen. Am Schluss kehre ich noch einmal zu meinen drei Beispielen zurück.

IV.

Zunächst also einige Überlegungen zu der Struktur, in der sich die wissenschaftsethische Frage heute stellt. Gewiss ist die Frage nach der Verantwortung der Wissenschaft nicht neu. Nach ihr ist vielmehr gefragt worden, seit Aristoteles die Wissbegier als einen der Grundantriebe des Menschen identifiziert hat. Aus diesem Anstoß hat sich eine Theorie der Wissenschaft entwickelt, die an der Wahrheitserkenntnis um ihrer selbst willen ausgerichtet ist. In diese Tradition hat sich noch ganz bewusst der große Heidelberger Max Weber gestellt, als er im Jahr 1917 Wissenschaft als Beruf beschrieb. Schlichte intellektuelle Rechtschaffenheit war die einzige Tugend, die er im Hörsaal gelten lassen wollte. Eine möglichst weitgehende Zurückhaltung in allen Werturteilen und der Verzicht auf alle politische Parteinahme waren die für ihn unausweichlichen Konsequenzen. Die Professionalität des Wissenschaftlers verband er mit einer spezifischen, jeder Profession mitgegebenen Selbstbegrenzung. Wer in der Wissenschaft seine Bestimmung sieht, so hieß seine Überzeugung, ist auch verpflichtet, sich innerhalb der Wissenschaft zu bewegen.

Das Ethos forschender Objektivität um der Wahrheit willen ist jedoch an die Bedingung menschlicher Freiheit gebunden. Das Ideal der Objektivität lässt sich nur aufrechterhalten, wenn der Prozess des Forschens von fremder Bestimmungsmacht freigehalten werden kann. Doch die Zusammengehörigkeit von Forschung und Freiheit wurde in der Neuzeit darüber hinaus auch darin gesehen, dass die Fortschritte der Forschung der Entfaltung menschlicher Freiheit zugute kommen. Die Freiheit des Menschen wurde als Unabhängigkeit von den Zwängen der Natur definiert; der entscheidende Maßstab für den Fortschritt der Erkenntnis wurde darin gesehen, ob er die Menschen von den Mühseligkeiten der menschlichen Existenz befreie, wie Bertolt Brecht das in seinem Leben des Galilei nannte.

Doch in dem Maß, in dem die naturwissenschaftlich fundierte Technik alle Lebensbereiche veränderte, verstärkte sich auch deren Eigenbedeutung. Das naturwissenschaftliche Zeitalter, von dem Rudolf Virchow als erster sprach, erforderte auch neue Formen der Forschungsorganisation. Wolfgang Frühwald hat Forschung auf diesem Hintergrund als die systematische, methodengeleitete und überprüfbare wissenschaftliche Suche nach Erkenntnis bezeichnet, mit deren Hilfe der Mensch die Gesetze der Natur (auch seiner eigenen) zu entdecken und zu beschreiben sowie die Entstehung, Entwicklung und Wirkweise der von ihm selbst geschaffenen Kulturen zu verstehen und zu erklären sucht. Solche Forschung braucht eigenständige institutionelle Voraussetzungen.

Von der Verknüpfung zwischen Forschung und Freiheit, die in der Neuzeit so emphatisch behauptet wurde, ist auf diesem Weg vor allem das Postulat der Forschungsfreiheit übrig geblieben. Die innere und äußere Freiheit des Forschers in der Definition seines Untersuchungsgegenstandes und in der Wahl des Forschungsweges wie auch im Recht zur Veröffentlichung seiner Untersuchungsergebnisse ist im Grundsatz als forschungsethisches Prinzip weithin anerkannt. In der Bundesrepublik Deutschland ist es aus guten Gründen seit 1949 mit Verfassungsrang ausgestattet. Nach dem Missbrauch von Forschung in der Zeit des nationalsozialistischen Regimes war dies eine Weichenstellung von großer Tragweite.

Doch mit den beiden Wertentscheidungen der Objektivität und der Forschungsfreiheit ist die Suche nach Kriterien der Wissenschaftsethik keineswegs abgeschlossen. Denn fraglose Geltung haben diese beiden forschungsethischen Prinzipien nur für prozesshaft verfahrende Wissenschaften, also für diejenigen Forschungen, bei denen sich das Ergebnis der Forschung im Forschungsvollzug herausstellt, aber nicht im vorhinein geplant wird. Heute dagegen erweitert sich gerade derjenige Bereich der Forschung, den man im Unterschied zu dieser prozesshaft verfahrenden Forschung als resultathaft orientierte Forschung bezeichnen kann.

In ihr soll für ein vorweg definiertes Resultat durch Entdeckung und Experiment der günstigste Weg gefunden werden. Wissenschaft ist nicht mehr generell dem Ziel der Wahrheitserkenntnis zugeordnet, sondern an bestimmten Zwecken orientiert. Die ökonomische Verwertbarkeit der von ihr entwickelten Mittel zu solchen Zwecken ist dabei von vornherein im Blick. Forschungen dieser Art sind in aller Regel in einen dichten internationalen Wettbewerb eingebunden. Gerade an ihren vordersten Fronten hat Forschung in vollem Umfang am Prozess der Globalisierung Anteil. Die Resultat- und Konkurrenzorientierung der Forschung droht in solchen Fällen die Maßstäbe zweckfreier Objektivität sowie der inneren und äußeren Forschungsfreiheit in ihrer Bedeutung zu überlagern.

In wichtigen Bereichen hat diese resultathaft orientierte Forschung einen staunenswerten Siegeszug angetreten. In das subjektive Lebensgefühl der einzelnen wie in die Struktur der Gesellschaft insgesamt greifen dabei die Entwicklungen in den Lebenswissenschaften und speziell in der Medizin besonders tief ein. Die rasche Erhöhung der durchschnittlichen Lebenserwartung der einzelnen und der Alterswandel der Gesellschaft insgesamt zeigen das deutlich. Der wissenschaftliche Fortschritt hat während des letzten halben Jahrhunderts die Lebensverhältnisse in einem Umfang und in einem Tempo verändert, die kaum mit Sicherheit hätten vorausgesagt werden können. Es gibt keinen Grund zu der Annahme, dass dieser Wandel sich in der vor uns liegenden Zeit verlangsamen wird.

Unbewältigt ist einstweilen offenbar die Ambivalenz dieser Veränderungen. Daraus erklärt sich der neue Ruf nach einer Ethik der Forschung, insbesondere nach einer ethischen Bewertung der Entwicklungen in den Lebenswissenschaften. Die Fortschritte der resultathaft orientierten Forschung werden angesichts dieser Ambivalenz von Wissenschaftsskepsis begleitet. Sie richtet sich auf die Folgen, die mit solchen Resultaten verbunden sind oder sein können.

Die Wissenschaftsskepsis, von der die Forschungsfortschritte unserer Zeit begleitet sind, richtet sich dabei im Kern auf die Veränderungen im Verständnis des Menschen als einer freien, verantwortungsfähigen, auf wechselseitige Anerkennung angelegten Person. Die Debatte handelt im Kern von der Frage, wann die Grenze überschritten ist, jenseits deren der Mensch nicht mehr als Person, sondern als Sache, nicht mehr als jemand, sondern als etwas betrachtet wird. Es geht im Kern um die Frage, ob durch solche Forschungen und ihre Anwendung die Würde des Menschen beeinträchtigt wird, der zufolge er stets als Person zu achten und niemals als bloße Sache zu behandeln ist.

Die Ebenen, auf denen diese Debatte geführt wird, sind vielfältig: In der Gehirnforschung wird die Frage gestellt, ob die Vorstellung von menschlicher Freiheit überhaupt mit der Einsicht in die neurophysiologischen Korrelate zu den Vorgängen menschlichen Selbstbewusstseins vereinbar ist. In den Sozialwissenschaften wird gefragt, ob menschliches Verhalten nicht weit besser erklärt werden kann, wenn man es aus systemischen Prämissen begreiflich macht, als wenn man in ihm einen Ausdruck menschlicher Freiheit sieht. In den Lebenswissenschaften wird gefragt, ob die Perfektionierung der genetischen Ausstattung des Menschen nicht dann zur Pflicht wird, wenn diese Perfektionierung wissenschaftlich als möglich erscheint.

 Das Grundproblem, das sich an solchen Beispielen zeigt, lässt sich so bezeichnen: Indem innerhalb von resultathaft organisierter Forschung auch der Mensch selbst zum Objekt von Optimierungsbemühungen gemacht wird, ergibt sich einerseits eine ungeahnte Möglichkeit zur Verlängerung seiner Lebenszeit wie zur Verbesserung seiner Lebensqualität. Doch neben diese Fortschritte in den Möglichkeiten des Heilens und Helfens tritt eben zugleich die Vorstellung von einer Optimierung des Produkts Mensch. Als Objekt solcher Optimierungsbemühungen aber wird der Mensch verdinglicht – zunächst in seinem vorgeburtlichen Leben, am Ende aber auch auf seinem Lebensweg zwischen Geburt und Tod. Die Frage, wie Forschung im Augenblick ihrer größten Erfolge zugleich die Fähigkeit zur Selbstbegrenzung bewahren kann, stellt sich heute auf eine neue Weise.

V.

Wenn die christliche Theologie sich an der Diskussion über verantwortliche Wissenschaft beteiligt, so tut sie dies zunächst als eine Anwältin der Wahrheit. Eberhard Jüngel hat diese Funktion der Theologie für die Universität einmal auf die Formel gebracht, das, was die Theologie mit der Universität zutiefst […] verbinde, sei zuerst und vor allem die ihr wesentliche Bestimmung, für Wahrheit verantwortlich zu sein. Neben diese Fürsprache für die Wahrheit tritt das Eintreten für die Freiheit. Denn von der Theologie, jedenfalls in ihrer evangelischen Gestalt, gilt, dass sie eine Anwältin der Freiheit ist. Sowohl das Ideal der Objektivität durch methodisch kontrollierte Wahrheitssuche als auch das Ideal der Freiheit in Gestalt der Forschungsfreiheit stehen der Theologie nahe.

Zwar hat die christliche Theologie den Rang von Wissbegierde und Forschungsfreiheit in konkreten Konfliktsituationen nicht immer hoch genug geachtet. Trotzdem haben sie im christlichen Glauben, recht verstanden, einen festen Ort. Wenn in der evangelischen Theologie von der Weltlichkeit der Welt die Rede ist, so wird damit hervorgehoben: Der Glaube, dass Gott die Welt geschaffen hat samt allen Kreaturen, schließt  nicht aus, sondern ein, dass wir uns um das Verstehen dieser von Gott geschaffenen Welt bemühen. Die geschaffene Welt ist Gegenstand menschlichen Erkennens. Glaube und der Drang nach Erkenntnis stehen zueinander nicht im Widerspruch.

Freilich schließt die Suche nach der Wahrheit im christlichen Verständnis die Einsicht ein, dass die Wahrheit des Ganzen stets größer bleibt als die vom Menschen erkannte Wahrheit. Kein wissenschaftlicher Fortschritt kann diese Differenz zwischen der jeweils erkannten Wahrheit und der Wahrheit in ihrer Fülle aufheben. Das gibt der menschlichen Wahrheitssuche einen kritischen und zwar vor allem selbstkritischen Sinn. Eine solche epistemische Demut, welche die eigenen Erkenntnisse unter den Vorbehalt besserer Einsicht stellt, steht der Wissenschaft gut an. Für menschliche Erkenntnis bleibt gültig, was Plato in das Bild der Schatten an der Höhlenwand und der Apostel Paulus in das Bild vom dunklen Spiegel  gekleidet hat: Wir sehen jetzt durch einen Spiegel ein dunkles Bild; dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich stückweise; dann aber werde ich erkennen, wie ich erkannt bin (1. Korinther 13, 12).

Neben die Orientierung an Wahrheit und Freiheit tritt in einer christlichen Perspektive auch für das Handeln in der Wissenschaft die Orientierung am Nächsten und an der Frage, was ihm zu Gute kommt. Diese Frage spielt in den forschungsethischen Kontroversen unserer Zeit eine große Rolle. So wird die Chance, neue Heilungsmöglichkeiten für bisher unheilbare Krankheiten zu finden, als Begründung für neuartige Forschungsmethoden herangezogen. Dies geschieht grundsätzlich zu Recht. Christliche Ethik bejaht die Orientierung der Wissenschaft an den Aufgaben des Heilens und Helfens. Doch der Verweis auf solche Heilungsmöglichkeiten kann nicht zur Rechtfertigung von Handlungen dienen, durch welche der Mensch nicht mehr als Person geachtet, sondern verdinglicht wird. Deshalb wird sich christliche Ethik stets dafür einsetzen, dass zu wissenschaftlichen Vorgehensweisen, die wegen der Gefahr der Verdinglichung des Menschen problematisch sind, Alternativen gesucht werden, die dieser Gefahr nicht oder weniger ausgesetzt sind. Die Forschung mit adulten statt mit embryonalen Stammzellen oder der Zugang zu Stammzellen mit vergleichbaren Eigenschaften ohne den Weg über die Herstellung menschlicher Embryonen sind Beispiele hierfür.

Neben der Orientierung an der Wahrheit in ihrer all unser Begreifen übersteigenden Fülle, an der Freiheit des Menschen, die seine Freiheit zum Forschen einschließt, sowie an der Liebe zum Nächsten als dem verbindlichen Horizont alles menschlichen Handelns bringt die Theologie noch einen weiteren Gesichtspunkt in den wissenschaftsethischen Diskurs ein. Ich meine die Einsicht in die Verführbarkeit des Menschen und in eine Zerstörung seiner Lebensbezüge, die ihre tiefste Wurzel in der Störung seiner Gottesbeziehung, also in der Sünde, hat. Mit dieser theologischen Perspektive ist die Einsicht verbunden, dass auch die guten Möglichkeiten des Menschen in ihr Gegenteil verkehrt werden können, die Möglichkeiten wissenschaftlicher Erkenntnis eingeschlossen. Diese guten Möglichkeiten des Menschen können missbraucht werden zur Verkehrung der Wahrheit, zur Stillung persönlichen Ehrgeizes oder zur Instrumentalisierung anderer Menschen. Der gelegentlich sensationslüsterne Umgang mit den Möglichkeiten der Reproduktionsmedizin bildet dafür ebenso ein Beispiel wie die bedrückenden Vorgänge im Zusammenhang mit der angeblichen Klonierung menschlicher embryonaler Stammzellen in Südkorea. Wenn die Abhängigkeit von Mitarbeiterinnen im Labor ausgenutzt oder Frauen Eizellen gegen Geld abgekauft werden, ist die Grenze ethisch verantwortbarer Forschung offenkundig weit überschritten.

Die Verführbarkeit des Menschen gehört zu den elementaren Bedingungen der conditio humana. Deshalb braucht die Wissenschaft einen klaren rechtlichen Rahmen, eine institutionalisierte Selbstkontrolle sowie die Bereitschaft zur beständigen ethischen Selbstprüfung.

Die Verführbarkeit von Wissenschaftlern ist auch historisch deutlich belegt. Ein Blick auf die deutsche Geschichte zeigt das. So fand eine ideologische Rassenlehre in der Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft auch in die Wissenschaften Eingang; die Diskriminierung von Juden löste – beispielsweise in der Theologie – ein beklagenswertes Echo, ja eine höchst wirksame Unterstützung aus; Menschenversuche wurden unternommen, die sich an keinerlei ethische Grenzen hielten; Vorstellungen von einem lebensunwerten Leben, das auf Lebensschutz keinen Anspruch erheben könne, wurden auch in der Wissenschaft heimisch. Nicht nur, weil durch politisches Handeln die Menschenwürde mit Füßen getreten wurde, sondern auch weil in der Wissenschaft die Würde der Menschen auf solche Weise missachtet wurde, gehört die Erinnerung an diese Vorgänge unausweichlich zu jedem Nachdenken über die Verantwortung der Wissenschaft hinzu. Ich jedenfalls kann mir nicht vorstellen, dass wir diese Erinnerung wissenschaftsethisch für irrelevant erklären. Aber sie gegenwärtig zu halten, ist zugleich mehr als ein Ausdruck politischer Rücksichtnahme; es ist ein Gebot moralischer Aufrichtigkeit.

An diesen Beispielen zeigt sich, dass die Wissenschaft nicht generell gegen ethische Anfechtungen gefeit ist, sondern vor ihnen durch institutionelle Vorkehrungen, durch die Pflicht zu Transparenz und Publizität und damit durch die Gewährleistung öffentlicher Kritik, schließlich aber vor allem durch die persönliche Verantwortungsbereitschaft und die Gewissensbindung jeder Forscherin und jedes Forschers bewahrt werden muss.

Die Pflicht zur Wahrheit, das Ja zur Freiheit, die Liebe zum Nächsten und die Umkehr aus den Irrwegen der Verführung bilden die vier Hinsichten, in denen der christliche Glaube und seine theologische Auslegung wichtige Orientierungen für verantwortliche Wissenschaft zu vermitteln vermögen. Die Theologie hat auch deshalb einen unaufgebbaren Ort an der Universität, weil sie für diese Fragen einen ebenso elementaren wie klaren Orientierungsrahmen anbietet. Er bezieht sich auf die theoretische Dimension der Wissenschaft in ihrer Verpflichtung zur unablässigen Wahrheitssuche und dem damit verbundenen kategorischen Verbot der Lüge. Er orientiert sich an der Forschungsfreiheit als der unabdingbaren Voraussetzung für solche Wahrheitssuche. Er bezieht sich zugleich auf die praktische Dimension der Wissenschaft in ihrer Pflicht zum Dienst am Nächsten und somit in der Ausrichtung an der unantastbaren Menschenwürde und dem Verbot jeglicher Instrumentalisierung des Menschen zu fremden Zwecken. Und er bezieht sich schließlich auf die selbstreflexive Funktion der Wissenschaft in ihrer Pflicht zur kritischen Prüfung ihrer ethischen Verantwortbarkeit, und dies sowohl im Blick auf die Ziele, denen sie dient, als auch im Blick auf die Mittel, deren sie sich bedient.

VI.

Eine knappe Zwischenüberlegung richtet sich auf die Ebenen der heute notwendigen wissenschaftsethischen Klärung.

Dabei sind wir gut beraten, als erstes die Wissenschaft selbst, und zwar in Gestalt der jeweils betroffenen Fachwissenschaft, als Subjekt ethischer Selbstverständigung in den Blick zu nehmen. Es führt nach meiner Überzeugung in die Irre, wenn man den gegenwärtig von ethischen Herausforderungen besonders betroffenen Wissenschaften mit einer generellen Hermeneutik des Verdachts begegnet und ihnen die Bereitschaft zu ethischer Selbstbegrenzung von vornherein abspricht. Vielmehr muss man im Blick auf die Verantwortung der Wissenschaft zu allererst darauf bauen, dass die jeweils betroffenen Fachwissenschaften die Kraft haben, ethische Grenzen von sich aus anzuerkennen und einzuhalten.

Doch in welchem Umfang ist das heute der Fall? Wir haben gesehen, dass die Einhaltung solcher selbst gesetzter Grenzen unter den Bedingungen resultathaft organisierter Forschung besonders schwer ist. Die Einbindung der Wissenschaft in einen globalisierten Wettbewerb richtet für die individuelle ethische Rechenschaft große Hürden auf. Deshalb brauchen die einzelnen Wissenschaften und die einzelnen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zugleich auch verabredete und institutionalisierte Grenzziehungen.

Wie alles menschliche Handeln so muss es sich auch die Forschung gefallen lassen, dass ihr von außen Grenzen gesetzt werden. Auch sie sollten, so weit das möglich ist, in der Wissenschaft selbst diskutiert und von ihr selbst festgelegt werden. Deshalb gebührt den Formen wissenschaftlicher Selbstkontrolle und ethischer Diskussion in den Wissenschaften – auch so weit sie über die einzelne Wissenschaft hinausgehen – eine hohe Priorität. Die universitas litterarum gewinnt in diesem Zusammenhang eine neue Bedeutung. Dass eine Universität über die Expertise für eine solche Diskussion verfügt, ist ein hohes Gut. Für eine solche Diskussion ist nicht nur naturwissenschaftliche, sondern ebenso auch sozialwissenschaftliche  Kompetenz in einer Universität von Nöten. Der ethische Beitrag aus Theologie und Philosophie ist genauso erforderlich wie die Sachkunde der unmittelbar betroffenen Lebenswissenschaften.

So sehr ich also auf einer ersten Ebene die Verantwortung der jeweils von ethischen Fragen selbst betroffenen Wissenschaften unterstreiche, und so sehr ich auf einer zweiten Ebene die korporative Verantwortung der Universität wie anderer wissenschaftlicher Korporationen hervorhebe, so sehr ist schließlich zu bedenken, dass die Wissenschaft mit ihrer Verantwortung nicht allein bleiben kann.

Deshalb gibt es gute wissenschaftsimmanente Gründe dafür, einen allgemeinen gesellschaftlichen Diskurs über ethische Fragen zu bejahen und zu fördern. Ebenso wie die Enquete-Kommission  des Deutschen Bundestags hat sich auch der Nationale Ethikrat in den letzten Jahren zu einem der Instrumente entwickelt, die eine solche ethische Diskussion stellvertretend für die Gesellschaft im Ganzen führen. Deshalb begrüße ich die Absicht, den Nationalen Ethikrat als Deutschen Ethikrat auch in Zukunft weiterzuführen und ihm eine Basis zu geben, die den Diskussionen über seine Legitimation hoffentlich ein Ende macht. In vielen mit der Bundesrepublik Deutschland vergleichbaren Ländern gibt es solche Ethikräte; warum sollte es nicht auch in Deutschland auf Dauer so sein! Die Herausforderungen, vor denen wir stehen, sind wahrlich groß genug.

Die Diskussion über die Ethik in den Lebenswissenschaften hat nach meiner Überzeugung exemplarische Bedeutung für die Frage verantwortlicher Wissenschaft überhaupt. Denn es geht in den Lebenswissenschaften um hohe ethische Ziele, insbesondere um die Ziele des Heilens und Helfens. Und doch muss daran festgehalten werden, dass auch solche hohen Ziele nicht um jeden Preis verfolgt werden dürfen. Dass der Zweck die Mittel heilige, kann nie ein ethisch verantwortbarer Leitsatz sein, weder im persönlichen Leben noch in der Politik noch in der Wissenschaft. Unsere Gegenwart hält insofern besondere Proben für die Selbstbegrenzung als wissenschaftliche Tugend bereit.

Es gibt Beispiele dafür, dass dies – jedenfalls bisher noch – allseitig anerkannt wird. So besteht beispielsweise Einigkeit darüber, dass der Mangel an Spenderorganen für Organtransplantationen nicht durch jedes Mittel behoben werden darf. Ebenso leuchtet es unmittelbar ein, dass die – an sich sehr erwünschten – Spendernieren nicht durch die Tötung eines anderen Menschen beschafft werden dürfen. Auch das Mittel des Organhandels ist - nicht nur in Deutschland - bewusst, und zwar durch eine gesetzliche Regelung, ausgeschlossen worden. Denn ein solcher Organhandel trüge nicht nur die Verführung in sich, die Armut von Menschen auszunutzen, die aus Not einen Teil ihres Körpers verkaufen; ihm läge vielmehr ein Selbstmissverständnis des Menschen zu Grunde. Denn der Mensch hat nicht einen Körper, den er wie eine Ware behandeln könnte; sondern er ist sein Leib.

Klare Regelungen sind bei den Lebenswissenschaften auch deshalb vonnöten, weil das Leben des Menschen nicht zum Gegenstand des Experimentierens werden darf. Bevor das erste extrakorporal gezeugte Kind lebend zur Welt kam, hatten 283 erfolglose Versuche stattgefunden. Vergleichbar zahlreich waren die Experimente, die der Produktion des Klonschafs Dolly vorausgingen. Dem Klonen von Menschen muss man auch aus diesem Grund eine Absage erteilen. Vergleichbare Überlegungen gelten aber auch gegenüber der Vorstellung von genetischen Veränderungen des menschlichen Erbguts. Was wäre, wenn bei solchen Experimenten Ergebnisse zu Tage träten, die katastrophale Folgen für die Identität und Lebensfähigkeit des Menschen hätten? Der Gedanke, auf dem Weg zu einer vermeintlichen genetischen Optimierung des Menschen derartige Fehler zu machen, wäre unerträglich. Hier müssen also die Grenzen unbedingt eingehalten werden, die sich aus der Personalität des Menschen ergeben.

Solche Beispiele lassen sich leicht ergänzen – insbesondere im Blick auf die Auswirkungen wissenschaftlicher Innovationen auf die Umwelt. Diese Beispiele zeigen, dass die Selbstbegrenzung heute aufs Neue zu einem entscheidenden Bestimmungsmerkmal wissenschaftlicher Professionalität wird. Diese Selbstbegrenzung muss auf allen Ebenen gefördert, unterstützt und notfalls auch durchgesetzt werden: in den beteiligten Wissenschaften selbst, in den Universitäten und anderen wissenschaftlichen Korporationen, schließlich aber auch in der Gesellschaft und ihrer rechtlichen Ordnung. Auf allen drei Ebenen hat die Ethik der Forschung heute ihren legitimen und notwendigen Ort. Wer sich dieser Aufgabe stellt, macht seine wissenschaftlichen Gedanken nicht zu einer Beute des Augenblicks. Sondern er orientiert sich in seinem Handeln an der Verantwortung, der auch die Wissenschaft unterliegt – wie alles andere menschliche Handeln auch.

VII.

Am Schluss kehre ich zu den aktuellen Beispielen zurück, mit denen diese Überlegungen begonnen haben: der Forschung mit embryonalen Stammzellen, den ethischen Problemen am Lebensende und der grünen Gentechnologie.

Am Beispiel der Forschung mit embryonalen Stammzellen ist die Debatte über den Menschen als Person oder als Sache besonders leidenschaftlich geführt worden. Dabei können auch diejenigen, die – zumeist aus forschungsstrategischen Gründen – die Zulassung der Forschung mit embryonalen Stammzellen wünschen, sich, von wenigen Ausnahmen abgesehen, einer Einsicht gar nicht entziehen, die Jürgen Habermas auf die knappe Formel gebracht hat, dass diese Forschungspraxis  einen verdinglichenden Umgang mit vorpersonalem menschlichem Leben ... erfordert. Der deutsche Kompromiss zu diesem Thema will jeden Anreiz dazu vermieden wissen, dass Embryonen zu Forschungszwecken hergestellt werden. Auch die Neigung dazu, überzählige Embryonen entstehen zu lassen, die der Forschung dann zur Verfügung stehen, soll auf diese Weise unterbunden werden. Vielmehr bleibt es bei dem Grundsatz des deutschen Embryonenschutzgesetzes, dass menschliche Embryonen nur zum Zweck der menschlichen Reproduktion und zu keinem anderen Zweck hergestellt werden dürfen.

Das Bestreben, den Kompromiss von 2002 aufzuweichen, relativiert in meinen Augen zu Unrecht die ethischen Gründe für die Stichtagsregelung. So weit es begründete Zweifel an dem gewählten Datum gibt, dessentwegen keine Stammzelllinien von ausreichender Qualität zur Verfügung stehen, kann man im Geist des 2002 gefundenen Kompromisses allenfalls eine einmalige Verschiebung des Stichtags – und zwar erneut auf ein zurückliegendes Datum – in Betracht ziehen; diese Überlegung habe ich gegen das Votum der Deutschen Forschungsgemeinschaft in die öffentliche Diskussion eingebracht. Nach wie vor sollten wir es als eine Stärke und nicht als eine Schwäche ansehen, dass in Deutschland das Schwergewicht entsprechender Forschungen auf der Forschung mit adulten Stammzellen liegt.

Der Einsicht, dass im Zeitalter der Reproduktionsmedizin das entstehende menschliche Leben vom frühest möglichen Zeitpunkt an Schutz und Fürsorge verdient, würde durch ein solches Vorgehen weiterhin Rechnung getragen. Dieser frühest mögliche Zeitpunkt aber ist mit der Verbindung von männlichem und weiblichem Genom und nicht erst mit der Nidation gegeben. Mit dieser Verschmelzung beginnt ein Mensch zu werden. Wir sollten an der Einsicht festhalten, die auch vom Bundesverfassungsgericht übernommen wurde, dass der Mensch sich von diesem Zeitpunkt an als Mensch und nicht zum Menschen entwickelt. Von hier an haben wir es mit einem Angehörigen der Spezies Mensch zu tun; auch wenn wir einem werdenden Menschen auf dieser Stufe noch keine Personwürde zusprechen, so ist doch wegen seiner Teilhabe an der Gattungswürde ein verdinglichender Umgang mit dieser Stufe menschlichen Lebens nicht zu rechtfertigen.

Der Gesichtspunkt der Fürsorge für das Leben, der diese Überlegungen zum Anfang menschlichen Lebens bestimmt, ist auch im Blick auf das Ende des menschlichen Lebens zu berücksichtigen. Deshalb ist es entscheidend, für die schwerwiegenden Probleme, mit denen der Nationale Ethikrat sich in seiner gestern Stellungnahme zu diesen Fragen beschäftigt hat, Lösungen zu finden, die Selbstbestimmung und Fürsorge nicht gegeneinander ausspielen, sondern in der Balance halten. Dies aber müssen Lösungen sein, die den Wunsch eines Menschen, seinem Leben ein Ende zu machen, mit anderen Mitteln begegnen als mit der Beihilfe zum Suizid oder mit der Tötung auf Verlangen. Solche alternativen Möglichkeiten – zu denen Palliativmedizin und Hospizangebote ebenso gehören wie das Sterbenlassen – müssen verstärkt ins Bewusstsein gehoben, in die Ausbildung von Ärzten und Pflegekräften aufgenommen und im nötigen Umfang gefördert werden.

Fürsorge für das menschliche Leben ist freilich von den Vorstellungen einer eugenischen Optimierung des menschlichen Lebens sorgfältig zu unterscheiden. Diese Vorstellungen würden sich durchsetzen, wenn man sich zu einer Zulassung der Präimplantationsdiagnostik entschließen würde. Sie sind aber unterschwellig auch leitend, wenn ein behindertes Kind als Schaden bezeichnet wird. Häufig verbinden sich solche Vorstellungen mit einem Missverständnis des Menschen als eines Wesens, das sich als bloße Summe seiner Gene versteht und von anderen so verstanden werden muss.

Damit aber stellt sich die Frage, wie Menschen, die Produkte solcher Optimierungsanstrengungen sind, in Beziehungen eintreten sollen, deren Teilhaber sich wechselseitig als gleiche anerkennen können. In ihrer genetischen Verschiedenheit können Menschen sich nämlich nur als gleiche anerkennen, wenn sie sich wechselseitig eine Freiheit zuerkennen, die nicht durch ihre genetische Ausstattung determiniert ist. Die Anwendung solcher wissenschaftlicher Möglichkeiten auf den Menschen selbst wirft also die Frage danach auf, ob menschliche Beziehungen auch künftig als Verhältnisse wechselseitiger Anerkennung gedacht und gestaltet werden können. Nicht nur die geltende Ethik, sondern auch die geltende Rechtsordnung wäre von solchen Veränderungen betroffen. Sie würden die Würde des Menschen zur Disposition stellen.

Diese Überlegungen zeigen im Übrigen deutlich, warum genetische Veränderungen am Menschen und genetische Veränderungen an Pflanzen ethisch unterschiedlich zu betrachten sind. Es mag einen guten Sinn haben, von der Würde der Natur zu reden und damit die Schöpfungsdimension zur Sprache zu bringen, die nicht einer vollständigen Verzwecklichung geopfert werden darf. Aber von der Würde des Menschen bleibt diese Würde der Natur gleichwohl unterschieden. Die Frage nach der Nachhaltigkeit solcher Veränderungen, nach der Erhaltung der Artenvielfalt, nach der Voraussehbarkeit der ökologischen Folgen von gentechnischen Veränderungen der nichtmenschlichen Natur müssen dringlich gestellt werden. Unter diesen Gesichtspunkten ergeben sich Grenzen für solche Veränderungen, die eingehalten werden müssen. Aber es ergibt sich daraus nicht automatisch die ethische Folgerung, dass dem Vorhaben, Nutzpflanzen unter dem Gesichtspunkt ihrer Nützlichkeit weiterzuentwickeln, dann grundsätzlich widersprochen werden muss, wenn es nicht mit überlieferten Formen der Züchtung, sondern mit Mitteln der gentechnischen Veränderung verfolgt wird.

Lässt man diese Beispiele an sich vorbeiziehen, dann kann nicht davon die Rede sein, dass ethische Einwände zu einer inakzeptablen Einschränkung der Forschungsmöglichkeiten führen müssen. Denn es bleibt dabei, dass Forschung selbst – jedenfalls im Licht des christlichen Glaubens in seiner evangelischen Gestalt – selbst als hohes ethisches Gut, ja als Auftrag an den Menschen anzusehen ist. Aber es sollte auch nicht dahin kommen, dass Ethik nur benutzt wird, um dem, was man ohnehin tun will, eine zusätzliche Legitimität zu verleihen. Vielmehr sollte die Ehre von Wissenschaftlern nicht zuletzt darin liegen, dass sie die Wirklichkeit kritisch betrachten – ihr eigenes Tun eingeschlossen.